Flache Berge

Den einen sind sie eine Herausforderung, den andern eine Bedrohung. Manche finden sie sogar schön. Die Achtundsechziger aber erinnern sich dabei immer noch an ein Graffito, das von einer besseren Aussicht auf das Meer träumte und deshalb ganz radikal wurde: Rasez les Alpes!

(Dieser Text ist im Aprilheft 2023, Merkur # 887, erschienen.)

Allerlei Klettergerät, Skilifte, Seilbahnen und Helikopter, mutige Passstraßen oder waghalsige Eisenbahnlinien bezwingen diese erdgeschichtlich kuriose Problemzone. Mit Serpentinen, Kehrtunnels, Viadukten und Galerien wird der Verkehr zwischen jenen flacheren und zivilisierteren Gebieten Mitteleuropas ermöglicht, die wirklich etwas hergeben. Die Alpen bilden im Vergleich dazu nur den hochsubventionierten Kontrast, sind eine optimal zerklüftete Randzone für den Ausnahmezustand »Ferien«, mit riskantem Verhalten abseits der Piste und der Geduldsprobe im Stau vor dem Gotthardtunnel.

Seit dem späten 18. Jahrhundert gaben sie die Kulisse ab für die ästhetisierten Dystopien des empfindsameren Bildungsbürgertums, seit dem 19. Jahrhundert wurden sie mit Hirten, Käse und Kühen folkloristisch überhöht und mutierten im 20. Jahrhundert entweder zum Reservoir für die weiße Kohle oder zum »Réduit« genannten Rückzugsgebiet für eine total überforderte Armee.

Hier kann man eindeutig kein urbanes Leben führen, keine Fabriken bauen oder Finanzplätze betreiben. Eleganz wurde zunächst nur saisonal und für sehr ausgewählte Gäste des Nobeltourismus inszeniert, exklusiv importiert für jene europäische Hautevolee, die nach wenigen Ballnächten und Spazierfahrten im Schnee das Weite suchte und es auch fand. Die Langsameren, die Jahrzehnte später vollautomotorisiert anreisten, schwer bepackt mit Kindern, Skiern und Schlitten, wussten schon immer, dass sie nicht zum Vergnügen in diese zerklüftete Welt gefahren waren.

 

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