Der große Krieg und der kleine Alltag

In Berlin gibt es ungefähr 200 000 Russen und 62 500 Ukrainer (Stand 2023). Ich hatte vermutet, dass wegen des Angriffs der Russen auf die Ukraine, wegen ihrer brutalen, die Zivilbevölkerung, Städte und Infrastruktur nicht schonenden Kriegsführung die Beziehungen zwischen der Ukrainer zu Russen ganz gleich wo, also auch in Berlin, angespannt und feindlich sind: Grund genug haben sie ja.

Und in der Ukraine findet in der Tat eine Entrussifizierung statt: Was immer russisch ist oder, zu Recht oder zu Unrecht, als russisch gilt, muss verschwinden. Besonders augenfällig ist das bei der russischen Sprache: Während vor dem Krieg, also vor 2014, die Umgangssprache von geschätzt einem Drittel der ethnischen Ukrainer russisch war, wird jetzt im wesentliche ukrainisch gesprochen. Auch Präsident Selenskij ist, wiewohl ethnisch ein ukrainischer Jude, ein russischer Muttersprachler, genauer gesagt war: Die russische Sprache benutzt er in der Regel nicht mehr. Im Frühjahr 2023 wurde die Sprachenfrage durch ein neues Gesetz geregelt: Ukrainische Staatsbürger müssen ukrainisch können (und die ukrainische Geschichte kennen); russische Ortsnamen sind verboten. Schon vorher waren vielerorts unzählige russische Straßennamen durch ukrainische ersetzt. Im Rahmen eines Entrussifizierungs- bzw. Entkolonialisierungsprogramms wurden Denkmäler „großer Russen/Russinnen“ wie von Katharina der Großen oder von Aleksandr Puschkin aus dem öffentlichen Raum entfernt. Die russische Literatur wird geächtet; nicht nur genuine Ukraine-Verächter wie Brodskij, sondern auch Tolstoj und Puschkin, Achmatova und Bunin und viele andere werden nicht mehr gelesen oder sollen nicht mehr gelesen werden. Viele Ukrainer bringen ihre Bücher zur Verwertung zum Altpapier. Bibliotheken haben Millionen von Büchern aus ihren Beständen entfernt, weil es sich um „Propaganda“ handele.

In Russland findet im Gegenzug, genauer gesagt im ersten Zug, weil schon seit langem, eine schlichte Negierung der Ukraine statt: Es gibt sie nicht und hat sie nicht gegeben. Bei dem, was die Welt fälschlicherweise Ukraine nennt, handelt es sich um „Kleinrussland“, also eine russische Region mit gewissen Besonderheiten. In dieser Gewissheit wollte der Präsident des russischen Verfassungsgerichts, V. Zor’kin, als Nationalist bekannt, Putin mit Hilfe einer Karte aus dem 17. Jahrhundert, auf der keine Ukraine verzeichnet sei, bestärken; allerdings war sie verzeichnet. Eine ukrainische Sprache, die den Namen Sprache verdient, gibt es nach diesem Narrativ auch nicht und hat es nie gegeben; es gibt nur diese regionale Mundart des Russischen in diesem Kleinrussland. Man fragt sich natürlich, ob eine regionale Mundart die staatliche Einheit wirklich so gefährden kann, dass sie verboten werden musste, wie es mit der ukrainischen Sprache im 19. Jahrhundert geschah. „Nicht negiert“ wird in Russland nur die illegale Machtübernahme durch eine faschistische Junta und durch Bandera-Anhänger in Kiev im Jahre 2014 mit Hilfe der Amerikaner und der NATO; die Drohung der Aufnahme der Ukraine in die NATO habe Russland gezwungen, seine „roten Linien“ durch einen Einmarsch in die Ukraine für diese und den „kollektiven Westen“ klar zu machen. Grund genug für Hass auf die Russen haben die Ukrainer also. Ob und wie ihre Beziehungen zu den Russen jemals, wenn denn der Krieg endlich einmal vorbei und dann noch etwas Zeit ins Land gegangen ist, wieder geheilt werden können, konnte ich mir nur schwer vorstellen.

Vor einigen Tagen war ich wieder einmal zu Besuch bei meinen russischen Freunden Volodja und Katja, die schon seit vielen Jahren in Berlin leben. Sie haben zwei Kinder, die in Berlin zur Schule gehen, auf eine Schule mit russisch als erster oder zweiter Fremdsprache und mit einem beträchtlichen Anteil von russischen und ukrainischen Schülerinnen und Schülern. Schon bei früheren Treffen hatte ich gefragt, wie sich denn der Krieg auf die Beziehungen zwischen den Schülerinnen und Schülern auswirkt. Die beiden hatten damals erzählt, dass der Krieg eigentlich gar keine Auswirkungen habe: Die beste Freundin von Lena, ihrer Tochter, sei eine Ukrainerin und die beiden kämen prächtig miteinander aus. Auf meine damalige Nachfrage, wie denn das möglich sei, meinten sie, dass die Kinder in ihrer Kommunikation miteinander die Tatsache des Krieges völlig aussparen würden, quasi als etwas, was in einer anderen Welt, der Erwachsenenwelt, geschieht. Das hat mir damals eingeleuchtet: Zwei im wesentlichen voneinander getrennte Welten, die einander auch nicht stören konnten.

Bei meinem jetzigen Besuch kam Volodja von selbst auf das Verhältnis zwischen den in Berlin lebenden Russen und Ukrainern zu sprechen. Ich hatte wie gesagt erwartet, dass dieses Verhältnis sei es katastrophal, sei es auch nicht existent war. Ich hatte aus früherem Erleben auch durchaus Grund zu dieser Annahme. Mein damaliger Aleksej war Russe; am Lehrstuhl hielt sich damals, im Jahre 2009, auch  Tinatin, eine Stipendiatin aus Georgien auf. Aleksej war (und ist) ein sehr kluger und kritisch denkender Mensch; er verabscheut Putin und seine korrupte Entourage und deren Imperialismus-getränkten, dumpfen Nationalismus, und wir alle wussten das aus unseren Gesprächen mit ihm. Tinatin wollte es, ein Jahr nach dem  russisch-georgischen Krieg, gar nicht wissen: Wann immer Aleksej den Raum betrat, verließ sie ihn.

Volodja erzählte aber eine ganz andere Geschichte von den Beziehungen zu seinen ukrainischen Bekannten in Berlin. Die seien hervorragend; keinerlei Spannungen und Aggressionen. Man helfe sich gegenseitig. Da er ja schon viele Jahre in Berlin lebte, helfe er den Ukrainern, sich im zähen Gestrüpp der deutschen Bürokratie bei der Aufnahme einer wirtschaftlichen Tätigkeit und der Schaffung einer Existenz zurecht zu finden. Er war beeindruckt von der Dynamik der Ukrainer und ihrem unbedingten Willen, sich – vorübergehend oder auf Dauer – ein neues Leben in Berlin zu schaffen. Aber auch Volodja war beeindruckend in seiner positiven Wahrnehmung der Ukrainer. Viele Russen schauen verächtlich auf Ukrainer herab: Dumpfe, unkultivierte Bauern seien sie, Chochly oder Ukropy: Die erste Bezeichnung bezieht sich auf die Zöpfe der Kosaken, die zweite bedeutet „Dillköpfe“. Das war nicht Volodjas Wahrnehmung. Ich habe dann eine Reihe von anderen russischen Freunden (viel zu wenig für eine repräsentative Umfrage) gefragt, sowohl solche, die Russland nach dem Angriff auf die Ukraine 2022 verlassen haben und jetzt in Deutschland leben, wie auch solche, die weiter in Russland leben. Die Antworten waren in allen Fällen gleich: Die Ukrainer seien ungemein freundlich, auch jene, bei denen Familienangehörige an der Front kämpften. Nur man selbst sei als Russe befangen, aus Scham. Zu dieser freundlichen Lockerheit der Ukrainer kommt mir ein Video in den social media vom 26. 2 2022 in den Sinn. Ein russischer Panzer ist mangels Treibstoff am Rande eines Feldes stehengeblieben; ratlose russischen Soldaten stehen herum. Des Weges kommt ein Ukrainer in seinem Žiguli und hält an. Kein Benzin mehr, fragt er ganz freundlich; soll ich euch abschleppen – und dann, mit verschmitztem Lächeln: Vielleicht gleich bis Russland?

Ich fragte Volodja, wie denn das zu erklären sei, dass die Beziehungen zwischen den in Berlin lebenden Russen und Ukrainern so unproblematisch und positiv seien, vor dem Hintergrund dieses blutigen und grausam geführten Krieges. Er meinte, ein Grund sei sicherlich, dass bei in Berlin schon lange lebenden Russen alles dafür spricht, dass sie nicht fanatische russische Nationalisten sind, Apologeten des schrecklichen „Tötet, tötet, tötet“ von A. Dugin. Andere Freunde wiesen auch noch auf die bekannte Tatsache hin, dass Abneigungen und Vorurteile ins Wanken kommen, wenn man einer konkreten Person direkt gegenübersteht.

Es gibt aber, so glaube ich, noch eine tiefer ansetzende Erklärung. In das kollektive Gedächtnis von Russen und Ukrainern hat sich das immer wieder erfahrene Ausgeliefertsein an eine (die gleiche) übermächtige und grausam unterdrückende Staatsmacht eingefressen. Eine Geschichte eines erfolgreichen Widerstandes gegen diese Staatsmacht gibt es so gut wie nicht; es gibt nur eine Geschichte des geschickten Ausweichens, des heimlichen Ungehorsams und der solidarischen Hilfe untereinander bei diesem heimlichen Ungehorsam. Warum sollte und mit welchem Recht könnte ein Ukrainer einen Russen dafür ablehnen und hassen, dass er nicht versucht, seinen Staat und „seinen“ Präsidenten an diesem grauenhaften Krieg durch (gefährlichen, potentiell selbstmörderischen) Widerstand zu hindern? Er würde ihm vorwerfen, dass er das nicht getan hat, was man selbst und das eigene Volk Jahrhunderte hindurch auch nicht getan haben. Wird klar, dass das russische Gegenüber nicht zu den 20 bis 25 Prozent (so der Soziologe G. Judin) brutaler und aggressiver Nationalisten gehört, deren einziges Sehnen und Trachten das russische Imperium und sein Wachsen ist – Russlands Grenzen enden nirgendwo, so Putin –, vereint das gemeinsame Schicksal: Noch haben Russen und Ukrainer diese gemeinsame Geschichte der Flucht in den heimlichen Ungehorsams.

Wenn es diese Gegenwart der kleinen Freundschaften zwischen Ukrainern und Russen (nicht nur im geschützten Raum der Emigration) gibt, gibt es dann auch eine friedvolle Zukunft? Zwischen der schon sichtbaren anderen Ukraine und einem anderen Russland: Vielleicht, wenn nicht gar mehr als nur vielleicht. Solange freilich die nach imperialistischen Lorbeeren lechzenden russischen Eliten die Geschicke des Landes bestimmen, sicherlich nicht; da ist dann nur die Frage, ob es für dieses Russland eine Zukunft gibt. Und nach einem anderen Russland sieht es ja leider nicht aus. Freilich: Alle großen Änderungen in Russland, von der Februar-Revolution mit der Abdankung des Zaren bis hin zur Auflösung der UdSSR 1991, kamen völlig unerwartet und überraschend. Wer weiß?

 

Alexander Blankenagel ist Seniorprofessor für Öffentliches Recht, Russisches Recht und Rechtsvergleichung an der Humboldt-Universität zu Berlin