Von der Republik als innerer Tatsache. Nachruf auf Hans Magnus Enzensberger

Hans Magnus Enzensberger, der notorische Trickster und Renegat unter den Intellektuellen, der verspielte Ironiker und nie wirklich greifbare Metamorph – es ist diese oft erzählte Legende, die noch seinen Tod überdauern wird. In vielen Nachrufen, die in den deutschsprachigen Medien, aber auch in vielen internationalen Blättern erschienen sind, wird der wendige und schnelle Positionswechsel als hervorstechendes Charakteristikum seiner Autorschaft beschrieben. Die Bezugsgrößen Enzensbergers, deren Erwähnung ebenfalls nur selten versäumt wird, fügen sich mehr oder weniger bruchlos in dieses Bild. Es sind Denis Diderot und Heinrich Heine, die Aufklärer und Ironiker, die als historische Gewährsleute die gedanklichen Kapriolen des Fliegenden Robert – so Enzensbergers dem Struwwelpeter entnommenes Totem und lyrisches Selbstbild – in der europäischen Tradition verankern sollen.

(Dieser Text ist im Februarheft 2023, Merkur # 885, erschienen.)

Und es ist ja auch naheliegend. Wie sonst ließe sich ein derart vielstimmiges und formenreiches Werk, das ja gerade kein Werk im klassischen, also geschlossenen und einheitlichen Sinn mehr sein will, auf zumindest einen, wenn auch vergleichsweise schwachen Nenner bringen? Aus dieser Sicht erscheint es unmittelbar einleuchtend, das Prozesshafte und Diskontinuierliche im programmatischen Sinn zu deuten. Außerdem war es Enzensberger selbst, der an dieser Legende mitgestrickt hat, indem er – etwa mit dem Prosaband Diderots Schatten von 1994 oder mit der 1997 erschienenen Aufsatzsammlung Zickzack – die entsprechenden Referenzen und Schlagworte ins Spiel gebracht hatte.

Trotzdem ist diese Würdigung nicht ganz ohne Tücken. Zum einen erweckt die Betonung des Federnden, Leichtfüßigen, geradezu Schwebenden einen allzu relativistischen Eindruck. Der agonale Zug, die Schärfe und Intensität, auch die Provokationslust, die Enzensbergers essayistische Interventionen, aber auch viele seiner Gedichte auszeichnen, zumal in den ersten beiden Jahrzehnten seines Schaffens, geraten dadurch in den Hintergrund. Zum anderen – und wahrscheinlich noch folgenreicher – geht die Akzentuierung des Spielerischen oft damit einher, die Frage nach Zusammenhängen und Entwicklungen gar nicht mehr zu stellen. Die schiere Bewunderung der enzensbergerischen Flugkünste tritt an die Stelle einer differenzierten Würdigung seiner Autorschaft im ideen- und literaturhistorischen Kontext.

Dabei gibt es durchaus eine Grundbewegung, die seinem Lebenswerk eine gewisse elastische Kohärenz verleiht. Es ist ein zwar ungerader, aber doch klar nachvollziehbarer Weg, der allerdings weniger einem Spielverlauf folgt, als dass er einem Lernprozess entspricht. Er führt – in freier Anlehnung an Odo Marquard, der in den achtziger Jahren neben Niklas Luhmann zu einem wichtigen Impulsgeber Enzensbergers wurde – vom »großen Neinsagen« zum »kleinen Jasagen«, und das heißt von der entschlossenen Ablehnung der gesellschaftlichen Zustände hin zur unemphatischen Bejahung der offenen Gesellschaft und der westlichen Moderne.

Wer verstehen will, inwieweit gerade dieses charakteristische Zusammenspiel von Lernen und Liberalisierung Enzensberger zum eigentlichen repräsentativen Autor der Bundesrepublik macht, was sich ausgerechnet darin zum Ausdruck bringt, dass er im Gegensatz zu anderen Schriftstellern auf jeden staatstragenden Habitus gelassen zu verzichten wusste – wer dies verstehen will, muss sich sein literarisches und intellektuelles Leben zumindest in den wichtigsten Stationen noch einmal vergegenwärtigen.

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