Author: Holger Schulze

Artikel Author: Holger Schulze

  • Prostitution. Ein Jahr mit den Goncourts (II)

    »Ein einziger Mann, ein Monsieur Wailly von der Illustration hat uns durch unsere Bücher genügend durchschaut, um zu behaupten, daß, wenn wir lieben, wir nur zusammen lieben und daß die Gesetze und Sitten für unsere phänomenale Dualität eine Ausnahme machen müssen.« (Bd. II, S. 173)

    Der zweite Band des Journals der Brüder Goncourt lässt sich ruhiger an. Es könnte scheinen, dass die doppelte Textpersona der protokollierenden Brüder nun ihren Stil gefunden hat. In den ersten sechs Jahren wurde vieles ausprobiert, die wütenden, misogynen, rassistischen, klassistischen Ausbrüche wurden ausgelebt und als Stilmerkmal dieser eben genau nicht bedacht abgewogenen Indiskretion etabliert; ein Stilmerkmal, das uns beiden widerstrebt. (mehr …)
  • Wir beginnen zu lesen. Ein Jahr mit den Goncourts (I)

     

    Das Tagebuch ist unsere allabendliche Beichte: die Beichte zweier in der Freude, der Arbeit, im Schmerz unzertrennlicher Leben; zweier zwillingshafter Denkweisen, zweier Geister, die im Kontakt mit Menschen und Dingen derart gleiche, identische, ununterscheidbare Eindrücke gewinnen, daß diese Beichte als die Offenbarungen eines einzigen Ichs und eines einzigen Selbst verstanden werden kann.

    (Vorwort von Edmond de Goncourt)

    Vor uns liegt ein kompakter, kleiner Karton mit über sieben Kilogramm Gewicht. Es braucht beherzte Griffe, geschärfte Brieföffner oder scharfe Fingernägel, um ihn aufzubrechen; erst die Klebeschichten, dann die Kartonagen. Nacheinander heben wir den Deckel ab, den Transportkarton, dann die letzte Schutzfolie. Wir beginnen im Beibuch zu blättern, von hinten her, wie üblich. Finden wir unsere Namen in der Subskribentenliste? Finden wir sie nicht? Habe ich meinen Eintrag darin so chiffriert, dass ich nun ratlos vor der Namensliste stehe wie vor der Eingabezeile eines Passworts, das mir nicht mehr einfällt? Ist mir mein Eintrag ganz lieb so wie er ist oder doch nun eher unangenehm? In der Liste finden sich Bekannte, Kollegen, erstaunlich wenige Namhafte. Wie wären diese Figuren wohl in den Tagebüchern beschrieben worden von den humble brothers? Wir fragen uns: Setzt die Subskribentenliste nicht kongenial den Klatschcharakter der Goncourt-Tagebücher fort? Was erfahren wir über diese Dutzende einzelner Menschen, die die 7000 Seiten zweier Männer des 19. Jahrhunderts in physischer Form ihr Eigen nennen wollen? (mehr …)