Kritik als identitäre Pose. Von der Studentenbewegung zu den Querdenkern?

Im bundesrepublikanischen Erinnerungskanon werden die Geschehnisse von 1968 meist mit der antiautoritären Studentenbewegung verbunden. Auch wenn heute eher die Vielfalt und Vielschichtigkeit der verschiedenen Entwicklungen betont wird, die sich zu den gesellschaftlichen Umbrüchen und Innovationen der 1960er Jahre bündelten, gehören die Bilder von hitzig diskutierenden Studierenden, von eskalierenden Demonstrationen und den nackten Hintern der Kommune 1 nach wie vor zu den ersten Assoziationen, die sich mit dem Label »Achtundsechzig« verbinden.

(Dieser Text ist im Novemberheft 2022, Merkur # 882, erschienen.)

Befreit man die intellektuellen Rebellinnen und Rebellen jedoch von den zahlreichen Erinnerungs- und Nostalgieschichten, die sich mit der Zeit über ihnen abgelegt haben – und damit auch von der Verantwortung des Narrativs, die Bundesrepublik im Alleingang aus der verstaubten Nachkriegszeit geführt und zu einem liberalen Staat gemacht zu haben –, verbirgt sich dahinter nicht zuletzt die Geschichte einer enormen, fast schon erschreckenden Radikalisierungsdynamik: Was als Forderung nach freier Rede und weniger autoritärer Lehre an den Ordinarienuniversitäten begann, steigerte sich über den Protest gegen Notstandsgesetzgebung und Vietnamkrieg innerhalb weniger Jahre zu einer – wenigstens rhetorisch – unversöhnlichen Ablehnung der gesamten bundesdeutschen Politik und Gesellschaft.

»Es ist aber so, daß man schuldig wird, wenn man nicht haßt. Da wir alles, ausnahmslos alles ablehnen müssen, was der kapitalismus hervorgebracht hat, da es buchstäblich kein auto, keine apfelsine, kein riesenkaufhaus gibt, an dem nicht das blut totgeschlagener seelen klebte, müssen wir uns ständig wehren«, notierte der Schriftsteller Peter Schneider, der an der Freien Universität in West-Berlin an der vorderen Front der antiautoritären Bewegung stand, 1968 in sein Tagebuch. [1. Peter Schneider, Rebellion und Wahn. Mein ’68. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2008.] Eine »linguistische Machtergreifung« diagnostizierte Schneider bei einer späteren Relektüre seiner Notizen seinem jüngeren Ich, dessen Selbstgewissheit und rapide Wandlung vom schüchternen Gymnasiasten zum überzeugten Unterstützer des Guerillakriegs (und ebenso seine spätere Reintegration in die bürgerliche Gesellschaft der Bundesrepublik) keineswegs einzigartig war: Bevor sich die Bewegung nach verhältnismäßig kurzer Zeit wieder verlief, gingen Zehntausende auf die Straße – und nicht wenige wähnten sich Ende der sechziger Jahre sogar kurz vor der Machtübernahme in der Bundesrepublik.

In Rückblicken und Erinnerungen wird diese Radikalität meist entweder in Form einer nostalgischen Irritation thematisiert oder, etwa von konservativer Seite, als Beleg für verborgene totalitäre Tendenzen der Achtundsechziger angeführt. [1. Etwa in Götz Alys Buch, in dem die antiautoritäre Bewegung mit den Nationalsozialisten verglichen wird. Vgl. Götz Aly, Unser Kampf. 1968 – ein irritierter Blick zurück. Frankfurt: Fischer 2008.] Viel aufschlussreicher, als diese auffällige Entwicklung zu skandalisieren oder zu verharmlosen, ist es jedoch, nach den Entstehungsbedingungen dieses revolutionären Rauschs zu fragen, der für kurze Zeit noch die pragmatischsten Studienstiftungsstipendiaten befiel. Gängige Erklärungen für die Radikalisierung politischer Bewegungen gehen für die Studentenbewegung nämlich fehl – weder handelte es sich bei den Antiautoritären um benachteiligte oder unzufriedene Individuen noch kann man bei ihrer Radikalisierung von einem zweckrationalen Handeln ausgehen, und es fehlte ihnen auch nicht der Zugang zu politischen Entscheidungsprozessen, [1. Viel ausführlicher dazu Martin Wilk, Fragile kollektive Identitäten. Wie sich soziale Bewegungen radikalisieren. Bielefeld: transcript 2020.] ganz im Gegenteil: Dialogangebote, Aufforderungen zur politischen Mitwirkung und runde Tische jeglicher Art wurden mehrmals brüsk abgewiesen.

Die rasche Radikalisierung der Studentenbewegung lässt sich also nur schwer mit Blick auf ihre soziale Zusammensetzung oder ideologische Verbohrtheit erklären. Vielmehr, so meine These, war ihr Hang zum Immer-grundsätzlicher-Werden in einer bestimmten Form der politischen Kritik angelegt, die sich zu Beginn der Bewegung herausgebildet hatte und die viel mit dem Gefühl der politischen Orientierungslosigkeit zu tun hatte, das zu Beginn der sechziger Jahre in großen Teilen der intellektuellen Linken vorherrschte. Der enttäuschte Blick auf die autoritäre Sowjetunion und die DDR einerseits und auf die sich an die kapitalistische Demokratie anpassende Sozialdemokratie andererseits ließ einen Ausbruch aus dem bestehenden System überhaupt nicht mehr möglich erscheinen: Die linke Bewegung sei macht- und visionslos und habe sich in ihrer traditionellen Form oft genug als systemstützend erwiesen; die Arbeiter seien, durch Konsumzwang und subtile Propaganda manipuliert, vollends in die politische Apathie versunken, und selbst die Lebensbereiche, in denen eine Ahnung von Fortschritt und Freiheit zu spüren gewesen war – Jugendkultur, Kunst, Literatur –, seien schon längst der Marktlogik unterworfen, so die resignierte Feststellung. Die vage Ahnung einer grundsätzlichen, nicht auf das Politische beschränkten Rebellion gegen die bestehende Gesellschaft lag, noch nicht als solche formuliert, gerade unter jungen Leuten in der Luft.

Zwar hatten die jungen Linken von Adorno, dem intellektuellen Star ihrer Zeit, natürlich gelernt, wie schnell die Vernunft in Ressentiment, die Aufklärung in Mythos umschlagen konnte. Viele von ihnen folgten ihm in der Ansicht, dass im theoretischen Arbeiten, in der genauen Analyse der Situation, die einzige Möglichkeit für linke Intellektuelle bestünde, überhaupt etwas Sinnvolles zu tun. Anderen hingegen erschien gerade dieser Rückzug in den akademischen Elfenbeinturm als die finale Kapitulation – denn die Totalität des verhassten Systems bedeute, dass es sich auch jeden Versuch des widerständigen Denkens sofort einverleiben könne: »Noch die tiefstschürfende Gesellschaftsanalyse taugt nur dazu, auf der Frankfurter Buchmesse […] Regale zu füllen«, [1. N.A., Repressive Aktion. In: Unverbindliche Richtlinien, Nr. 2, 1963.] giftete die »Subversive Aktion«, ein Vorläufer der antiautoritären Bewegung, gegen die Beschränkung auf das Nur-Denken – stattdessen nahmen sich die jungen Linken vor, Theorie zu erarbeiten, die konkrete Ansatzpunkte zur politischen Praxis sichtbar machen sollte.

Eine solche Kritik der reinen Kritik bedeutete nun jedoch den ersten Schritt auf eine schiefe Ebene. Denn die Ahnung, dass jede Form von Kritik am und Protest gegen das System den schleichenden Mechanismen der Vereinnahmung durch dieses System ausgesetzt sei, bedeutete in der Praxis, dass die selbsternannten Revolutionäre eine Art strukturellen Verdacht gegen zu große ideologische Sicherheit bei sich selbst pflegen mussten. Wenn kein kritischer Standpunkt vor der Inkorporierung in das System sicher war, galt es, den Kräften der Vereinnahmung immer einen Schritt voraus zu sein – was bedeutete, permanent geistig auf der Hut, immer in Bewegung sein zu müssen: Die studentische Opposition brauche eine »Guerillamentalität«, so die antiautoritären Vordenker Rudi Dutschke und Hans-Jürgen Krahl 1967 in einer Rede, »sollen nicht Integration und Zynismus die nächste Station sein«. [1. Hans-Jürgen Krahl /Rudi Dutschke, Organisationsreferat. In: Hans-Jürgen Krahl, Vom Ende der abstrakten Arbeit. Hrsg. v. Walter Neumann. Frankfurt: Materialis 1984.]

Die sich sprunghaft radikalisierende Entwicklung der antiautoritären Bewegung von etwa 1963 bis 1968 kann somit als eine von einem prinzipiellen Misstrauen gegen die eigene revolutionäre Integrität vorangetriebene Flucht nach vorne gelesen werden. Auch bei einem intensiven Studium der Quellen der Studentenbewegung ist es nämlich kaum möglich, einen inhaltlichen Kern oder immer wiederkehrende Motive herauszuarbeiten; die einzige Konstante der Bewegung schien vielmehr in diesem permanenten Wandel und einer daraus folgenden Semantik der »Bewegung« zu liegen, eine Rhetorik des »nächsten Schritts«, der immer wieder auch gegangen werden musste – einer bald eher transzendent erscheinenden »Revolution« entgegen, bei der niemand so genau sagen konnte, woraus diese denn konkret bestehen sollte. In rascher Abfolge wechselten sich immer neue Demonstrationsanlässe, Protestformen, Begriffe, Theorien und Zwischenziele ab, die einem steten Eskalationszwang folgten. Innerhalb weniger Jahre wurden aus der schüchternen Forderung nach freier Rede an den Universitäten der Vorwurf der ideologiegetriebenen Wissenschaft, aus der Forderung nach Frieden in Vietnam die Solidarisierung mit dem Vietcong, aus Adorno-Lesekreisen gestählte Straßenkampfgruppen und aus Steinen Molotow-Cocktails.

Nochmals: Man würde zu kurz greifen, schriebe man den Grund dieser Entwicklung besonderem Fanatismus oder irgendwelchen radikalen Charakterzügen der Beteiligten oder auch ihrer Ideen zu. Zwar wirkten die von den Medien aufgeheizte Atmosphäre, die Suggestion einer internationalen Jugendrevolte, das Gefühl von Freundschaft und Kameradschaft in kleinen Gruppen und die planlosen Reaktionen der bundesdeutschen Politik und Polizei sicherlich verstärkend, aber im Kern war die Radikalisierung vieler Antiautoritärer eben schlicht in den Zugzwängen eines Denkens angelegt, das im Stehenbleiben, Nachdenken und der Kompromisssuche den Kern der Korrumpierung identifizierte: Solange nicht das – wie auch immer definierte – revolutionäre Endziel erreicht war, müsse jeder Appell an die Konsolidierung des bisher Erreichten dieses Erreichte wieder verloren geben, weil jede Form der Etablierung, jede Verstetigung der Bewegung (etwa in Organisationsstrukturen) in einem Apparat enden würde, der die kleinbürgerlichen Machtstrukturen nur reproduziert. Konsequent zu Ende gedacht, stellte dieses Argument jeden Appell an Überlegung oder Mäßigung unter den Verdacht des Defätismus, der Manipulation oder des Verrats. Dass dies zu einer Überbietungslogik führte, ist evident. Die grundsätzlichere Kritik, die extremere Aktion hatte von vornherein mehr Glaubwürdigkeit als das vorsichtige Abwägen mehrerer Faktoren.

Die prinzipielle Haltlosigkeit der antiautoritären Kritik – Haltlosigkeit im Sinne des Fehlens eines inhaltlichen Fixpunkts – und die zunehmende Abschottung von der Umwelt führten jedoch nicht nur zu einer inhaltlichen Radikalisierung, sondern tendenziell auch zu einem Verständnis von Politik, das sich stark mit dem Selbstverständnis der eigenen Person verwob: Wo geglückte Kompromisse mit der politischen Umwelt als Gefährdung der eigenen Radikalität gesehen werden konnten, bemaß sich der Erfolg von Aktionen, Demonstrationen und Diskussionen nicht mehr unbedingt an ihrer Wirkung auf möglichst viele Außenstehende, sondern am Verfestigen der fundamentaloppositionellen Haltung bei den schon Überzeugten. Auseinandersetzungen mit der Polizei etwa sollten auch dazu dienen, die »autoritäre Struktur des bürgerlichen Charakters in uns tendenziell zu zerstören [und] Momente der Ich-Stärke, der Überzeugung zu schaffen«, [1. Zit. n. Michael Th. Greven, Systemopposition. Kontingenz, Ideologie und Utopie im politischen Denken der 1960er Jahre. Opladen: Barbara Budrich 2011.] so Rudi Dutschke. Als eigentliche Grundlage radikaler Opposition wurden damit die eigene widerständige Existenz und Identität verstanden – und diese mussten damit immer wieder durch immer extremere oppositionelle Akte bestätigt werden.

Diese nach vorne treibende Unwucht verlieh der antiautoritären Bewegung, vor allem in ihrer Hochphase nach der Erschießung Benno Ohnesorgs am 2. Juni 1967, ihren exzessiven, rauschhaften Charakter – der auf Dauer nicht durchzuhalten war. Nach dem Attentat auf die Führungsfigur Rudi Dutschke im April 1968 zerfiel die Bewegung in zahlreiche, sich teilweise befehdende Fraktionen. Während der Großteil der ehedem Antiautoritären sich in der Sozialdemokratie, im alternativen Milieu oder sonstigen linken Kleingruppen wiederfand, verrannten sich nicht wenige Protagonisten der ehemaligen Bewegung in die unübersichtliche Landschaft autoritärer Kleinparteien, die sich im Lauf der siebziger Jahre über unterschiedliche Stalin-Interpretationen bekriegten. [1. Ausführlicher dazu Benedikt Sepp, Das Prinzip Bewegung. Theorie, Praxis und Radikalisierung in der West-Berliner Linken (1961–1972). Göttingen: Wallstein 2023 (i. E.).]

An dieser Geschichte einer kurzen, aber heftigen Radikalisierung ist also besonders interessant, dass sie eben nicht in klassische Erklärungsmuster passt, nach denen etwa Erfahrungen des Ausgestoßenseins, Repression durch staatliche Akteure oder ähnliche Faktoren förderlich für Radikalisierungsprozesse sind. Vielmehr war die Radikalisierung in der Angst angelegt, der eigene Protest könne vom System quasi aufgesogen werden – eine Angst, die eine Hermeneutik des Verdachts gegen sich selbst nach sich zog. Die Antiautoritären wurden durch diese Angst in die Notwendigkeit einer permanenten Kritik und damit in ein Selbstverständnis als permanente Kritikerinnen und Kritiker gezwungen, das, um Armin Nassehis und Diedrich Diederichsens Begriff aufzugreifen, bald zu einer allgemein verständlichen Pose der Kritik gerann. [1. Zur »Pose« als »nicht diskursive Form der Bedeutung, die sich zeigen, sich ereignen muss«, als ein Erbe von Achtundsechzig, vgl. Armin Nassehi, Gab es 1968? Eine Spurensuche. Hamburg: Kursbuch Edition 2018.]

Sicher: Man sollte die Nachhaltigkeit dieser Entwicklung nicht überbewerten; die meisten Antiautoritären fanden sich nach dem Rausch der Rebellion schnell auf verantwortungsvollen Positionen in der bundesdeutschen Gesellschaft wieder. Aber was doch für lange Zeit nachwirken sollte, waren eben die Pose der Grundsatzkritik und die allgemein lesbare Selbstbeschreibung von Individuen als kritischer Geist, der sich nicht von der Oberfläche des Systems hinters Licht führen lässt.

Es ist das Verständnis dieser Pose, das erhellend für das Verständnis der Gegenwart ist – denn eine solche Interpretation der Entwicklung der antiautoritären Studentenbewegung lässt sich nahezu als Blaupause für gegenwärtige Protestbewegungen und rebellische Szenen lesen, bei denen sich an konkreten Anlässen eine Art von grundsätzlicher Ablehnung des Bestehenden zu manifestieren scheint. Die deutsche »Querdenken«-Bewegung ist ein gutes Beispiel dafür. Seit 2020 zog die Kritik an den staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie eine kleine, aber lautstarke Minderheit auf Demonstrationen und Kundgebungen. Was als gemäßigter und äußerst heterogener Protest gegen Maskenpflicht und Schulschließungen begann, wuchs sich schnell zu einer grundsätzlichen Kritik an Wissenschaft und Politik aus, mit deren Trägern ein Dialog kaum mehr möglich schien.

Auch wenn die Bewegung vor allem zu ihrem Beginn von einer Vielstimmigkeit an Themen und Standpunkten charakterisiert war, kristallisierte sich als markantestes Merkmal ein ausgesprochenes Misstrauen gegen die wissenschaftliche Begründung der politischen Maßnahmen heraus: Angezweifelt wurde die Gefährlichkeit der Krankheit, die Wirksamkeit der Impfstoffe bis hin zur Existenz des Virus an sich. Protestiert wurde also nicht so sehr gegen das Diktat der Faktenlage, also gegen die politischen Schlussfolgerungen aus den wissenschaftlichen Erkenntnissen, [1. Vgl. den luziden Essay von Alexander Bogner, Die Epistemisierung des Politischen. Wie die Macht des Wissens die Demokratie gefährdet. Stuttgart: Reclam 2021.] sondern eher gegen die Faktenlage an sich. Das ungeheure Selbstbewusstsein der Demonstrierenden, den wissenschaftlichen Diskurs umfassend verstehen und kritisieren zu können, war dabei bemerkenswert: In Gesprächen mit »Querdenkern« herrschten kaum Zweifel daran, wissenschaftliche Erkenntnisse mit Mitteln des eigenen Verstands als Herrschaftsideologie durchschauen oder mit Bleistift und Taschenrechner nachweisen zu können, dass das Robert Koch-Institut oder Christian Drosten sich schlicht verrechnet hätten. [1. Zu diesen Gesprächen vgl. ausführlich Johannes Pantenburg /Benedikt Sepp, Wissen, hausgemacht. Selbstverständnis, Expertisen und Hausverstand der ›Querdenker‹. In: Leviathan. Sonderband Umstrittene Expertise (Nr. 37, 2021); Johannes Pantenburg /Sven Reichardt /Benedikt Sepp, Corona-Proteste und das (Gegen-)Wissen sozialer Bewegungen. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, Nr. 71/3-4, 2021; dies., Wissensparallelwelten der »Querdenker«. In: Sven Reichardt (Hrsg.), Die Misstrauensgemeinschaft der »Querdenker«. Die Corona-Proteste aus kultur- und sozialwissenschaftlicher Perspektive. Frankfurt: Campus 2021. – Alle Zitate sind diesen Publikationen entnommen.]

»Ich […] habe mich breit gefächert informiert, bin auch permanent auf der Website vom RKI gewesen und habe dann auch mal die Zahlen Revue passieren lassen, ob das alles überhaupt sein kann. Wenn ich dann die Zahlen sehe, mit denen ich innerhalb der Medien, ich sag mal öffentlichen Medien, konfrontiert werde und [die in] den freien Medien, und dann meine Meinung darüber gebildet habe, dann … ich muss ja nicht mal studiert haben, um die einfachsten Zahlen rauszubekommen. Das war so der ›Aha-Effekt‹«, so ein Handwerker im Ruhestand auf einer »Querdenker«-Demonstration in Konstanz Ende 2020.

Diese selbstermächtigende Kritik an der angeblich fehlenden Grundlage für die »Panikmache« durch Medien und Politik ging dabei fast immer Hand in Hand mit einer Selbststilisierung zum kritischen Querkopf, zum unabhängigen Geist, erfüllt von der Gewissheit, dem blinden Gehorsam des gesellschaftlichen »Mainstreams« überlegen zu sein. Ein Unternehmer Mitte fünfzig beschrieb sein Selbstverständnis und seinen daraus zwingend folgenden Weg in den Widerstand so: »Ich bin ein sehr informierter Mann […], weil ich mich immer erst informieren will, bevor ich irgendwas mache […] Ich habe das in mir drin, jeder Mensch hat eine Aufgabe und [ich] denk mal, dass es mir in die Wiege gelegt wurde und dass ich jetzt endlich mal aktiv werden sollte, weil ich letztendlich immer meine Meinung gesagt habe und fast immer allein gesessen bin.«

Auch in den Interviews, die ein Team der Universität Basel um den Soziologen Oliver Nachtwey auf derselben Demonstration führte, wird diese Kopplung von Kritik und Selbstbeschreibung sehr deutlich. Nachtwey und sein Team schreiben in ihrem Resümee: »Die Kritik zielt weniger auf konkrete Maßnahmen, sondern auf die Tatsache, dass Kritik nicht möglich sei. Demgegenüber wird hervorgehoben, dass alle Meinungen möglich sein sollten und auch das Recht haben, angehört zu werden […] Kritik bekommt dadurch einen ethischen Eigenwert, sie wird sich selbst zum Hauptzweck, Dissens wird als solcher honoriert. Wichtig ist nicht, wogegen man konkret ist, sondern dass man dagegen ist.« [1. Oliver Nachtwey /Nadine Frei /Robert Schäfer, Politische Soziologie der Corona-Proteste. Working Paper, Universität Basel 2020 (edoc.unibas.ch/80835/).]

Die zunächst erstaunliche Tatsache, dass nicht wenige der an den Demonstrationen Teilnehmenden obskuren YouTube-Autoritäten und zusammengegoogelten Statistiken mehr vertrauen als der akademischen Wissenschaft, ist auch für Nachtwey in diesem Selbstverständnis als kritische Geister begründet: »Die Glaubwürdigkeit dieser Quellen beruht […] vor allem darauf, dass es sich eben um kritische Stimmen handelt. Die Glaubwürdigkeit der Kritik ist also eigentlich eine Glaubwürdigkeit durch Kritik.«

Wenn Kritik, wie Nachtwey formuliert, einen »ethischen Eigenwert« bekommt, ist die Selbstwahrnehmung und -stilisierung als kritischer Geist damit von den Inhalten dieser Kritik fast entkoppelt; die kritische Haltung wird zur – allgemein lesbaren und verständlichen – kritischen Pose, die kaum einer Begründung und Legitimation mehr bedarf, was auch erklärt, warum als »kritisch« identifizierten Positionen umgekehrt oft keinerlei kritische Haltung entgegengebracht wird.

Und wenn sich die Pose der Kritik solchermaßen von ihren Inhalten entkoppelt, kennt sie auch keine inhärenten inhaltlichen Grenzen, keine Stopp-Regeln der Kritik mehr: Sich positiv auf eine Wahrheit festzulegen bedeutet somit fast zwingend, der großen Verschwörung auf den Leim zu gehen – was eine Radikalisierung fast unausweichlich macht. Ein Protest, der sich aus einer als Selbstbeschreibung fungierenden Pose der Kritik speist, muss schon aus Selbsterhaltungsgründen fast unausweichlich immer grundsätzlicher werden. Die »Querdenker« sind dafür das beste Beispiel: Wer zunächst noch davon ausging, dass Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sich schlicht verrechnet hätten, galt schon bald als naiv und musste sich über deren Korruption aufklären lassen; wer zunächst an die Unfähigkeit der Politik glaubte, wollte bald erkannt haben, dass in Wahrheit eine Clique von Verschwörerinnen und Verschwörern gezielt die Fäden ziehe. Konsequenterweise setzt damit auch die Aufhebung der Corona-Maßnahmen der Kritik keine Grenzen: Wer im Frühling 2022 immer noch von einer großangelegten Verschwörung der Herrschenden ausging, hatte wenig Probleme, allein aus einer sich als kritisch gegenüber dem Mainstream verstehenden Position heraus den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine zu verteidigen. [1. Elisabeth Kagermeier, Warum Querdenker nun prorussische Propaganda verbreiten. In: BR24 vom 25. März 2022 (www.br.de/nachrichten/deutschland-welt/warum-viele-querdenker-nun-prorussische-propaganda-verbreiten,T10vAvf).]

Viele Beobachterinnen und Beobachter aus Medien, Wissenschaft und Politik zeigten sich angesichts dieser lautstarken und sich schnell radikalisierenden Gruppe völlig ratlos; kein noch so gut gemachter Faktencheck, kein Erklärungsangebot schienen gegen eine Form von Wissenschaftsleugnung und Politikfeindlichkeit zu helfen, die im Vokabular der staatsbürgerlichen Verantwortung liberale Bürgerrechte zu verteidigen glaubte. Die hier entwickelte Perspektive auf die antiautoritäre Studentenbewegung hilft hingegen, das Phänomen einzuordnen – ohne jedoch direkte Traditionslinien zu den »Querdenkern« zu ziehen. Denn auch wenn etwa die damalige Medienkritik gelegentlich fast unheimliche Anklänge an den Jargon heutiger Verschwörungstheorien aufweist – so kritisierte Dutschke in einem Fernsehinterview etwa die »systematische Hintanhaltung der Informationen und […] nicht vorhandene Strukturierung von Informationen« durch die Medien –, [1. Rudi Dutschke, Zu Protokoll. Fernsehinterview von Günter Gaus. Voltaire Flugschrift 17. Frankfurt: Edition Voltaire 1968.] stellen die »Querdenker« sicher keine direkten geistigen Nachkommen der rebellischen Studierenden dar.

Aber, so meine These: Die »Querdenker« knüpfen tatsächlich an ein ambivalentes Erbe von Achtundsechzig an, nämlich das der Romantisierung des Selbstdenkens und Kritisierens, das heute, etwas paradox, zum Selbstverständnis der liberalen Demokratie gehört. Seit den Modernisierungsprozessen der 1960er Jahre, die die Begründungsbedürftigkeit und Anzweifelbarkeit von und die Möglichkeit zur Kritik an öffentlicher Kommunikation (etwa der Politik) zur gesellschaftlichen Grunderfahrung machten, [1. Hierzu etwa Julian Müller /Gina Atzeni, 1968 und die Protestantisierung gesellschaftlicher Praxis. In: Johannes Greifenstein (Hrsg.), Praxisrelevanz und Theoriefähigkeit. Transformationen der Praktischen Theologie um 1968. Tübingen: Mohr Siebeck 2018.] ist der unbequeme, meist männliche Kritiker, der sich von der Obrigkeit nicht den Mund verbieten lässt, zur allgegenwärtigen, fast universal verständlichen und – noch – meist als »links« gelesenen Sozialfigur avanciert. Dass man sich auch auf die grundlegendste Wahrheit erst in einem mehr oder weniger demokratischen Prozess einigen muss, dass Sachverhalte aus unterschiedlichen Perspektiven unterschiedlich aussehen, dass verborgene Interessen hinter vorgeblich neutralen Argumenten stecken können – all dies ist in der postmodernen Gesellschaft selbstverständlich und führt dazu, dass heute jedes Kind lernt, dass Autoritäten nicht einfach zu akzeptieren, abweichende Standpunkte zu berücksichtigen, neue Denkansätze erstrebenswert und Meinungen nicht ungeprüft zu übernehmen sind.

Es ist natürlich ein Treppenwitz der Geschichte, dass die Stilisierung des Selbstdenkens, das Bewusstsein, gegen den Strom zu schwimmen, zumindest in bestimmten Milieus längst zu dem Mainstream gehören, den man zu kritisieren vorgibt: Noch in den wüstesten Talkshows wird das Recht auf die »eigene Meinung« gegen die Zumutung faktenförmigen Wissens verteidigt, noch der piefigste Facebook-User präsentiert sich in den sozialen Medien als eigenständiger Denker und kritischer Beobachter der Zeitläufte; ein positives Selbstverständnis als passiver Nachrichtenkonsument erscheint heute, wo man es findet, vermutlich bestenfalls anachronistisch.

Daher tun die »Querdenker« trotz allen Spotts, der streckenweise in Gesellschaft und Medien über sie ausgeschüttet wurde, im Grunde genau das, was gemeinhin als erstrebenswert gilt: Sie suchen eigenständig nach Quellen für Behauptungen, sie wägen verschiedene Meinungen ab, sie versuchen, sich ein eigenes Bild zu machen – was vermutlich auch der Grund dafür ist, dass sich viele von ihnen trotz der Vereinnahmungsversuche durch Rechtsextreme nach wie vor als »links« wahrnehmen.

Was die »Querdenker« so schnell radikalisiert hat, ist also nicht ihre kritische Grundhaltung an sich, sondern die Verknüpfung dieser Grundhaltung mit einem Selbstverständnis als Dissidenten, das ihrer Kritik keine Stopp-Regel einbaut, nach dem Motto: Weil ich ein eigenständiger Denker bin, der sich nicht unterkriegen lässt, bin ich dem System schon auf den Leim gegangen, wenn ich keinen Ansatzpunkt für Kritik sehe. Wenn Kritik und »Selbstdenken« solcherart zur persönlichen Identität, zu einer identitätsstiftenden Pose werden, kann diese Kritik keine inhärente Mäßigung oder Korrektive mehr kennen; sie koppelt sich von der Möglichkeit des Dialogs und Kompromisses ab und muss sich fast zwangsläufig radikalisieren – ein Mechanismus, wie man ihn auch in der Studentenbewegung beobachten konnte.

Grundsatzkritik schlägt somit an dem Punkt in Verschwörungstheorie um, an dem die Haltung des kritischen Kritikers zur selbsterhaltenden Identität wird. Aber die »Querdenker« weisen uns darauf hin, dass diese Grenze zwischen einem wachen politischen Bewusstsein und der Pose der letztlich destruktiven Grundsatzkritik selten so eindeutig ist, wie man sie gerne hätte. Sie sind damit ein gutes Beispiel für die unabsichtlichen Folgen der allgegenwärtigen Debattierbarkeit von Politik und Vorläufigkeit von Wissen, die seit den 1960er Jahren zum Selbstverständnis der liberalen Demokratie gehört..