Prosit!
Harry Walter, Künstler und Autor, ist gestorben. Von Januar 2016 bis Dezember 2017 hat er im Merkur seine monatliche Schlusskolumne mit Fotolektüren veröffentlicht, die 2022 beim Schlaufen Verlag unter dem Titel „Bilder knistern“ gesammelt erschien. Wir veröffentlichen zum Tod Harry Walters das Nachwort, das Christian Demand für den Band verfasst hat.
Harry Walters Fotominiaturen erschienen ursprünglich jede für sich und zugleich fest eingefügt in die Heftarchitektur des Merkur. Über zwei Jahrgänge hinweg markierten sie als Schlusskolumne der Zeitschrift jeden Monat das Ende eines anspruchsvollen Lektüreparcours von gut hundert eng bedruckten Seiten. Die Rückmeldungen, die die Redaktion damals in ungewohnt hoher Zahl erreichten, legen nahe, dass nicht wenige Leserinnen und Leser das Signal genau umgekehrt verstanden: Sie stürzten sich gleich als erstes auf Harrys Kolumne. Und auch ich habe die neuen Ausgaben, sobald sie frisch aus der Druckerei in der Redaktion angekommen waren, seinerzeit regelmäßig von hinten nach vorn durchblättert.
Natürlich hatte das mit der besonderen Prägnanz, dem Sprachwitz und der Zugänglichkeit der Texte zu tun, die in aller Regel nicht nur die bei weitem kürzesten, sondern zugleich die einzigen im Heft waren, die neben einem intellektuellen Vergnügen auch ein visuelles Erlebnis boten. (Dass die Fotos aus Kostengründen ausschließlich schwarz/weiß gedruckt werden konnten, Farbwerte also grundsätzlich unter den Tisch fallen mussten, war einerseits misslich, sorgte andererseits aber auch dafür, dass die Text-Bild-Strecke im eindeutig typografisch dominierten Gesamtbild der Zeitschrift nicht als Fremdkörper wahrgenommen wurde.) Der eigentliche Reiz der Reihe beruhte allerdings auf der sich mit jeder neuen Folge steigernden Lust an einem hermeneutischen Rätselspiel, das denkbar simplen Regeln folgte, und doch regelmäßig die komplexesten und überraschendsten Konstellationen hervorbrachte.
Die Grundidee für das Projekt entwickelte Harry – dessen künstlerische Arbeiten und Essays ich kannte und schätzte, mit dem ich aber noch nie zusammengearbeitet hatte – im Lauf einer intensiven Mailkorrespondenz, in deren Verlauf wir feststellten, dass uns eine tief eingewachsene Abneigung gegen intellektuelle Feldherrnhügel-Publizistik verbindet, also ein Schreiben, bei dem die eigene Position mit großer Geste rechthaberisch ausbuchstabiert wird. Als ich ihn daraufhin kurzerhand fragte, ob er sich denn vorstellen könne, ein Prosa-Ultrakurzformat für den Merkur zu entwickeln, das den Paternalismus und die unproduktive Monologizität dieses Genres bewusst unterläuft, ließ die Antwort nicht lange auf sich warten. „Tatsächlich interessieren mich ja von jeher ‚Suppenwürfeltexte‘“, schrieb er, „also Texte, die ins Wasser (des Rezipienten) getaucht werden müssen, um überhaupt genießbar zu werden. Da Wasser überall vorkommt, denke ich schon länger, könnte man sich als Schriftsteller eigentlich auf das Fabrizieren von Konzentraten konzentrieren. … Neuerdings interessiert mich das auch unter dem Aspekt, dass eine Generation heranwächst, die ohnehin nur noch in Kleinformaten schriftlich kommuniziert und denkt: SMS, What`s App etc. Man müsste den Spieß umdrehen und zeigen, dass solche Kurzformen nicht nur trivial und dispersiv, sondern durchaus auch ‚dicht‘ sein können. – Ich gehe ja generell davon aus, dass die Literatur (oder die Schriftkultur schlechthin) sich in Zukunft darauf beschränken muss, nur noch ‚Erzählkerne‘ (oder ‚Gedankenkerne‘) zu produzieren. Das Erzählen selbst (die notwendige Verwässerung oder Humanisierung) wird mündlich erfolgen oder den sozialen Medien überlassen.“
Davon, dass Bilder dabei eine Rolle spielen könnten, war zu diesem Zeitpunkt noch keine Rede – Harry, der sich gerade zum wiederholten Mal mit großer Begeisterung mit Stanislaw Lem beschäftigte, dachte zunächst an eine Serie von „Briefen aus der Zukunft“. Erst einige Wochen später eröffnete er mir, dass er mit dem Gedanken spiele, private Alltagsfotos aus der Ära der analogen Fotografie zu beschreiben und zu kommentieren, das allerdings so ernsthaft und akribisch, wie man es sonst nur bei dokumentarisch oder künstlerisch bedeutsamen Aufnahmen der Mühe für wert hält. Dabei habe er insbesondere solche Bilder im Sinn, bei denen mangels entsprechender Hintergrundinformationen „der Erzählfaden gerissen“ ist, deren genauer motivischer Gehalt sich also nicht mehr ohne weiteres erschließt. Geeignete „Fundstücke aus vergangenen privaten Welten“ aufzutreiben, versicherte er, sei kein Problem. Schließlich verfüge er über eine umfangreiche, über Jahrzehnte gewachsene Sammlung von Papierabzügen aus Familienalben, Schenkungen aus dem Freundes- und Bekanntenkreis, Nachlässen, Zufallsfunden und Auktionskäufen. Das klang vielversprechend, wenn auch noch reichlich vage.
Einige Wochen vor dem geplantem Start der Kolumne fand ich dann im Redaktionspostfach eine Mail von Harry vor, der eine Datei mit fünf fertig durchgearbeiteten Texten anhing. Der Ton des begleitenden Anschreibens war vorsichtig optimistisch, mit Betonung auf vorsichtig: In das Geständnis, dass ihn die Realisierung „endlos Zeit und Schweiß gekostet“ habe und er noch immer keine Vorstellung davon habe, wie sich die Reihe weiterentwickeln würde, hatte er vorsorglich die salvatorische Klausel eingearbeitet, dass er gewillt sei, seine Autorenehre im Zweifelsfall zurückzustellen und klaglos hinzunehmen, sollten wir uns nach der Lektüre dafür entscheiden, die Texte lieber doch nicht zu veröffentlichen. Schon das erste Stück mit dem Titel Prosit! zeigte das erstaunliche Potential der von Harry entwickelten Versuchsanordnung. Ihr Witz bestand vor allem darin, den jedermann vertrauten, detektivischen Drang zur Enträtselung von Bildern mit dem nicht weniger urwüchsigen, aber geradewegs entgegengesetzten Impuls zu ihrer mythomanen Verrätselung kurzzuschließen.
Wie auch bei den meisten anderen Aufnahmen der Serie ist die Szene auf dem Prosit!-Foto zunächst problemlos identifizierbar: Ein beschwingt um eine Kaffeetafel versammeltes Damenkränzchen lässt sich von der Kamera ablichten. Allerdings ist völlig unklar, wer die Aufnahme wann und wo angefertigt hat. Da man also nur rätseln kann, um wen genau es sich bei den Anwesenden handeln könnte, aus welchem konkreten Anlass sie zusammengekommen sind und in welcher Beziehung sie darüber hinaus zueinander stehen, sucht man das Bild unwillkürlich nach Indizien ab, anhand derer sich Fragen wie diese klären lassen könnten. Es finden sich in der Tat ein paar mehr oder weniger ergiebige Hinweise – Frisuren, Kleidung, Gesten, Gerätschaften, doch die Leerstellen erweisen sich letztlich als so massiv, dass die Suchbewegung allmählich und ganz von selbst einen spekulativen Drall entwickelt: Die Bilder, erklärt Harry, „füllen sich auf mit allem, was die Neugier an sie heranträgt“, bis sie schließlich „zu knistern anfangen“.
Dass hier tatsächlich ein verlässlicher Automatismus vorliegt, bei dem dem Autor nur die Rolle eines Mediums zukommt, darf bezweifelt werden – Neugier allein schlägt schließlich keine Funken. Bilder so zum Knistern zu bringen, dass sich das Hinhören lohnt, das führen die Texte eindrucksvoll vor, ist eine Kunst. In Harrys Fall ruht diese Kunst maßgeblich auf dem intelligenten Umgang mit der Spannung von Gegensätzen. Das beginnt schon bei der Auswahl der Motive, die einerseits reichlich unspektakulär, ja geradezu belanglos und austauschbar wirken, zugleich aber eben doch anziehend und erratisch genug, um einen starken hermeneutischen Sog zu erzeugen. Es setzt sich fort bei der eigenwilligen Kalibrierung der Beobachterperspektive, die einerseits die Medialität der Fotografie stets mitreflektiert, während sie andererseits ermöglicht, sich den Bildern und dem darauf festgehaltenen privaten Leben empathisch und distanziert zugleich zuzuwenden und so das Befremdliche und Verstörende der Alltagsposen und -szenen ebenso in den Blick zu nehmen wie das selbstverständlich Vertraute. Ebenso bemerkenswert ist schließlich, wie es Harry gelungen ist, die Texte inhaltlich wie sprachlich extrem zu verdichten und sie dabei doch zugleich beiläufig improvisiert und jederzeit revidierbar anmuten zu lassen.
Eingestellt wurde die Reihe seinerzeit übrigens einvernehmlich, und zwar nicht etwa, weil dem Autor plötzlich nichts mehr eingefallen oder die Redaktion der Texte überdrüssig geworden wäre. Nach 24 Folgen waren sich beide Seiten einfach nur einig, dass die Gefahr groß geworden wäre, dass die Kunst bei der nächsten Runde in routinierte artistische Manier umschlagen und zu einem bloßen Kunststück werden könnte. Weil genau das nicht passiert ist, haben Harry Walters Fotominiaturen bis heute keine Patina angesetzt. Man liest sie, als wären sie gerade erst erschienen. Dass sie nun endlich alle zusammen in einem Band zusammengefasst sind, ist ein großes Glück.