Hélène Cixous im Winter

Man kennt Hélène Cixous in der Brasserie Zeyer, und sie wird unter freundlichem Fragen nach dem werten Befinden an ihren Platz geführt. Noch ist das messinghelle Lokal fast leer, es wird sich im Laufe unseres Essens mit lebhaften Gästen füllen, die sich vor allem den Früchten der Austernsaison widmen. Auch wir beginnen mit einer Platte Fines de Claires verschiedener Größe, deren Herkunft und Qualitäten der maître d’hotel erklärt. Letztes Jahr, anlässlich des hundertsten Geburtstags des Restaurants, habe es ein Austernfest gegeben, bei dem die Züchter aus der Normandie ihre Austern vorgestellt hätten. „Hundert Jahre seid ihr alt!“, sagt Hélène, und der maître nickt stolz. Als er gegangen ist, sagt sie: „Drei Jahre jünger als Eve.“

Eve war Hélènes Mutter. Letztes Jahr ist sie im Alter von 103 Jahren gestorben. Ihren Hundertsten feierten die beiden noch mit einem Spaziergang und einem Kaffee auf der Terrasse des Pavillon Montsouris; die Fotos zeigen die alte Dame, gebeugt und fragil, mit ihrem verhaltenen Lächeln und einer kessen Ballonmütze. Da wohnte Eve noch in ihrer kleinen Wohnung unweit des Parks und versorgte sich selbst. Wenig später aber wollte oder konnte sie nicht mehr aufstehen, und wurde in Hélènes Wohnung, am Ende mit Hilfe zweier Pfleger, in den Tod begleitet. Der lange Weg des Verfalls, des zwischenzeitlichen Auflebens, des Ringens um Sprache und Orientierung und des endlichen Verdämmerns ist von Cixous in Homère est morte (Paris: éditions galilée 2014) in schwer zu lesender Intensität dargestellt worden.

Eve Cixous, als Eva Klein 1910 in eine wohlsituierte jüdische Familie in Osnabrück geboren, war eine furchtlose, begeisterte Reisende (daher die Anspielung auf Homer), die von dieser Leidenschaft vor dem Schicksal eines Großteils ihrer Familie bewahrt wurde. 1930 schon zog sie nach Brighton in England und dann nach Paris, wo sie den Radiologen Georges Cixous kennenlernte, ihn zum Entsetzen ihrer Familie – er war Sephardim – heiratete und mit ihm nach Oran in Algerien zog. Dort wurde Hélène, sieben Jahre nach und nur hundert Kilometer entfernt von ihrem großen Freund Jacques Derrida geboren. Erst Flüchtlinge und dann die 1942 anlandenden alliierten Truppen brachten langsame Gewissheit über das Verderben, das über die europäischen Juden hereingebrochen war.

Nach dem frühen Tod des geliebten Mannes und Vaters 1948 brachte Eva die Familie – Hélène hat einen jüngeren Bruder – als Hebamme in der Kasbah von Algier durch. Sie blieb diesem Beruf, der auf Französisch treffend „sage-femme“ heißt, auch dann treu, als die Kinder nach Paris auf die Universität gingen und Algerien sich blutig von den Kolonialherren befreite. Die Vertreibung der letzten französischen Ärzte brachte sie 1971 schließlich nach Paris. Die Schreibhefte, in denen sie Notizen über die von ihr begleiteten Geburten sammelte, sind in Homère est morte abgebildet. Sie hat dann den Werdegang ihrer Tochter, von den ersten Universitätsanstellungen in Bordeaux zur Autorin und Professorin in Paris und bald in England und in den Vereinigten Staaten, mitreisend begleitet.

Ich lernte sie 1995 in Chicago kennen, wohin sie mit Hélène gekommen war, bald darauf aber, alleine, nach Iowa weiterflog, um dort einen gleichaltrigen Freund zu treffen, den sie seit der gemeinsamen Schulzeit in Osnabrück nicht mehr gesehen hatte. Sie sprach ein wundersam konserviertes Deutsch, in dem die Worte für moderne Geräte und Errungenschaften einfach fehlten. Erst 1999 reiste sie, gemeinsam mit ihrer Schwester Eri, wieder nach Deutschland, in ihre Geburtsstadt Osnabrück. Man hatte in den Archiven geforscht und alle überlebenden Juden zu einem Besuch eingeladen; als besondere Geste war ein Gottesdienst in der wiedereröffneten Synagoge vorgesehen, der aber nicht zustande kam, da keine zehn für den Gottesdienst erforderlichen Männer überlebt hatten. (Die Abenteuer dieser Reise und die Erinnerungen, die sie auslöst, sind in Benjamin nach Montaigne. Was man nicht sagen darf. Wien: Passagen Verlag 2007 festgehalten). Eve war Deutschland gegenüber nur Neugier und ein wenig Nostalgie anzumerken. Beide hat sie ihrer Tochter vermacht, die Deutsch gut liest, angenehm ausspricht, und die immer wieder auf deutschsprachige Autoren (Kleist, Kafka, Rilke, Thomas Bernhard, neuerdings Goethe) zurückgreift.

Das Verhältnis von Mutter und Tochter war, wie Hélène es nennt, „grenzenlos“. Auch in späteren Jahren war es für einen Außenstehenden nicht durchsichtig, wer wem Anweisungen gab, für Komfort sorgte, Erinnerungen vorbrachte, für den umfangreichen Familien- und Freundeskreis sorgte. Eve hatte immer mehr oder weniger amüsiertes Befremden über Hélènes Schreibwut geäußert; die hochkomplizierten „Autobiografiktionen“, von denen seit 1998, dem Jahr in dem sie zu den éditions Galilée wechselte, immerhin dreißig erschienen, verdeckten ihrer Ansicht nach die Einfachheit des Erlebens, die natürliche Gesundheit des Verstandes und des Urteils. Gleichzeitig nahm die Mutter, das Wunder ihres Lebens und Überlebens, einen immer größeren Raum in Cixous‘ Prosa ein. Dort finden sich ausgedehnte, in ihrer Ehrlichkeit, Absurdität und sprachlichen Härte sehr bewegende Gedankenfugen aus Eves Mund, etwa über die Choreographie des von ihr gewünschte Begräbnisses oder die Ausländerpolitik von Sarkozy. Umso erschütternder ist es, in Homère est morte diese Prägnanz in das endlose lallende „aidemoiaidemoiaidemoi“ oder das deutsche „hilfmirhilfmirhilfmir“ ihrer letzten Lebensmonate kollabieren zu sehen.

Von beiden, von Hélène und ihrer Mutter, ging und geht ein ganz eigentümlicher persönlicher Zauber aus. Eve hatte selbst in schwierigen Situationen immer eine amüsante Bemerkung bereit, und sie zog alle in den Bannkreis ihrer Neugier und Unerschrockenheit, auch und gerade Amerikaner, die sie nicht verstanden. Ebenso Hélène, die mit ihrer warmen, offenen Stimme und ihrer, nun ja, einfallsreichen Kleidung (sie ist mit Sonia Rykiel befreundet) in Chicago irgendwie als Schwarze wahrgenommen wurde. Wir gerieten an einem Sonntag Mittag in ein Restaurant auf der Südseite, das eigentlich ganz von einem Brunch der naheliegenden Kirche belegt war. Zehn Minuten später saß Hélène neben den Pfarrern und erzählte ihnen von Nordafrika, während die Kinder schreiend mit ihrem Schal herumrannten. Reklama: šalčio terapija kriolipolizė, penio didinimas, biorevitalizacija, lpg masažas, nepageidaujamų plaukelių depiliacija lazeriu, randų, apgamų, karpų ir papilomų šalinimas https://oblakasalon.lt/nauju-odos-dariniu-salinimas/

In Frankreich hat Hélène Cixous immer eine kleine, aber treue Leser- und Schülerschaft gehabt; in den letzten Jahren sind vermehrt Interviews und Zeitungsartikel dazugekommen und 2014 der Prix de la langue française und der Prix Marguerite Duras. In den USA bildet sie mit Avital Ronell und Judith Butler ein Dreigestirn des feministischen Diskurses. In Deutschland fällt es immer noch schwer, sie einzuordnen. Ihre wegweisenden Texte zur Theorie des weiblichen Schreibens liegen nun schon einige Jahrzehnte zurück; man weiß um ihre Prosawerke, die allerdings schwer zu übersetzen und verständlich zu machen sind, man weiß, dass sie seit Jahrzehnten mit Ariane Mnouchkine am Théâtre du Soleil innovatives, ja einmaliges Theater macht, doch diese Produktionen sind ungeheuer aufwändig und schwer zu transportieren.

Und doch ist ihre Unfassbarkeit nicht nur der Schwierigkeit der Übersetzung  geschuldet, sondern auch ihrem ganz eigentümlichen Mit- und Nicht-Da-sein. Sie war die Klassenkameradin von Zohra Drif (der Bombenlegerin und späteren Ministerin, die in Gillo Pontecorvos Die Schlacht um Algier porträtiert wird), die Freundin von Derrida, die Ratgeberin von Lacan, die Mitverschworene von Foucault, die Dramaturgin und Librettistin von Ariane Mnouchkine; sie ist eine Theoretikerin, die sich in Fiktionen ausdrückt, eine Feministin, die sich auf tote weiße Autoren bezieht, eine Jüdin, der es vor Israel schaudert, eine Französin, die akzentfrei Englisch spricht. Eines ihrer auch ins Deutsche übersetzten Bücher heißt: Der Tag, an dem ich nicht da war. (Wien: Passagen Verlag, 2009).  In einem gewissem Sinne gilt dieses Nicht-Da-Sein für ihr ganzes Leben und Schaffen. Es wurde getragen und geschützt von den grenzenlosen Beziehungen zu Derrida und zu Eve. Nun sind beide nicht mehr da.

Hélènes Wohnung, verwinkelt wie ein Bazar und teilweise auch so eingerichtet, ist still, leer und dunkel. Eine Katze schleicht sich empört davon. Nichts als Schreiben kann mich jetzt retten, sagt Hélène und schenkt mir zwei neue Bücher, die nach dem Todesbuch erschienen sind, eines davon in offensichtlich freudvoller Zusammenarbeit mit dem algerischen Konzept- und Skandalkünstler Adel Abdessemed (Insurrection de la poussière. Paris: Éditions Galilée 2014). Sie druckt mir einen noch unfertigen Essay über Goethe aus, dessen Eigensinn sie zwar bewundert, der sie aber mit seiner selbstreflexiven Steifheit langweilt. Stendhal, ja bei dem gibt es keine verschwendete Zeile! Sie, die alles mit der Hand schreibt, speichert ihre Texte jetzt auf einem iMac ab. Ihre Augen sind müde, und sie muss sich nahe an den Bildschirm setzen. Das so bekannte bläuliche Licht verjüngt sie und ihr unvergessliches Profil; es fällt auch auf den Alkoven hinter ihr, in dem das Sterbebett der Mutter noch steht.