Wir beginnen zu lesen. Ein Jahr mit den Goncourts (I)

 

Das Tagebuch ist unsere allabendliche Beichte: die Beichte zweier in der Freude, der Arbeit, im Schmerz unzertrennlicher Leben; zweier zwillingshafter Denkweisen, zweier Geister, die im Kontakt mit Menschen und Dingen derart gleiche, identische, ununterscheidbare Eindrücke gewinnen, daß diese Beichte als die Offenbarungen eines einzigen Ichs und eines einzigen Selbst verstanden werden kann.

(Vorwort von Edmond de Goncourt)

Vor uns liegt ein kompakter, kleiner Karton mit über sieben Kilogramm Gewicht. Es braucht beherzte Griffe, geschärfte Brieföffner oder scharfe Fingernägel, um ihn aufzubrechen; erst die Klebeschichten, dann die Kartonagen. Nacheinander heben wir den Deckel ab, den Transportkarton, dann die letzte Schutzfolie. Wir beginnen im Beibuch zu blättern, von hinten her, wie üblich. Finden wir unsere Namen in der Subskribentenliste? Finden wir sie nicht? Habe ich meinen Eintrag darin so chiffriert, dass ich nun ratlos vor der Namensliste stehe wie vor der Eingabezeile eines Passworts, das mir nicht mehr einfällt? Ist mir mein Eintrag ganz lieb so wie er ist oder doch nun eher unangenehm? In der Liste finden sich Bekannte, Kollegen, erstaunlich wenige Namhafte. Wie wären diese Figuren wohl in den Tagebüchern beschrieben worden von den humble brothers? Wir fragen uns: Setzt die Subskribentenliste nicht kongenial den Klatschcharakter der Goncourt-Tagebücher fort? Was erfahren wir über diese Dutzende einzelner Menschen, die die 7000 Seiten zweier Männer des 19. Jahrhunderts in physischer Form ihr Eigen nennen wollen?

Wir haben unsere alten schwarzen Fräcke weggegeben und noch keine neuen nachmachen lassen, damit wir unmöglich weggehen können.
(Bd. I, S. 149)

Wir fangen also an zu lesen. Der eine von uns in raren Wachmomenten unter den üblichen Herbsterkältungen und -entzündungen im November, der andere in den zergliederten Stunden zwischen Lohnarbeit und Schlaf, Stichwörter und Seitenzahlen für später ins Notizbuch schreibend. Ich brauche eine Zeit, um meinen Lesefluss zu finden und mich in den Strom der wechselnden Themen, Situationen und Beobachtungen der Goncourts hineinzufinden. Ist es nicht immer so, wenn ich beginne, derart kaum überschaubare Textmengen zu lesen? Erinnerungen an die Lektüre aller Balzac-Romane, an die Tagebücher des Samuel Pepys, an Making of Americans von Gertrude Stein, an Johnsons Jahrestage, Oswald Eggers Die ganze Zeit oder E.M.Ciorans Gesamtwerk; Pynchons Gravity’s Rainbows.

Doch brauchen nicht auch die Autoren ihre Zeit, um sich in ihren Schreibfluss hineinzufinden? Beim Lesen scheint es mir, als suchten Edmond und Jules de Goncourt auf den ersten 30 Seiten, den ersten Tagesnotizen und wiedergefundenen Aufzeichnungen noch eher ihre Textpersona: Wer sind wir, wenn wir von unserem täglichen Leben erzählen? Wer erzählt wirklich, wenn zwei Herren schreiben? Von was wollen wir erzählen, wie indiskret, wie kolportagehaft, wie boshaft und lüstern, wie misanthrop und detailversessen? Es erinnert mich an die ersten Seiten einer ganz anderen, nicht weniger obsessiv-akribischen Alltagsmitschrift, fast 140 Jahre später: die ersten Versuche von Rainald Goetz auf letztlich 1.600 Seiten die Medien jener Monate und Jahre um 1989 mitzuschreiben. Auch er brauchte etwa 30 Seiten, um seine Auswahlprinzipien, seine Form der Textorganisation, seine Rolle als Autor darin zu finden: Wie kann ich rein formal diese einzelnen Sätze, Worte Phrasen, Bruchstücke notieren, welche Zeilenumbrüche, welche Seitenaufteilung, welche Interpunktion, welche Orthographie? Welche Textpersona nehme ich schließlich ein, wenn ich lediglich die sprachlichen Geschehnisse meiner Medienwelt (im Fall von Goetz) oder des gesellschaftlich-literarischen Lebens (im Fall der Goncourts) zu protokollieren mich anschicke? Wie ordne und bewerte ich diese Welt, indem ich bestimmte sprachliche Repertoires bevorzuge? Und schließlich: Wer schreibt hier überhaupt, wenn sowohl Edmond also auch sein acht Jahre jüngerer Bruder Jules de Goncourt als Autoren firmieren? Ich oder Wir?

Der alte Terrien, der im Paris den englischen Sportteil machte, war während der Schreckensherrschaft Kommandant auf der Fregatte La Vertu, die Verbrecher und Zuchthäusler nach Irland bringen sollte, und die an Bord eine kleine Guillotine aus Mahagoni hatte, um den Hühnern den Kopf abzutrennen.
(Bd. I, S. 112)

Das Tagebuch beginnt, auf einem Blatt vom revolutionären 14. Mai 1848, mit einem vereinzelten Ich: »Ich folgte diesem Aufmarsch von der Rue des Capucines bis zur Kammer der Nationalversammlung.« Laut einer späteren, handschriftlichen Anmerkung Edmonds ist dies die Aufzeichnung »meines Bruders zum 15. Mai, der damals noch am Collège Bourbon war und sich ›verdrückt‹ hatte« (Bd.I, S. 16) — Das hat etwas von einem Schülerstreich: von einem Hasen, dem Leser, und zwei Igeln namens Jules und Edmond. Die beiden Ichs schützen einander. Denn wenn es wirklich zwei Ichs gibt, ist Jules womöglich doch auf dem Collège geblieben; er kann behaupten, inzwischen nicht Louis Blanc, Barbès, Barbe-Rouges zugehört, sondern brav in der Mathestunde Gleichungen gelöst zu haben. Wenn es diese zwei Ichs gibt, in die sich das brüderliche Wir immer wieder auseinanderfaltet, dann vervielfacht sich folgerichtig auch das Geschehen. Ganz lakonisch wird vorweggenommen, was ästhetische Experimente der Moderne erst über 60 Jahre später unternahmen — als James Joyce etwa sich bemühte, im Ulysses den 16. Juni 1904 in Dublin vollständig zu erzählen aus allen denkbaren Perspektiven und in allen ihm zur Verfügung stehenden Stilvarianten. Auch er musste hierzu die Geschehnisse vervielfachen, die Zeitlinien aufsplitten, er dehnte die  Sprache und vermehrte die Subjekte und Gedankenströme. Auf genau diese Weise nähern sich Edmond und Jules der Revolution von 1848, derart erzählen sie die Metropole Paris aus verschiedenen Perspektiven und Stilvarianten. Oder wie Edmond de Goncourt im Vorwort zur Ausgabe 1887 schrieb: »die sich stets wandelnde Menschheit in ihrer augenblicklichen Wirklichkeit darzustellen.« Ganz unbescheiden gesagt: eine anthropologische Kasuistik.

Auch für die Goncourts ist das Tagebuch, der endlose, ungeordnete Reißzettel, ein offenes Spielfeld zum Ausprobieren von sprachlich und stilistisch Unerhörtem, von neuen Gedanken und Beobachtungsweisen. Ich erinnere mich etwa, wie  Georg Christoph Lichtenberg seine Reizüberflutung in der Metropole London des 18. Jahrhunderts sprachlich frappierend erzählt; ich erinnere mich auch, wie Samuel Pepys die Ödnis der täglichen Wiederholungen in Beruf und Familie ebenso eindringlich erzählt wie seine eigenen erotischen Grenzüberschreitungen, Langzeit-Affairen und kurzzeitige Fuckbuddies, die ebenso in zunehmend reizlose Wiederholungen münden im London des 17. Jahrhunderts. Das Nicht-Werk des Tagebuchs scheint quer durch die letzten Jahrhunderte Freiheiten der Inkonsistenz, der Sprunghaftigkeit, des Erratischen und Idiosynkratischen anzubieten, die erst viel später stilistisch anerkannt und kanonisiert werden.

»Ach! Wenn man nur einen Buchhalter für seine Räusche hätte!« (Bd.I, S. 41) Im Hintergrund läuft »Afterlife« von Arcade Fire.

Als das eigentliche Tagebuch der Goncourts im Dezember 1851 schließlich einsetzt, als die stilistischen Merkmale der Tagebucheinträge zunehmend beisammen und eingeführt sind, steht die Revolution von 1848 vor ihren Trümmern. Der Staatsstreich des Louis Bonaparte hat begonnen, und die Goncourts notieren, jetzt als ein gemeinsam die Augen aufreißendes, Details aufsaugendes Wir: »Eine der Gewehrpyramiden, die von diesen allzu tapferen Kriegern schlecht zusammengestellt worden war, fiel auf das Pflaster, als wir vorbeigingen.« (Bd. I, S. 24) Die verviefältigte Perspektive der protokollierenden Brüder ist etabliert.

Eine Perspektive, die die Kulturgeschichte ihres Alltags, auch ihres ganz persönlichen und zugleich professionellen, minutiös festhalten und aufbewahren will. Sie erzählen etwa eine Gerichtsverhandlung und Klagegeschichte rund um ihre neugegründete Zeitschrift Paris. Schon der Anlass: die Erzählung Voyage du no 43 de la rue Saint-Georges au no 1 de la rue Laffitte, »eine Wegbeschreibung im Stile Sternes von unserer Straße bis zum Büro der Zeitung — auf der wir auf phantasievolle Weise die Gewerbe, die Offizinen wunderlicher Produkte, die Händler und Händlerinnen von Bildern und Nippes, denen wir auf unserem Weg begegneten, Revue passieren ließen, darunter auch den Laden einer einst als Modell in den Malerateliers berühmten Frau« (Bd. I, S. 96).

Alle Beteiligten, alle institutionellen und menschlichen Akteure entblöden und entblößen sich hierbei in einem bestaunenswerten Ausmaß. Das Polizeipräsidium wollte »keine Literatur, die sich und andere berauscht.« (Bd. I, S. 123), es ist das romantische Vergehen (ebd.) —  Vom Staatsanwalt über den Polizipräsidenten bis zum Richter, vom Verteidiger bis zu den beiden Angeklagten ist der polemische und verleumderische Ursprung der Anklage klar. Es ist die übliche Anklage aufgrund eines unzüchtigen Textabdrucks, die schon den Zeitgenossen eher als alberne Posse erscheint. Es soll also ein Exempel statuiert werden, der Richter verhängt Zwei-, Dreijahresstrafen im Halbstundentakt. Gerettet werden die Goncourts nur von einem eher bemitleidenswert pflichtschuldigen, deutlich mittelmäßigen Verteidiger. Ein Freispruch aus Mitleid, der den Missbrauch und die Dysfunktion des Rechtssystems umso deutlicher ausstellt.

Ich muß sagen, meine Herren, daß ich mit Freuden sehe, daß junge Leute, die wie Sie finanziell unabhängig sind, sich aus Freude den Geisteswissenschaften widmen.
(Monsieur Latour-Dumoulin, Beamter des Polizeipräsidiums, zum Stand der Affäre Goncourt, Bd. I, S. 104)

Eine weitere, beeindruckend offenherzige Geschichte erzählen die Goncourts um eine Angebetete von Jules de Goncourt im Sommer 1855. Auf vielen Seiten zeichnen die Brüder das Flirten, das Umeinanderherschleichen, die tragischen Versuche der Annäherungen, die Beschämung, die Verleugnung nach. Und schließlich das Einanderverschlingen und -schneiden, das Wiederannähern und die lakonische Lösung voneinander.

—  Die Seebäder sind mir verboten.
— Von wem, Madame?
—  Von den Ärzten; ja, Monsieur, ich habe eine düstere Krankheit.
— Den Spleen?
— Den Spleen, wenn Sie so wollen… Ich langweile mich.
(Bd. I, S. 223)

Die Langeweile nach 1848 (»die allgegenwärtige und stagnierende Gleichgültigkeit, die Beschäftigungslosigkeit der Gedanken und Bestrebungen«, Bd. I, S. 259): »Du siehst aus wie ein Kind, das ein Butterbrot anschaut.« (Bd. I, S. 176) Dabei befindet sich alles in Umwälzung. Man flaniert über die neuen Boulevards, fährt Omnibus (ein öffentliches Fuhrwerk), saugt Detail um Detail auf, die Stoffe der Kleidung, die Gesichter der Passanten und Passagiere, Beschreibungsorgien:

Alter Herr, den breiten Kragen umgeschlagen wie ein Kind, chamoisfarbenes Halstuch mit rosa und grünen Sträußen, gewaltiger Knoten. Darunter schaut eine Uhrkette hervor, die sich in der Außentasche eines flaschengrünen Gehrocks verliert. In der Hand einen Rohrstock, der in einem Rabenschnabel aus Horn endet. Auf den Knien einen zusammengelegten Mantel, korinthenfarben. (Bd. I, S. 51, »Porträts im Omnibus«)

Neue Schreibformen tun Not. Der Wunsch nach einer Zeitung, die man so umblättern kann, wie andere Leute über das Trottoir schreiten, um dann all das aufzulesen, das ähnlich schnell wie eine Zeitungsseite wieder verschwindet, in Texten, in Zeichnungen, Anrufungen. Geschichtsschreibung auf Abrisszetteln, écriture photographique wie die knapp hingestanzten Daten auf einer endlosen Bonrolle, oder aber, weiterer Anachronismus, Jack Kerouacs long scroll. In einem Nachruf auf den von ihnen bewunderten Zeichner Henri Valentin formulierten die Goncourts indirekt ihr eigenes Programm:

Wir sagten zu ihm, daß man wirklich schöne Illustrationen von Paris machen müßte: Bilder etwa vom Marille, vom Leichenschauhaus, von einer Kneipe bei den Hallen etc.; gewissermaßen ein Bild des Vergnügen und des Leids malen, auf allen Etagen und in allen Vierteln; aber gut gemacht, wirklichkeitsnah und nicht modisch, und das später einmal als Beleg dienen könnte. (Bd. I, S. 249)

Die Zeichnung Valentins, so schreiben die Goncourts, sei nicht modisch, aber sie erfasse doch die Mode:

Ein Teil seines Talents beruhte darauf, daß seine Aufmachungen stets auf der Höhe der Zeit waren; er paßte seine Frauengestalten der jeweils zeitgemäßen Mode an; die Art des Ärmelaufschlags, des feinen weißen Kragens, des Kleides, er sah genau hin und nahm alles auf. Mit erstaunlicher Aktualität. (Bd. I, S. 250)

Dass der Zeichner Valentin von den Herausgebern der Pariser Zeitschrift Illustration verkannt wird, obwohl sie wie füreinander bestimmt sind, ist die tragische Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen; von Herder hat es den abfälligen Ausdruck Lumpen für diese Art des neuen Journalismus in Druckform gegeben (und hier ist es auch noch diese Hybridform aus Text und Bild). Fast scheint es, als würden Valentin und andere Protagonisten dieser Ästhetik in ihrem abfälligen Ton, in dem sie ihr Schaffen oft beschreiben, das klassische Meisterwerk doch noch einmal gelten lassen (das sie insgeheim doch längst untergraben hatten). Etwa, wenn die Goncourts Gavarnis Äußerungen über Delacroix zitieren: »Er ist ein Mann, der sich ganz dem Flüchtigen der Kunst gewidmet hat, und ich finde, das Flüchtige war ihm gegenüber undankbar!« (Bd. I, S. 244)

Er [Valentin] erwiderte uns, daß er sehr wohl daran gedacht habe; daß er nur wirklichkeitsnahe Studien machen wollte; daß er häufig auf den Straßen zeichnete; daß es nichts Besseres gebe; daß er der Illustration vorgeschlagen habe, ihm eine Seite zu geben, um solche Pariser Szenen einzufangen, aber daß sie so dumm seien und es nicht wollten. ›Ich habe nichts vollbracht‹, fügte er hinzu. ›Aber eines Tages werde ich solch große Szenen einfangen, und dann hätte ich etwas vollbracht.‹
(Bd. I, S. 249)

Große Szenen aus Skizze und Boulevard. Man kommt nicht umhin, die Goncourts für die Verve zu lieben, mit der sie sich zu dieser Form des Flüchtigen, kaum Geordneten, des Hybriden, bekennen:

Und bei dieser Arbeit, die ganz unter dem Eindruck der noch frischen Erinnerung zuerst einmal lebensnah sein wollte, in dieser rasch zu Papier gebrachten und nicht immer nochmals redigierten Arbeit — mit auf gut Glück gewählter Syntax, komme was da wolle, und mit Worten ohne Passierschein [«le mot qui n’a pas de passeport»] — haben wir stets den Satz und den Ausdruck bevorzugt, der den Kern unserer Empfindungen und die Kühnheit unserer Ideen am wenigsten abschwächte und akademisierte.
(Vorwort, Bd. I, S. 8)

 

Holger Schulze ist Principal Investigator am Sound Studies Lab der HU Berlin. Im Internet bekannt als Mediumflow. Dominique Silvestris Bilder & Texte findet man schon seit langem unter Die Brüder Goncourt. Besonders empfohlen: Goncourt’s Blog.

Die erste vollständige deutsche Übersetzung der Tagebücher von Edmond und Jules de Goncourt ist in diesem Jahr im Verlag Haffmans bei Zweitausendeins erschienen.