Rasender Stillstand. Flucht aus Shenzhen

Es war in der letzten Märzwoche – noch vor dem Beginn der Taifun-Saison –, als ein Wolkenbruch meine kleine Familie und mich völlig durchnässte, die Schirme halfen da nichts. Wir versuchten gar nicht erst, dem Regen zu entfliehen, es ging uns um eine viel wichtigere Flucht. Wir hatten alles für unseren transeurasischen Flug nach Deutschland gepackt. Ein befristeter Forschungsaufenthalt in Essen hatte das möglich gemacht, und so planten wir den Aufbruch von unserer Wohnung auf dem Universitäts-Campus von Shenzhen, einer Megalopolis an der Grenze zu Hongkong, das Zentrum des chinesischen Technologiesektors, vor allem der Elektronikindustrien, aber auch einer der größten Häfen der Welt. Fast sechs Jahre lang war die Stadt unsere Heimat gewesen. [1. Vgl. Gregory Jones-Katz, Schwindel der Gegenwart. Leben in Shenzhen. In: Merkur, Nr. 869, Oktober 2021.]

(Dieser Text ist im Oktoberheft 2022, Merkur # 881, erschienen.)

Auf der anderen Seite des Haupttors des Campus und jenseits mehrerer Reihen hastig errichteter Zäune, die uns während des Lockdowns von jenen getrennt hatten, die sich wieder in die immense Maschine namens Shenzhen stürzen durften, wartete unser Didi (das chinesische Uber) auf uns. Sein Fahrer lehnte am Auto, entspannt, und rauchte eine Zigarette unter seinem Schirm. Auf der Straße, auf die das Haupttor hinausgeht, fuhren Pkws und Lkws flott dahin. Wir jedoch wurden am Tor gestoppt, von einem der Sicherheitsposten, wie sie im zeitgenössischen China allgegenwärtig sind, Teil eines Systems privater Sicherheitskräfte, die in der Regel der staatlichen Polizei angegliedert sind. Er weigerte sich, uns passieren zu lassen. Dabei hatten wir, wie mein Sohn auf Mandarin auch flehentlich insistierte, eine Ausreiseerlaubnis der lokalen Behörden erhalten (weniger als 48 Stunden vor unserem Abflug, knapp genug); die formale Genehmigung jedoch war an die zuständigen Sicherheitskräfte durch eine offenbar verlorengegangene Textnachricht weitergeleitet worden. Unsere Stimmung kippte abrupt, mein Blutdruck stieg. Zu diesem Zeitpunkt – und nicht nur zu diesem – schien alles unvorhersehbar, undurchsichtig, unpersönlich. Statt des erhofften Exodus ein weiter Aufenthalt in einer Art Limbo.

Natürlich waren wir nicht buchstäblich in der Hölle gelandet. Aber eine Form der Ursünde belastete uns sehr wohl: Wir waren Ausländer und, schlimmer noch, mit einer Universität affiliiert. Ausländer und höhere Bildungseinrichtungen waren zu Verdächtigen geworden, wurden zu Verursachern oder potentiellen Überträgern »importierter« Corona-Fälle erklärt. Dass im ganzen Land die neuen Virus-Varianten auftauchten, ohne dass überhaupt Ausländer in der Nähe gewesen wären, verhinderte weder das zunehmende ausländerfeindliche Ressentiment noch minderte es den wachsenden Druck, den die chinesische »Zero-Covid«-Politik auf uns alle ausübte. Nach zwei Jahren drakonischer Einschränkungen, darunter die Verhängung von wochenlanger Quarantäne für Infizierte, die Einstellung des Flugverkehrs aus und nach China, die Einführung neuer QR-Codes, die den Zugang zum öffentlichen Raum je nach Corona-Risikostatus regulierten, wurde der Zugriff des Überwachungsstaatskapitalismus nur immer rigider.

Auch Shenzhen hatte seine Vorbeugungs- und Kontrollmaßnahmen immer weiter verschärft. Im März kam unsere Megacity schließlich völlig zum Stillstand. Nicht systemrelevante Arbeiter mussten in ihren Wohnungen bleiben, alle Bürgerinnen und Bürger wurden teils täglichen PCR-Tests unterzogen, der öffentliche Nahverkehr wurde eingestellt, Flüge wurden gestrichen und Lkw-Fahrer, die aus Hongkong kamen, wo die Inzidenzen sehr hoch lagen, strengen Screenings unterzogen. Gerüchte zirkulierten im Netz und auch offline – Desinformation kennt so wenig wie das Virus nationale Grenzen: Kranke Bürger aus Hongkong, die den fortlaufenden Infektionswellen und der harschen Covid-Strategie in der Stadt zu entkommen versuchten, sprängen, so hieß es, in den Fluss Sham Chun, um Richtung »Freiheit«, nämlich nach Shenzhen, zu schwimmen. Das war eine Pervertierung der wahren Geschichte von den »Freiheitsschwimmern« aus der Mitte des 20. Jahrhunderts, die zu Hunderttausenden aus Festland-China flohen und bei dem Versuch, die britische Kronkolonie zu erreichen, ihr Leben riskierten. Unser Campus-Purgatorium Ende März fühlte sich wie unser eigener kleiner Hades an, in welche Richtung wir über den Styx schwammen, war allerdings eine Frage der Perspektive.

Einige Wochen vor unserem für Ende März geplanten Flug nach Frankfurt hatten die Autoritäten in Shenzhen für die Mehrzahl der Stadtbezirke viele ihrer Abschreckungs- und Kontrollmaßnahmen aufgehoben. Die Universität allerdings blieb frustrierenderweise im Lockdown. Viele unserer Studierenden, die den Campus nicht einmal während des am 1. Februar beginnenden Neujahrsfests verlassen hatten, aus Angst, nicht zurückkehren zu können, waren wie wir auf dem Campus eingesperrt. Einen Grund dafür erfuhren wir nicht, abgesehen vom üblichen »Es gilt, die Epidemie-Prävention und -Kontrolle zu stärken«. Vielleicht war den Stadtoberen angesichts des Ausbruchs in Shanghai, der mit seinen Massentests und strikten Lockdowns rasch eskaliert war und das Handelszentrum des Landes gelähmt hatte, der Schreck in die Glieder gefahren. Ein weitverbreitetes Gerücht, dem viele von uns glaubten, behauptete, die Oberen in Shenzhen und der Provinz Guangdong setzten ihrer Zukunft zuliebe alles daran, Präsident Xi zu Gefallen zu sein, dessen »Wiederwahl« für einen historischen Zeitraum von fünf Jahren beim Nationalen Volkskongress im Oktober ansteht.

Was auch immer der Grund für den universitätsweiten Lockdown gewesen sein mag, und auch wenn das Leben in Shenzhen der exemplarische Fall für das Wachstum und das immer raschere Tempo des vom chinesischen Staat geförderten Kapitalismus ist – unser physischer und geistiger Zugang zur Welt hatte sich dramatisch verengt. Für die Mitarbeiter, die Studierenden, das Lehrpersonal und ihre Familien endeten die persönlichen und kollektiven Horizonte nun an den Toren des Campus, während unsere Zeithorizonte selten weiter als zwei Wochen in die Zukunft reichten. Niemand wusste, was weiter geschehen würde. Bis zum Tag, an dem ich dies schreibe, ist eine Genehmigung zum Verlassen der Universität weiterhin Pflicht (auch wenn ich höre, dass die Anweisung aufgrund der allseitigen Erschöpfung eher lax gehandhabt wird). Dabei hat es, soweit ich weiß, bislang keinen einzigen Corona-Fall auf dem Campus gegeben.

Nach einem halben Jahrzehnt hatte ich mich an das gewöhnt, was »Shenzhen-Tempo« (深圳速) genannt wird. Der Begriff war ursprünglich in den 1990er und 2000er Jahren geprägt worden, um die schockierende Geschwindigkeit zu beschreiben, mit der Gebäude und Infrastruktur in der Stadt hochgezogen wurden. Mit der nun vom Staat verordneten Zwangspause kam ich mental nur bedingt zurecht.

Dabei war die unmittelbare Bremswirkung auf den frenetischen Puls meines In-der-Welt-Seins zunächst gar nicht so heftig. Innerhalb des radikal begrenzten und verlangsamten Raums der Campus-Umgebung erlebte ich die Wochen vor unserer Abreise aus China vielmehr als noch weiter beschleunigt. Diese fieberhafte Pause, dieses Auseinanderdriften von Körper und Geist, die auf schnelle Reaktionen trainiert und jetzt zum Stillstand gezwungen waren, manifestierte sich auf paradoxe Weise und mit durchaus ironischen Mitteln. Sie bot aber auch eine Chance zur Neuorientierung, vielleicht zu einem Richtungswechsel und einem Verlassen des Limbo-Zustands.

Stillstand und Verstörung

Es fällt mir nicht leicht, die Irrungen und Wirrungen der Prüfungen und Probleme zu rekonstruieren, mit denen wir immobilisierten Emigranten in Shenzhen, aber auch in China im Ganzen, seit den frühen Tagen der Pandemie im Januar 2020 zu kämpfen hatten. Das liegt einerseits an den sich ständig und schnell verändernden Dimensionen der von unterschiedlichen Regierungsebenen verhängten Präventions- und Kontrollmaßnahmen. Wir sahen unsere schönsten Absichten und Pläne immerzu von gänzlich opaken – und darum komplett unvorhersagbaren – Entscheidungen von Verwaltung und Regierung durchkreuzt. Die Erwartung, alles werde sich demnächst normalisieren, ging wieder und wieder ins Leere – bis wir fast so weit waren, jede Hoffnung endgültig aufzugeben. Und als dann im Februar 2022 der Lockdown über den Universitätscampus verhängt wurde, öffnete sich vor uns ein Abgrund offener Fragen: Dürfen Partnerinnen und Partner den Campus verlassen, um ihrer Arbeit außerhalb nachzugehen? Würde für unsere Kinder wieder Präsenzunterricht möglich sein? Würden wir Post und Pakete bekommen (nicht zuletzt mit Lebensmitteln), und wenn ja: wann und wo? Wir wussten, dass in Wuhan und anderen Städten Arbeiter in Schutzanzügen Wolken von Desinfektionsmitteln auf Straßen und Bänken und auf Hausfassaden versprühten – würden sie demnächst auch bei uns unterwegs sein? Sollte es einen Corona-Fall geben, würden dann ganze Wohngebäude in den Lockdown gezwungen? Wie lange wäre dann die Dauer der Quarantäne? Würde man uns von unseren Kindern trennen? Auf viele dieser Fragen – und viele, viele weitere – bekamen wir von offizieller Seite nie eine klare Antwort. Oft wiederholten sie Wort für Wort, was in den Verlautbarungen stand, wie ein postmodernes Echo, hier und da eine kleine Variation. Eine im Übrigen durchaus verständliche Reaktion, denn die Beamten wussten ja selbst nicht mehr als das, was die Verlautbarungen sagten, und keiner wagte es, irgendetwas zu interpretieren. So blieb der Alltag immerzu von Unklarheiten durchdrungen.

Auf WeChat [Weixin (微信)], einem Messenger- und Social-Media-Dienst von Tencent (Hauptquartier in Shenzhen), riss der betäubende Strom von Chats, Posts und Nachrichten über Corona-Maßnahmen nicht ab. Das Shenzhen-Tempo hatte nun offenbar auch die endlose Flut von verstörenden Nachrichten aus unserer direkten Umgebung ergriffen. Wenn wir uns irgendwie zurechtfinden wollten, mussten wir die Informationen verarbeiten, was aber angesichts des Sturzregens von Nachrichten und Hinweisen (und der Gerüchte über Nachrichten und Hinweise), der uns täglich, stündlich, minütlich erreichte, nicht möglich war. Mitte März etwa schrieb der Präsident der Universität kurz vor Mitternacht an einem Sonntag auf WeChat (wo sonst) an alle, dass nach Beratungen mit der Stadtverwaltung der Lockdown zu Mitternacht aufgehoben würde. Der ganze Campus brach in Jubel aus. Studierende eilten an die Außentore. Dann jedoch am Morgen die nächste, mehr als ernüchternde Nachricht: Der Lockdown gilt weiter. Wir haben nie erfahren, was die erste Ankündigung ausgelöst und was dann zum Widerruf geführt hatte. Die meisten von uns gaben am Ende das Kaffeesatzlesen auf. Wir konzentrierten uns lieber auf die verzweifelte Kunst des doomscrolling auf unseren Handys, ein neuer Zeitvertreib, der Ohnmachtsgefühle hervorrief, einen Zustand des Stillstands und der Entscheidungsunfähigkeit, der die beiden Pflichten des Gottes Hermes miteinander verband. Er war ja nicht nur der Herold der olympischen Götter, sondern auch der feierliche Führer der Toten, der die Seelen in die Unterwelt geleitet.

Solidarität der Beschränkung

Als Corona sich weltweit auszubreiten begann, erlebte Albert Camus’ Roman La Peste (1947) über einen fiktiven Pestausbruch in Oran eine Renaissance. In Italien war, wie mir ein Freund berichtete, die Nachfrage zeitweise so groß, dass das Buch zum Bestseller wurde. Wie viele andere las auch ich im Frühjahr 2020 wieder Camus. Die Darstellung des cordon sanitaire erinnerte an die realen Lockdowns, dazu die bezeugten Akte des Heroismus, die Schwarzmarktprofiteure, Anflüge finsterer Verzweiflung, die Neuerfindung von Liebe, Freundschaft und Familie, die Nöte und ein nicht sonderlich effektiver Impfstoff, der uns an Sinovac denken ließ. Die Biografie des Philosophen bot selbst einiges Material für den existentialistischen Roman. Er litt an Tuberkulose und schrieb: »Es gibt nichts Unwürdigeres als die Krankheit.« Darüber hinaus wurde das Buch aber auch oft als Allegorie der Résistance interpretiert, als Appell zur Solidarität im Kampf gegen Tod, Verlust, Tyrannei. All das, und noch mehr, bietet dieser Roman – für mich begann er aber, etwas anderes zu symbolisieren. Im Gespräch stimmten ein Kollege und ich darin überein, dass das, was zur Ausbreitung der Pest in Oran führt, weniger die ansteckende Krankheit ist. Es ist das Exil. Für den Existentialisten Camus war Exil natürlich nicht nur eine politische Sache, er lebte in dem Bewusstsein, der Mensch sei niemals »zuhause«, keine alten (oder heutigen) Götter könnten uns retten und weder die Erde noch das Universum uns jemals das Gefühl der Zugehörigkeit vermitteln. Es sind die Menschen selbst, die sich auf eigene Faust Quellen eines Dazugehörens in ihrem Exil suchen müssen.

Natürlich war das, was mir während der fieberhaften Pause auf unserem Campus in Shenzhen widerfuhr, alles andere als eine einzigartige Erfahrung. Die westliche Welt hat die Moderne insgesamt lange als eine Epoche der Angst, der Entfremdung und des Bruchs betrachtet, als eine Epoche des geistigen Verlusts. Ein ganzes Genre der westlichen Literatur des 20. Jahrhunderts, so George Steiner, war »extraterritorial«, das heißt eine Art von Literatur von und über Exilanten, die das Zeitalter, die Zeit des Flüchtlings symbolisierte. »Es scheint angemessen«, so Steiner, »dass diejenigen, die in einer quasi barbarischen Zivilisation, die so viele heimatlos gemacht hat, Kunst schaffen, selbst unbehauste Dichter und Wanderer durch die Sprache sein sollten. Exzentrisch, unnahbar, nostalgisch, absichtlich unzeitgemäß.« [1. George Steiner, Extraterritorial: Papers on Literature and the Language Revolution. New York: Atheneum 1971.] Nach Monaten unterschiedlicher Grade und Methoden des Eingesperrtseins auf dem Campus waren wir alle, wenn auch unbeabsichtigt, unabhängig von unserer Nationalität oder Herkunft, zu Exilanten geworden – festgehalten fern der Heimat, und das auf unbestimmte Zeit.

In der griechischen und römischen Welt war ein Exilant jemand, der verbannt worden war, ein vertriebener Reisender oder Wanderer; das englische Wort »exile« wurde vom lateinischen »exsul« abgeleitet. Und wie der Dichter Ovid – von Augustus im Jahr 8 nach Christus aus Rom ans Schwarze Meer verbannt – erklärte: »Exilium mors est.« Wir postmoderne Außerirdische in Shenzhen, wider unseren Willen festgesetzt auf dem Campus-Areal, fanden uns plötzlich in doppeltem Sinn im Exil wieder: getrennt von unseren Herkunftsländern und zugleich getrennt von der Stadt, in der zu leben und zu arbeiten wir uns entschieden hatten: »Exilium vita est.« Das kafkaeske Moment einer solchen Situation findet seinen Widerhall in Edward Saids Formel vom »exile as a permanent state« [1. Edward Said, Power, Politics, and Culture. Interviews with Edward W. Said. Hrsg. v. Gauri Viswanathan. London: Bloomsbury 2004.] im Unterschied zum gängigen Verständnis als einer vorübergehenden Phase auf dem Weg zur Rückkehr in die Heimat. Der damit beschriebene, existentiell gewordene Zustand unendlichen Aufschubs führt nach Said dazu, dass sich das gesamte Denken und Leben im Exil auf die zurückgelassene Heimat konzentriert und zugleich alle Erinnerungen und Hoffnungen darum kreisen. Für uns postmoderne Exilanten »außerhalb der Zeit« in Shenzhen war der Verlust unserer ursprünglichen physischen, sozialen und materiellen Bezugspunkte mit der fieberhaften Pause gekoppelt, die uns durch die unvorhersehbaren Präventions- und Kontrollmaßnahmen der Stadt und die Abriegelung unseres Campus auferlegt wurde. Das trostlose Gefühl des Stillgestelltseins wurde dadurch doppelt fühlbar.

Für alle an unserer Universität – von den Mitarbeitern über die Studenten und Dozenten bis hin zu den Familienangehörigen – war die Erkenntnis »exilium vita est« nur schwer zu verdauen. Aber wie sich herausstellen sollte, bildete sich mit der physischen Beschränkung der Welt auf den Campus und der zeitlichen auf einen Horizont, der an Nietzsches »ewige Wiederkehr des Gleichen« gemahnte, zugleich unverhofft eine eigenartige Form der Solidarität heraus. Jahrelang hatten die Dozenten um mich herum darüber geklagt, dass es im Gegensatz zu den Universitäten, an denen sie studiert oder gelehrt hatten, in Shenzhen kaum informelle gemeinschaftsbildende Aktivitäten gab. Das änderte sich nun. Während man in Neapel während der zweimonatigen Abriegelung im Jahr 2020 auf jahrhundertealte Traditionen zurückgriff, wie zum Beispiel auf »Solidaritätskörbe«, um Obdachlose zu versorgen, [1. www.npr.org/2020/04/07/828021259/in-naples-pandemic-solidarity-baskets-help-feed-the-homeless.] war der historische Resonanzraum für derartige Aktivitäten bei uns deutlich kleiner. Aber auch ein tägliches Basketballspiel, an dem jeder nach Belieben teilnehmen darf, kann in einer solchen Ausnahmesituation zu einem wichtigen Ritual werden. Der starre Zeitplan für die obligatorischen PCR-Tests sorgte zwar dafür, dass sich die Zusammensetzung der Mannschaften auf dem Spielfeld ständig veränderte. Doch der Austausch von Gerüchten und Nachrichten während und nach den Spielen, die gegenseitigen Kameradschaftsbekundungen sowie das gemeinsame Klagen über unser gemeinsames Schicksal schufen ein dauerhaftes Gefühl der Zugehörigkeit.

Es war fast so, als hätten die Dozenten, von denen die meisten für die einsame Arbeit im Labor oder in der Bibliothek ausgebildet worden waren, in unserer Quarantänestation denselben Weg durchschritten, den Camus in seinen Schriften zur existentiellen Heimatlosigkeit des Menschen beschrieben hat. Camus wollte sein Werk im Sinne eines Entwicklungsprozesses verstanden wissen, der mit der Erforschung der einsamen Revolte beginnt, wie in Der Fremde und Der Mythos des Sisyphos, wo der Selbstmord als Antwort auf die absurde Heimatlosigkeit des Menschen betrachtet wird, schließlich aber zu Fragen der Solidarität und Moral führt, wie sie in Die Pest verhandelt werden. Als Dr. Bernard Rieux dort dem Journalisten Raymond Rambert erklärt, es sei keine Schande, aus Oran zu fliehen, um bei den Menschen zu sein, die man liebt, also das persönliche Glück der Solidarität mit den Bürgern der Stadt vorzuziehen, antwortet Rambert: »Oui … mais il peut y avoir de la honte à être heureux tout seul.« [1. »Ja …, aber man kann sich dafür schämen, allein glücklich zu sein.«] Indem sie uns auf dem Campus einsperrte, hatte die chinesische Regierung ironischerweise für unsere kleine Gruppe eines ihrer langfristigen sozialen Ziele erreicht: »Harmonie« (he  oder hexie 和諧). [1. Auch die chinesische Regierung führt die altehrwürdige Tradition der »Harmonie« gerne im Munde. Vgl. Chenyang Li u.a. (Hrsg.), Harmony in Chinese Thought. A Philosophical Introduction. Lanham: Rowman & Littlefield 2021.] Zumindest für einen Augenblick klang die fiebrige Erregung dieser Zeit ab, und wir fühlten uns im Exil gemeinsam zu Hause.

Chronos und Kairos

Mein Forschungsaufenthalt in Essen sollte am 1. April beginnen. Nachdem wir unsere Pläne über Monate hinweg in aller Ruhe methodisch durchdacht hatten, wurde nun alles außerordentlich hektisch. Aber die Hoffnung, dass »Shenzhen-Speed« uns wie ehedem schnell ans Ziel bringen würde, zerschellte an den Realitäten des auf Dauer gestellten Schwebezustands, in dem wir gefangen waren. Tatsächlich dauerte die Aufregung zwar lediglich drei Wochen, gefühlt jedoch waren es Jahre, und der Rummel fand praktisch ausschließlich in unserer Wohnung statt: Wir suchten hektisch nach verfügbaren Flügen und kauften gleich mehrere, um auch ganz sicher entkommen zu können; wir beantragten bei den Behörden in Shenzhen die Erlaubnis, den Campus verlassen zu dürfen; Nacht für Nacht verbrachten wir bis in die Früh damit, verzweifelt Notfallpläne zu schmieden; wir baten die Campus-Behörden wiederholt darum, uns unverzüglich zu verständigen, sollten sich irgendwelche Regeln oder Maßnahmen ändern; in nervöser Erwartung traten wir sämtlichen WeChat-Gruppen bei, bei denen es um Amerikaner ging, die China verlassen wollten; wir zogen kurz in Erwägung, die amerikanische Botschaft zu kontaktieren (aber alles deutete darauf hin, dass die USA nicht eingreifen würden); weil unser unmittelbares Umfeld keinerlei Möglichkeit dazu bot, ließen wir unserem Frust in westlichen sozialen Medien freien Lauf; wir sprachen mit Freunden in China, von denen viele meinten, dass wir unsere Ausreise vielleicht verschieben sollten, bis sich die Lage gebessert hätte; wir riefen geliebte Menschen im Ausland an, die uns drängten, das Land zu verlassen, falls die Lage sich (wie im Norden) verschlechtern sollte.

Dabei befanden wir uns im Vergleich etwa zu den Bewohnern Shanghais sogar noch in einer privilegierten Situation. Die Freundin einer Freundin erzählte mir, ihre Studenten dort würden bei Verdacht auf eine Covid-Infektion bis zu zwei Wochen lang in Miniaturisolationszellen untergebracht. Wie die meisten Informationen, die wir ergattern konnten, ließ sich diese Auskunft nicht zweifelsfrei belegen, auch wenn ich die Quelle für glaubwürdig hielt. Aus einem Krankenhaus in Shanghai kursierten Fotos und Videos, die kleine Kinder zeigten, die ihren Eltern weggenommen worden waren, was in den sozialen Medien große Empörung und in unserem Haushalt große Angst auslöste. Vor meinem geistigen Auge spielten sich zunehmend Szenen ab wie in einem dystopischen Film. Monate später, nachdem die Covid-Unsicherheit zur Normalität geworden war, begannen elitäre Kreise gebildeter Chinesen, im Internet den Slogan »run philosophy« oder »run xue« zu verwenden (sie vermieden chinesische Schriftzeichen, um die chinesische Zensur nicht zu alarmieren), um verschleiert davon zu sprechen, dass sie China verlassen wollten, weil sie die Hyperkonkurrenz und Unberechenbarkeit ihres Landes unerträglich fanden. [1. China’s young elite are considering moving abroad. In: Economist vom 5. Mai 2022 (www.economist.com/china/2022/05/05/chinas-young-elite-are-considering-moving-abroad).]

Wir Amerikaner, die wir diesen Traum mit ihnen teilten, entwarfen unsere eigene improvisierte »run xue«. Als die Erlaubnis der Behörden in Shenzhen, den Universitäts-Campus zu verlassen, ausblieb, was viele Entscheidungen hinauszögerte, zogen wir in Erwägung, uns kurzerhand mitten in der Nacht vom Campus zu schleichen und von einem Didi abholen zu lassen, der uns zum Baiyun International Airport in Guangzhou fahren würde, um einen der wenigen Flüge aus dem Land zu nehmen. Beunruhigenderweise hörten wir jedoch Gerüchte, dass der Autoverkehr in und aus Shenzhen gestoppt worden sei; dass eine Tante und ein Onkel eines chinesischen Freundes zurückgewiesen worden seien, als sie versuchten, die Stadt zu verlassen. Wir verwarfen auch die Option, mit dem Zug nach Shanghai zu fahren, um dort einen Flug zu nehmen; wir befürchteten – und offenbar durchaus zu Recht, wie sich Monate später herausstellte –, dass unsere QR-Codes unterwegs plötzlich von grün auf rot wechseln könnten, was den Behörden die Möglichkeit geben würde, uns in staatliche Quarantäneeinrichtungen einzuweisen. [1. Phoebe Zhang u.a., Fears of data abuse as Chinese health code turns red for financial scandal protesters. In: South China Morning Post vom 14. Juni 2022 (www.scmp.com/news/china/science/article/3181635/chinese-health-code-turns-red-financial-victims-about-protest).] Die Zeit kroch immer weiter im Schneckentempo voran, doch der richtige Moment kam und kam nicht.

Ende März, weniger als zwei Tage vor dem geplanten Abflug, erteilte uns die örtliche Regierung über einen digitalen Postservice dann auf einmal doch noch die Erlaubnis, den Campus zu verlassen. Wir sollten direkt zum Flughafen in Guangzhou fahren. (Die Flughäfen von Shenzhen galten offiziell zwar als geöffnet, de facto aber war der Flugverkehr dort längst eingestellt worden.) Wie sich dann zeigte, war es aber auch mit einem offiziellen Dokument nicht ohne weiteres möglich, das Universitätsgelände zu verlassen. Erst nach mehreren Anrufen und verzweifelten SMS inmitten strömenden Regens entließ uns der Sicherheitsbeamte des Campus schließlich aus unserem Fegefeuer. Die Autofahrt nach Guangzhou verlief glücklicherweise ereignislos, der Flughafen war fast leer, der Flug turbulent, aber sicher. Bei der Landung auf dem Amsterdamer Flughafen Schiphol musste ich ein letztes Mal an Dante und die Flucht aus dem Inferno denken. Nie zuvor in meinem Leben habe ich mich derart frei gefühlt.

Seit meiner Ankunft in Essen habe ich versucht, die Entschleunigung zu genießen, die meinem Geist wie meinem Körper zuteil geworden ist, die sich nun endlich beide wieder gemeinsam durch die Welt bewegen dürfen. Dabei vermisse ich durchaus auch einige der Auswirkungen, die der hektische Stillstand in Shenzhen auf mein In-der-Welt-Sein hatte, nicht zuletzt die unerwartete Solidarität während der Abriegelung auf dem Universitäts-Campus, dieses Gefühl der Zugehörigkeit im Exil.

Während meiner Jahre in China habe ich eine Stabilität erlebt, die ich in meinem Heimatland nicht wirklich erfahren hatte. Wir Amerikaner gelten als freiheitsliebendes Volk. Aber war ich aus meiner Wahlheimat geflohen und hatte (eine bestimmte Art von) Freiheit (einer bestimmten Art von) Stabilität und Solidarität vorgezogen? Womöglich hatte Raymond Rambert in Camus’ Le Peste ja Recht: Man kann sich in der Tat dafür schämen, allein glücklich zu sein. Als ich im Juli 2022 frei nach Berlin reiste, besuchte ich die Gedenkstätte der East Side Gallery; von den 105 Gemälden hat mich das von André Sécrit und Karsten Thoms am tiefsten beeindruckt. Es zeigt nicht nur die Erde aus der Umlaufbahn durch eine zerbrochene Mauer, sondern präsentiert dem Betrachter auch die folgenden Zeilen: »Du hast gelernt, was Freiheit heißt, und das vergiss nie mehr.« Vielleicht kann Schiphol mein Prüfstein sein, in den Zeiten der Unsicherheit oder des Unfriedens, auf die ich zusteuere und in denen ich mich vermutlich noch oft fragen werde, ob es das wert war, und auf welcher Seite des Flusses ich eigentlich stehe.

Aus dem Englischen von Christian Demand und Ekkehard Knörer