Interview mit Teju Cole
Das Buch „Open City“ des 1975 geborenen nigerianisch-amerikanischen Autors Teju Cole war in den USA gewiss eines der bestbesprochenen Romandebüts der vergangenen Jahre. Julius, der zur Introspektion neigende Protagonist des Romans, arbeitet an seiner Dissertation in Psychiatrie. Vor allem aber ist er, ein Flaneur der Gegenwart, auf den Straßen New Yorks unterwegs. Die Geschichten, die ihm die unterschiedlichsten Leute erzählen, fügen sich zu einem Mosaik der Stadt, die im Jahr 2006 noch unter den Nachwirkungen von 9/11 leidet. Das einzige Kapitel, das nicht in New York – sondern in Brüssel – spielt, haben wir im Augustheft abgedruckt, in der deutschen Übersetzung von Christine Richter-Nilsson, die unlängst bei Suhrkamp erschienen ist.
Mr. Cole, Sie sind als Schriftsteller erst vergleichsweise spät hervorgetreten. Das hat sicher damit zu tun, dass Sie nicht nur ein Medizinstudium, sondern auch eine Universitätskarriere als Kunsthistoriker hinter sich haben.
Das mit der Verspätung stimmt, jedenfalls wenn man es mit einer genau gleichaltrigen Autorin wie Zadie Smith vergleicht. Ihre Karriere hat zehn Jahre vor meiner begonnen. Das hat ein wenig damit zu tun, dass ich den Status „Schriftsteller“ zwar schätze und mich freue, ihn erreicht zu haben – so richtig darauf abgesehen hatte ich es aber nicht. Es gab keinen unbedingten Ehrgeiz, dass ich bis da und dahin mein erstes Buch veröffentlicht haben muss. Aus irgendeinem Grund dachte ich, dass eine Veröffentlichung so unwahrscheinlich wäre, dass ich nicht recht sah, warum ich mich um diesen Teil der Sache so sehr bemühen sollte. Also habe ich mich aufs Schreiben selbst konzentriert, gedacht, dass ich vielleicht im Netz publiziere. Wenn ich es wirklich darauf angelegt hätte, hätte ich wohl „Creative Writing“ studiert. Ich war vom Gang der Dinge dann schlicht überrascht.
Das Kunstgeschichtsstudium war als Backup gedacht. Ich wollte Professor für Kunstgeschichte werden. Nun hat mich aber das Bard College als Autor und Lehrer für Creative Writing engagiert – also unterrichte ich Literatur, aber daneben auch, wie eigentlich geplant, Kunstgeschichte. Nur dass es jetzt andersherum gelaufen ist als gedacht. Und ich glaube, es macht auch einen gewissen Unterschied, dass ich Literatur als Praktiker und Amateur unterrichte. Nabokov schreibt, dass Schriftsteller, die Literatur unterrichten, so etwas sind wie Elefanten, die Zoologie lehren sollen. Idealerweise wissen wir nichts über das, was wir tun. Aber natürlich wissen wir etwas. Wir sind neugierig auf das, was vor uns geschrieben wurde. Und ich glaube, dass Schreiben sich immer auf Geschriebenes bezieht. Man ist als Autor im Gespräch mit der Vergangenheit. So hat man ein zwar unsystematisches Wissen, das aber doch ein Expertenwissen ist.
Da muss man unweigerlich an W.G. Sebald denken, mit dessen Texten „Open City“ oft verglichen wird – und über den Sie ja auch mehrfach geschrieben haben. Er hatte ja auch eine Doppelkarriere als Akademiker und Schriftsteller.
Gegen Sebald bin ich als literarischer Spätzünder noch ein harmloser Fall. Mein Verhältnis zu seinen Büchern ist allerdings beinahe kurios. Ich habe ihn erst zu lesen begonnen, als alle immer sagten, wie sehr sie das, was ich schreibe, an ihn erinnert. Wenn mich nicht alles täuscht, hatte ich nichts von ihm gelesen, bevor ich anfing, Open City zu schreiben. Er ist also nicht dieser große, wichtige Einfluss. Ich will mich damit gar nicht von ihm absetzen – ich liebe seine Werke in der Tat sehr, empfinde es aber eher als Wahlverwandtschaft. Dieses Gefühl der Nähe hat auch mit seinen recht weit auseinanderliegenden Interessen zu tun, da erkenne ich mich durchaus wieder: So interessiert mich eben nicht nur die Literatur, sondern auch die Naturwissenschaften, die Medizin, aber auch die historische Medizinliteratur, insbesondere Thomas Browne, aber auch die Rolle von Konstellationen und Koinzidenzen. Bei der Sebald-Lektüre habe ich eher so etwas wie Bestätigung empfunden. Aber natürlich könnte vieles, über das ich in Open City schreibe, bei Sebald überhaupt nicht vorkommen, schon weil sein biografischer Erfahrungshorizont ein ganz anderer war.
Was an „Open City“ auffällt, ist der sehr eigene Ton, den Sie von Anfang bis Ende durchhalten. So richtig merkt man das erst, wenn man einen Schritt zurücktritt und feststellt, wie heterogen der Roman eigentlich ist, wie viele verschiedene Geschichten – und Schichten – darin liegen. Das wird von der Stimme des Ich-Erzählers keineswegs homogenisiert, aber doch so elegant aneinander gefügt, dass man die ganze Bandbreite des Materials erst im Rückblick bemerkt. In der Regel ist es ja so, dass eine solche Einheitlichkeit des Tons hart erarbeitet ist. Oder war das bei Ihnen anders, war dieser Ton von Anfang an da?
Nein, keineswegs. Das war in der Tat das Schwierigste beim Schreiben des Buches. Die Story hatte ich schon recht früh, ich wusste, dass es um diesen Zustand nach 9/11, um die Nachwirkungen dieses Ereignisses und dieser Verluste ging. Wir haben ja einfach weitergelebt, aber es blieb etwas Unabgegoltenes, Unabgeltbares: Wir leben hier unser Leben – und gleich da drüben sind mehr als 3000 Menschen gestorben, die unsere Nachbarn waren. Das Buch sollte eine fiktionale Antwort auf diesen Zustand sein – mir schien aber, dass er sich nur auf indirekte Weise schildern ließ. Ich wollte eine Stimme, die auf dieses unaufgearbeitete Fortdauern der Vergangenheit fokussiert sein konnte. Eine Figur, die die Tatsache reflektiert, dass wir nicht nur die Toten des Jahrs 2001 betrauern, sondern die Erkenntnis, dass wir immer auf Schichten von Toten, von Traumata und Begrabenem leben, dass viele Menschen von Verwundungen getroffen sind, mit denen sie leben müssen.
Ich habe drei Jahre an dem Buch geschrieben. Ich hatte all diese Geschichten, teils gefunden, teils erfunden, wusste: der japanische Professor, die Freiheitsstatue, Gustav Mahler, das gehört hinein, anderes nicht, das Panorama existierte – aber ich brauchte dennoch drei Jahre, weil ich wusste, dass ich diese Stimme, diesen Rhythmus absolut perfekt treffen musste, damit das Buch als Ganzes funktioniert. Ich habe viele Essays, Erinnerungstexte, Non-Fiction geschrieben. Da herrscht aber ein etwas anderer Ton, lebendiger, funkelnder, ein größerer Grad von Bewusstheit. Hier gibt es dagegen viel Gespanntheit, Ausweichbewegungen, dafür musste ich anders schreiben.
Was die Heterogenität des Materials angeht, fühlte ich mich an eine scheinbar kaum damit verbundene Erfahrung erinnert. Ich habe vor einigen Jahren ein paar Monate im Metropolitan Museum gearbeitet, und zwar in der kuratorischen Abteilung. Da stellen sich Fragen, die bei näherem Hinsehen auch für einen Romanautor interessant sind: Wie stellt man eine Ausstellung heterogener Objekte zusammen? Man braucht ein Gefühl dafür, was zusammenpasst, welche Gegenstände miteinander funktionieren. Im Metropolitan ist da noch sehr viel Ratio und Systematik dabei. Wenn man aber zu den Wunderkammern zurückgeht, dann hat man da die unterschiedlichsten Dinge: ein Schädel, eine Antilope, ein Globus, rare Edelsteine, Seemuscheln, antike Manuskripte in diesen Kabinetten. Was mich dabei immer verblüfft: Es passt, alles scheint genau so in diesen Raum zu gehören – weil es eine gemeinsame Sensibilität ist, die diese Objekte ausgewählt und zusammengestellt hat. Mein Zugang zu meinem Roman war ganz ähnlich: Ich fragte mich: Was gehört hinein? Ich hatte weitere Geschichten, aber mir war klar, die sind in diesem Roman fehl am Platz.
Ich finde es interessant, dass Sie vorhin von Ausweichbewegungen gesprochen haben. „Open City“ scheint mir ein Roman, in dem es sehr stark darum geht, wie man sich selbst in der Welt positioniert, um das Gefühl, dazuzugehören oder auch nicht. Julius, der Held, ist in mehr als einer Hinsicht fremd, in New York wie dann später in Brüssel. Mit Exil im wörtlichen Sinn hat das gar nicht so viel zu tun – es ist eher ein existentielles Exil.
Ja, der passendste Begriff wäre vielleicht Entfremdung. Er hat Nigeria nicht aus politischen Gründen verlassen, das ist nicht das Problem. Sein Problem ist, dass es ihm nicht gelingt, den Kontakt aufzunehmen zu allem, was Grund und Boden hat. Seine Leidenschaften gelten dem Ätherischen. Er hört Mahler und ist glücklich, aber er kann nicht mit seiner Mutter sprechen. Er ist sehr verwundet. Noch einmal ganz kurz zurück zu Sebald. So sehr ich ihn schätze – seine Erzähler sind doch immer wie Fenster, wie Kameras. Ich wollte einen Erzähler, der nicht unschuldig ist, der impliziert ist in das, was er berichtet, ja, der Dinge auslöst und verursacht. Es war gerade das Fehlen der Unschuld, das mich interessiert hat. Er ist nicht der Schwarze, der unter der Unterdrückung der Weißen leidet und so fort. Andererseits wollte ich auch keine Figur wie Meursault in Camus‘ Der Fremde – keinen „bad guy“, für den man keine Sympathie empfinden kann. Er ist ja ein guter, aufgeklärter Liberaler, aber das schließt persönliche Schwächen keineswegs aus.
Das Brüssel-Kapitel, das wir im „Merkur“ abgedruckt haben, ist einerseits das am deutlichsten politischste. In der Diskussion mit dem politisch viel radikaleren Farouk werden wichtige Themen der postkolonialen Debatte ausgesprochen. Es war für mich aber verblüffend, wie subtil die Argumente hier dargestellt werden. Julius, aber stärker noch, denkt man, das Buch selbst beziehen da eine sehr offene Position, oder anders gesagt: eine, die die Aporien der postkolonialen Diskussion akzeptiert.
Nun, mir sind diese Debatten sehr vertraut. Ich schätze, dass die Hälfte meiner Freunde Edward Said gelesen hat, aber auch Derrida oder Foucault. Aber der Punkt von „Theorie“ für mich ist gerade, dass sie als Theorie etwas bewirkt in der wirklichen Welt. Zugleich ist es manchen etwas peinlich, in realen Situationen mit Said oder Agamben anzukommen. Diese Spannung hat mich hier durchaus interessiert. Das andere war: Ich wollte keine Auseinandersetzung zwischen Julius und zum Beispiel der Figur Meike, einer älteren Frau, die rechte Positionen vertritt. Das wäre nicht interessant gewesen. Ich wollte, dass er mit jemandem diskutiert, der ihm sehr ähnlich ist: ein junger Mann aus Afrika, links, beschlagen in Theorie, kein fanatischer Muslim. Dieses Kapitel war tatsächlich am schwierigsten zu schreiben, weil ich nicht einfach die Positionen abstecken wollte. Es ging mir um mehr. Im Krieg spricht man auf Englisch vom „fog of war“ – und es ist dieser Mangel an Klarheit darüber, wo genau eigentlich die Grenzen zwischen den eigenen und den feindlichen Linien verlaufen, der mich interessiert hat. Aber auch die verblüffende Irrationalität, zu der wir imstande sind: Farouk, der einerseits da in Brüssel im Internet-Café sitzt und trinkt und Marx und Benjamin zitiert – und im nächsten Satz sagt, dass er gerne in Mekka leben würde.
Wo Sie gerade von Krieg sprachen: der Titel Ihres Romans, „Open City“, ist ein Begriff aus dem Kriegsrecht – eine Stadt, die sich ergeben hat, in die der Feind eingefallen ist, die aber nicht zerstört werden darf. Buchstäblich bezieht sich das, nehme ich an, auf Brüssel, das im Zweiten Weltkrieg eine „offene Stadt“ war. Allegorisch gilt es auf eine etwas andere Weise sicherlich auch für New York, beschreibt den Zustand der Stadt nach 9/11.
Ja, und zwar doppelt. New York war nicht zerstört nach 9/11, aber der Feind war eingedrungen – nur dass er gar nicht sichtbar war. Der Feind, der anwesend ist, aber unsichtbar, das ist Al Qaida. Aber da sind auch viele andere Feinde, die bed bugs, der Patriotismus, die Stimmung gegen Immigranten, die Unterdrückung der Geschichte. Aber auf der anderen Seite ist die Bedeutung des Titels auch eine positive. Julius‘ Beschreibung des Alltags ist auch eine Wahrnehmungsform des Staunens, vielleicht sogar der Verzauberung. Er geht mit einem offenen Geist und offenen Herzens durch die Straßen. All die Menschen, denen er begegnet, sind interessant, alle sind sie hier, weil New York eine offene, aufnahmebereite Stadt ist, weil man als Japaner, als Deutscher, als Nigerianer, als Amerikaner aus Kentucky hier leben kann. Gerade die Spannung zwischen den beiden Lesarten dieses Titels gefällt mir. Open City – das waren buchstäblich die ersten beiden Wörter des Romans, die ich schrieb. Ursprünglich war das nur ein Platzhalter für den richtigen Titel, der mir bestimmt noch einfallen würde. Aber es stellte sich heraus: das war der richtige, der perfekte Titel.
Eine letzte Frage – Sie arbeiten jetzt an einem Buch über Lagos, die Stadt in der Sie zum großen Teil aufgewachsen sind. Welche Sorte von Buch wird das werden?
Tja, das muss ich selbst erst herausfinden. Auf jeden Fall eine nichtfiktionale Erzählung, dem Genre nach irgendwo zwischen Suketu Mehtas großartigem Bombay-Buch Maximum City und Orhan Pamuks Istanbul. Etwas zwischen Journalismus und Erinnerungen. Ein wichtiges Vorbild für mich, was das Schreiben über Orte betrifft, ist V.S. Naipaul, der mit den Leuten spricht, der dann ihre Geschichten erzählt, aber zugleich immer seine eigenen Reaktionen mitnotiert. Was das Lagos-Buch so aufregend macht für mich, ist, dass ich 17 Jahre dort gelebt habe, die Stadt also wirklich gut kenne; seitdem kehre ich aber nur etwa zweimal im Jahr nach Lagos zurück und erlebe die Stadt deshalb auf eine ganz andere Weise. Kinder „kennen“ die Orte, an denen sie leben, nicht. Für ein Kind ist eine Stadt ein funktionaler Ort. Du gehst zur Schule, du kehrst zurück, du gehst einkaufen. Als Erwachsener schaust auf die Stadt als Infrastruktur und du siehst Geld, Einfluss, Macht, Fälle von Kooperation, aber auch von Korruption. Diese Differenz wird in dem Buch sicher eine Rolle spielen. Das scheint mir ein wichtiges Projekt, aber nicht nur für mich, denn Lagos ist die größte Stadt in Afrika – und die Welt weiß nichts über sie.
Teju Cole ist Kunsthistoriker, Fotograf und Autor. Alle seine Aktivitäten lassen sich im Internet verfolgen: Seine Website, sein Twitter-Account, sein Blog bei New Inquiry, sein Flickr-Account.
Das Interview führte Ekkehard Knörer
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