Die Documenta nach ihrem Ende (18.2.2023)

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A: Was glaubst Du, wird jetzt aus der Documenta?

B: Ich bin mir nicht sicher, ob es sie noch gibt.

A: Warum?

B: Die Documenta war eine der erfolgreichsten Kunstinstitutionen der Welt, und sie war für ihre Geheimniskrämerei berühmt. Wie jeder amerikanische Präsidentschaftswahlkampf eine neue Form von Medienkampagne hervorbrachte, so brachte jede Documenta ihren eigenen Stil der Irreführung und Mystifikation zur Geltung. Das war ein Teil ihres Nimbus, und das war ihr Beitrag zum Boulevard-Theater. Die d15 war da keine Ausnahme, sondern nur die vorerst letzte Variante des Themas. Und das indonesische Kuratorenteam ruangrupa hat einige Betriebsgeheimnisse bis zuletzt gewahrt und entpuppte sich darin als stolze Vertreterin ihrer Zunft. Damit hat es jetzt ein Ende.

A: In welcher Form?

B: Alle wollen nur das Beste und versichern einander, dass sie nur das Beste wollen und dass die Krise bald überstanden ist. Sicher, wir hatten einige Probleme, und wir müssen intervenieren. Kein Grund zur Beunruhigung, denn wir sind selbst beunruhigt genug. Aber eines können wir auf jeden Fall versprechen: mehr Transparenz. Etwa durch einen Kurator, dem Stadt, Land und Staat vertrauen und der auf jeden Fall das Richtige tut. Sie kennen so jemanden? … Können wir die betreffende Person vielleicht erst einmal kennenlernen? … Sie wollen die Person doch nicht etwa aus dem Hut zaubern, wie das früher einmal geschah? … Wozu haben wir denn das Gutachten von Frau Deitelhoff anfertigen lassen, wenn Sie uns jetzt wieder so krumm kommen? … Wissen Sie was…! Die Zeit der Geheimgesellschaften ist vorbei. So der offizielle Tenor.

A: Das klingt satirisch.

B: Nur durch Satire kann man in Echtzeit antizipieren, wie eine Institution zu Bruch geht. Wie das dann wirklich abgelaufen ist, kann man ja später in den Akten nachlesen. Das Wichtigste ist der Tonfall. Die Konturen sind klar erkennbar, und dann weiß man auch, wie sich das anhört. Die Institution stirbt in Zeitlupe, sie stirbt mit Ansage, und sie stirbt an ihren lebensrettenden Maßnahmen. Oder sie wird nach dem absehbaren Misslingen der „documenta sixteen“ als immer noch finanzkräftiges Branding vom Ausland übernommen, etwa von der Tate als „tate documenta one (a.k.a. seventeen)“, in Kooperation mit der Stadt Kassel und mit dem ironischen Kompromiss, dass die wagemutigeren Teile weiterhin in Kassel stattfinden. Es sind viele Varianten denkbar, nur die eine nicht: dass die Documenta genau so vergeben und organisiert wird wie bisher.

A: Aber das war doch…?

B: Ganz recht, das war das Erfolgsrezept. Letzte Woche fand eine Debatte im hessischen Landtag statt, die das Abschlussgutachten einer Gruppe von Wissenschaftlerinnen zum Anlass nahm, mehr Mitspracherechte von Vertreterinnen des Bundes und des Landes bei der nächsten Documenta zu fordern. Den Rest kann man sich denken. Wenn Bund und Land im neuen Aufsichtsgremium vertreten sein wollen, wird sich die Stadt Kassel nicht lumpen lassen und ebenfalls mit im Board sitzen wollen (bevor sie vielleicht in wenigen Jahren auf Bund und Land zugunsten der Tate verzichtet). Und wenn es darum geht, dass man die Bilder oder Kunstwerke inspizieren möchte, bevor sie gezeigt werden, um sicherzustellen, dass sie keinen Schaden anrichten, dann muss man auch dafür sorgen, dass man sie zu Gesicht bekommt und einvernehmlich oder nicht-einvernehmlich verwirft, und dass man die richtigen Leute aussucht, um das zu gewährleisten oder um sie dafür verantwortlich zu machen, dass es nicht geschehen ist. So wird das Gutachten gelesen, und so ist es auch gemeint.

A: Das sehe ich anders. Das juristische Gutachten hat einen ganz anderen Tenor.

B: Sicher, der juristische Gutachter hat noch ein eigenes Gutachten verfasst, und er hat dafür gesorgt, dass es vorher veröffentlicht wird, und in diesem Gutachten steht, dass genau solche Prozesse, wie ich sie gerade beschrieben habe, im Rahmen der staatlich garantierten Kunstfreiheit nicht möglich sind, weil sie auf Zensurmaßnahmen hinauslaufen. Aber dieses juristische Gutachten wurde nicht als Sondervotum deklariert; und im Rahmen des Gesamtgutachtens hat sich der Jurist allem Anschein nach bereitwillig eingeordnet, wohl wissend, dass er seinen Teil zum Schutz der Kunstfreiheit bereits geleistet hatte, aber auch wohl wissend, dass alle, die das Gutachten nur auf die der documenta fifteen vorgehaltenen Monita und ihre Beseitigung hin lesen, zu all den Schlussfolgerungen kommen würden, die gestern im hessischen Landtag diskutiert wurden.

A: Wie passt das zusammen?

B:  Das doppelte Gutachten ist eine Art Kuckucksnest geworden. Die Rechtsexpertise ist ein Teil des Abschlussgutachtens, aber das Abschlussgutachten ist wiederum an das separate Rechtsgutachten gebunden und daher bestenfalls eine empirische Fußnote zur Rechtslage. Wer wirft jetzt wen aus welchem Nest? Wer ist der Kuckuck, und wer sind die nichtsahnenden Eltern und Kinder? Welches Gutachten ist das Nest, aus dem die Documenta oder die Kunstfreiheit geworfen wird? Oder beide?

A: Im hessischen Landtag waren letzte Woche im Grunde alle einer Meinung. „Eine Zensur findet nicht statt.“ Daher ist eine Oberaufsicht um so mehr gefordert, wenn es um Antisemitismus-Vorwürfe geht.

B: Selbstverständlich findet in unserem Land und unter den Bedingungen unserer Verfassung keine Zensur und keine Einschränkung der Kunstfreiheit statt. Und in Hessen findet sie in Zukunft schon deshalb nicht statt, weil das Wort „Zensur“ das erste Opfer der neuen Sprachregelungen geworden ist, die sich das hessische Parlament verordnet hat, um die neuen Regulierungen in die zukünftige Praxis umzusetzen.

A: Du gehst zu weit.

B: Ich bin eben ein besorgter Bürger. Die Art von Debatte, die im hessischen Parlament geschehen ist, kann morgen überall geschehen, sie kann die erste Formulierung dessen sein, was prinzipiell alle unsere Freiheitsrechte betrifft, die Kunstfreiheit, die Wissenschaftsfreiheit, aber auch die Meinungsfreiheit. Im hessischen Parlament wurde geholzt und gehämmert, dass sich die Balken bogen. Die empirische Grundlage war schwach, denn es blieben nur noch zwei Kunstwerke übrig, die zu beanstanden waren.

A: Waren das nicht vier?

B: Im Landtag wurde zwar von vieren gesprochen, aber im Bericht waren es nur zwei. Die anderen beiden waren doch nur Beispiele für „israelbezogenen Antizionismus“. Es blieben also nur zwei. Für das erste Exponat hatte die Leitung nach sofortiger Entfernung durch ihren Rücktritt die Verantwortung übernommen; das Gutachten erkennt beides als die richtige Reaktionsform an. Der Schock saß tief, zumal das erste Exponat an jedem der hundert folgenden Tage wieder tagesaktuell abgebildet und dadurch zum meistabgebildeten Kunstwerk der documenta fifteen wurde, oder sogar aller documentas zusammen; verbunden mit dem nie eingelösten, aber durchgängig behaupteten Versprechen eines zweiten Nachweises gleicher Güte. Das zweite Exponat, eine Karikatur, bleibt auch nach diversen Sichtungen obskur. Die  wenigen echten ikonografischen Studien insbesondere von Joseph Croitoru werden im Gutachten weder berücksichtigt noch diskutiert. Wie gesagt: Das Resultat ist dünn.

A: Wie kommt es dann zu den sehr grundsätzlichen Überlegungen zur Strukturreform der Documenta? Während der Documenta wurde ja so einiges behauptet, was sich als nicht stichhaltig erwiesen hat.

B: Ganz einfach: Die Kollegin hat in ihrem Gutachten die Skandalisierung auf einer fragwürdigen empirischen Basis ohne die Einbeziehung konträrer oder auch nur fachgerechter Expertise fortgesetzt, statt die Skandalisierung selbst in den Blick zu nehmen, ja sogar, ohne den Verlauf der Skandalisierung überhaupt in Erwägung zu ziehen. Dabei kann man den Verlauf der documenta fifteen ganz anders bewerten. Gegenüber einer durch zielgerichtete Kampagnen aufgeputschten und zu großen Teilen recherche-unfähigen allgemeinen Öffentlichkeit, die jedem Verdachtsmoment als schon geschehenem Beweis tagelang folgte, bis er sich aufs Neue verflüchtigt hatte, und gegenüber einer spezialisierten und größtenteils wohlwollenden, aber zu Recht besorgten und beunruhigten Kunstöffentlichkeit hat die Leitung der documenta fifteen das Richtige getan.

A: Du meinst, sie hat nicht reagiert, oder nur nach mehreren Nachfragen.

B: Sie hat standgehalten. Wenn die Documenta den allerorts erhobenen politischen Forderungen gefolgt wäre, wenn etwa die interimistische Leitung unter Fahrenholz die Documenta oder Teile von ihr mutwillig den öffentlichen Beschwerden folgend geschlossen oder zensiert hätte, dann, ja dann hätte die Documenta versagt. Man stelle sich vor, die documenta fifteen wäre allen Alarm-Meldungen der Springerpresse oder des Zentralrats oder Meron Mendels oder der FAZ oder der FR oder der SZ oder einer beliebigen Mischung aus den Verdächtigungen und Irrtümern der genannten Personen, Gremien oder Publikationsorganen nachgekommen – ja, das wäre genau das Desaster geworden, das nicht eingetreten ist, und die Documenta wäre schon jetzt aufgelöst. 95 der 100 Tage standen falsche Verdächtigungen in der Zeitung und wurden durch Funk, Fernsehen und digital verbreitet.

A: In diesem einen Punkt kann ich Dir rechtgeben: Dass die Documenta noch existiert, verdanken wir weder den einen noch den anderen genannten Kräften, sondern allein der Gegenwehr von ruangrupa und dem Beharrungsvermögen der provisorischen Leitung. Wenn die Documenta wie verlangt abgebrochen worden wäre – und die Forderungen, das zu tun, waren in der Tat massiv und konzertiert -, ja dann wäre die Documenta schon längst perdu.

B: Das Gutachten von Kollegin Deitelhoff geht mit keinem einzigen Wort auf den Ablauf dieser Skandalisierung ein, mit dem Resultat, dass sich die Skandalisierung sogar im nachhinein als ein Beweis dafür versteht, dass ein fortlaufender Skandal durch immer neue Beweise stattgefunden hat. Aber das ist eine Fiktion. Es wäre eine Aufgabe des Gutachtens gewesen, diese massenmediale Eskalation zu reflektieren. Das war schließlich ein Teil der wissenschaftlichen Verantwortung, die der Kommission niemand ersparen konnte. Im Gutachten geschieht davon nichts, außer dass die meisten falschen Verdächtigungen stillschweigend und einige wenige auch explizit zurückgenommen werden. Kollegin Deitelhoff unterstreicht sogar noch einmal ihr damaliges Votum für eine sofortige Zensurmaßnahme durch eine Entfernung der Tokyo Reels, obwohl ihr Votum im Abschlussbericht eine solche Maßnahme nicht zu rechtfertigen vermag. Das kann man konsequent finden oder eher als endgültigen Beweis der inkonsistenten Machart, oder schlicht: der bereits in der ersten Pressekonferenz angekündigten politischen Willfährigkeit dieses Gutachtens lesen. Immerhin sind zwei Gutachter_innen ausgeschert, und zwar ausgerechnet die für einen nicht nur binnendeutschen Blick zuständigen. Denentsprechend findet auch eine Auseinandersetzung mit nicht-deutschen Publikationen nicht statt, also mit dem internationalen Blick auf eine internationale Ausstellung, die zu großen Teilen auf Englisch und in anderen Sprachen stattgefunden hat. Das Gutachten funktioniert ohnehin nur auf der Gerüchtebasis der damaligen deutschen Massenmedien, denn sonst müsste sich das Gutachterteam eingestehen, dass die großen Strukturreform-Forderungen und die dürftigen skandalisierungsfähigen Ergebnisse nicht zusammenpassen. Weil das Gerücht einer durchgängig antisemitischen Documenta in den populärsten Medien pausenlos beschworen wurde, wird es im nachhinein als populäres Faktum vorausgesetzt, und so geschah es auch letzte Woche im hessischen Parlament.

A: Nicole Deitelhoff sagt ja sogar in Interviews, ich zitiere aus der FAZ vom 18.02.2023:Was wir bei der Documenta 15 gesehen haben, war ja nicht eine vereinzelte Normüberschreitung, sondern eine in Teilen schon systematische Ignoranz von geltenden Normen.“

B: Ja, das scheint ihr Fazit zu sein. Dieser Satz hat es in sich, denn er bezieht sich auf die Documenta fifteen insgesamt. Der Satz ist interpretationsfähig: Bezieht er sich auf die institutionellen Normen, so besagt er, dass Organigramm und Wirklichkeit auseinanderklaffen, und das ist in jeder Institution so, also im Grunde banal. Bezieht er sich hingegen auf den Antisemitismus als Anlass der Skandalisierung, so kann man den Satz kaum anders als „ad personam“ lesen. Es wird interessant sein, die Wirkungsgeschichte dieses einen vergifteten Satzes zu verfolgen. Auf jeden Fall ist durch den Bericht die Aufsichtspflicht des Bundes und des Landes gefordert.

A: Was sollen die hessischen Parlamentarier dann anderes sagen, als was sie gesagt haben? Sie kennen ja nichts anderes als den Skandal und den Bericht.

B: Ich habe Angst vor den Konsequenzen. Aus einem einfachen Grund: Unsere Volksvertreter scheinen unsere Verfassung nicht mehr zu kennen. Sie wissen nicht mehr, dass unsere Freiheiten, die Freiheiten der Bürger und unserer Institutionen, auf Abwehrrechten gegen den Staat beruhen. Dass sie darauf beruhen, dass uns der Staat vor den Eingriffen des Staates schützen soll und muss, wenn unsere über Jahrhunderte hart erkämpften Freiheiten nicht verloren gehen sollen. Das scheint in einer parlamentarischen Diskussion nicht mehr vermittelbar. Schließlich sind die Parlamentarier (so scheinen sie zu denken) doch dafür da, den Staat zu schützen, der Demokratie zu ihrem Recht zu verhelfen, die Volksvertretung zu personifizieren, und diese Aufgaben nehmen ihnen weder die Künstler, die Wissenschaftler noch die Kuratoren ab. Das juristische Gutachten wurden offensichtlich nicht gelesen, und wenn es gelesen wurde, nicht verstanden.

A: Aber das juristische Gutachten bleibt ja weiterhin gültig, und wird sich daher mäßigend auswirken. Die Kunstfreiheit wird dadurch nicht in Frage gestellt, dass man einige irregeleitete Exponate nicht mitfinanziert und daher auch nicht zeigt. Oder?

B: Früher hätte man die Positionen, die gestern im hessischen Landtag ausgetauscht wurden, schlicht und ergreifend „1984“ genannt. Aber auch Dein Satz ist ein Nagel in den Sarg der Documenta.

A: Du übertreibst.

B: Oberaufsicht und Gehorsam sind die wahre Kunstfreiheit. Sagen hessische Politiker_innen in so vielen Variationen wie Wortmeldungen, ohne Ausnahme. Grüne Politikerinnen von heute klingen wie Christdemokraten von 1972 oder sogar 1952. Wir schützen die Kunst vor sich selbst, denn wir schützen sie davor, mit unseren Werten und den wahren Werten der Kunst in Konflikt zu geraten. Was kann daran verkehrt sein? Schließlich haben wir alle dieselben Werte, und wir haben dieselben Worte: „Das darf nie wieder…“. Also kann es nicht falsch sein, wenn die Vertreter des Landes, des Bundes und der Stadt im Namen der Stadt, des Landes und des Bundes beraten und beschließen, wie man die Kunst vor sich selbst schützt. Wir schützen unsere Öffentlichkeit im Namen der öffentlich-rechtlichen Institutionen, die wir finanzieren. Vor dem Staat? Vor der falschen Kunst. Wie Du gerade gesagt hast: „Die Kunstfreiheit wird dadurch nicht in Frage gestellt, dass man einige irregeleitete Exponate nicht mitfinanziert und daher auch nicht zeigt.“ Bestechend klar gedacht, bestechend klar gesagt. Nur leider verfassungswidrig, und im hessischen Landtag besonders emphatisch von der AfD unterstützt – aber selbst das ließ die Parlamentarier der anderen Parteien nicht stutzig werden.

A: Fazit, erster Teil: Eine Zensur findet nicht statt.

B: Im Gegenteil. Wir haben die Verantwortung, dafür zu sorgen, dass sie erst gar nicht nötig wird. Das kann man dann Zensur nennen oder auch nicht, auf jeden Fall braucht man dann keine Documenta mehr.

A: Fazit, zweiter Teil: Totgesagte leben länger.

B: Zumindest macht man ihnen mehr Komplimente.—-