Geschlossene Abteilung. Pariser Notizen II

Das discounterhaft Unglamouröse am Metrofahren ist auch so ein angenehmes Paris-Ding, das einem die oberirdische, oft schon an Klischeekitsch grenzende Schönheit der Stadt erträglicher macht. Die Waggons sind zu jeder Tageszeit voll, die Sitzplätze zu eng, in den Verbindungstunnels beim Linienwechsel geht man prinzipiell auf der falschen Seite und wenn man dann wie immer den falschen Metroausgang genommen hat, steht man plötzlich auf dem Boulevard Saint-Germain, den man auch lieber zu Rimbauds oder Sartres Zeiten beschritten hätte. Vorbei am Crêpes-Stand mit den aufgestapelten Nutella-Gläsern, vorbei an den berühmten Cafés, in die man extra nicht reingeht, und immer weiter hoch Richtung Rue du Bac, wo sich die Exklusivität der Straße auf luxuriöse Küchenstudios und aus dem Mittelalter herausgeschossene Maronenverkäufer beschränkt.

Dort um die Ecke, auf dem Boulevard Raspail, hat die Chalet Society, das neue Ausstellungsprojekt von Marc-Olivier Wahler (Ex-Direktor des Palais de Tokyo), ein altes Schulgebäude in einem Hinterhof bezogen, in dem zur Zeit das Museum of Everything  gastiert. In London und Turin war die Wanderausstellung, die sich selber als Travelling Museum bezeichnet, bereits zu sehen, Wahler hat sie nun nach Paris geholt. Gezeigt wird das, wofür sich inzwischen der etwas unschöne und vielleicht auch zu simpflizierende Begriff Outsider Art eingebürgert hat. Also Kunstwerke, Werkstücke und Objekte von Einzelgängern, die sich meist selber nicht einmal als Kunstschaffende begreifen (oder begriffen haben) und abseits der kommerziellen Kunstwelt, ganz ohne Karrieregedanken, in ihrer Freizeit, manchmal auch im religiösen Wahn oder in der psychiatrischen Klinik, die beeindruckendsten, kleinteiligsten, wahnsinnigsten und seriellsten Arbeiten collagiert, zusammengebaut, gezeichnet, gemalt und getöpfert haben, die man sich nur vorstellen kann. Unbeschreibbar schön und anrührend. Mich kurz gefragt, wie die Ausstellung wohl auf erfolg- und ruhmlose Künstler mit Karrierewunsch wirken mag, die ihr Kunstschaffen auf eine gewisse Weise ja genauso manisch betreiben, wenn auch wissentlich absichtlich und nur von leichten Depressionen erschüttert. Mich noch kürzer gefragt, ob man den ausgestellten Outsidern nicht damit Unrecht tut, ihre intimen, selbstbezogenen Werke im Setting eines malerisch abgefuckten Schulgebäudes ans Licht der Öffentlichkeit zu zerren und ihnen dadurch wahrscheinlich sogar zu einem handelbaren Marktwert verhilft. Sobald das Werkensemble eines bereits verstorbenen Outsiders bei Sotheby’s versteigert werden sollte und in der Sammlung eines russischen, chinesischen oder Berliner Sammlerehepaars landet, beginne ich mit der Fabrikation von Outsider Art in der geschlossenen Abteilung einer psychiatrischen Anstalt.

Apropos depressiv werden: einfach mal wieder kurz den Fernseher einschalten! Diskussionsrunde zum Thema Mariage gay. Frankreichs Sozialisten möchten und werden bekanntermaßen das sogenannte Rechtsinstitut der Ehe auch homosexuellen Frauen und Männern ermöglichen. Also keine Pseudogleichstellung mittels zweitklassiger Lebenspartnerschaftskonstrukte wie in Deutschland, sondern die komplette Öffnung des Eherechts, inklusive des Adoptionsrecht, für homosexuelle Paare. Im Fernsehstudio sitzen auf lehnenlosen weißen Kuben noch sympathisch wirkende Intellektuelle mit schönen Brillen und nicht ganz so guten Zähnen. Wie sich recht schnell herausstellt, sind fast alle Anwesenden gegen das Adoptionsrecht für Homosexuelle und über die Hälfte gegen die Homoehe. Die Pro-Homo-Fraktion setzt sich aus einer schüchternen Philosophin mit kaum ausgeprägtem Wortmeldungsdrang, einem belgischen Karikaturisten und einem Balletttänzer zusammen. Ein Juraprofessor und ein Essayist haben ständig das Wort und führen das abgedroschene Argument an, dass es ja wohl kein Zufall sein könne, dass sich nicht nur der katholische, sondern auch der jüdische und muslimische Glauben gegen Homosexualität aussprächen. Die bislang schweigende Vertreterin der Indigènes de la République, einer sehr linken, an Rassismus grenzenden antirassistischen, antikolonialistischen und antizionistischen französischen Protestbewegung, wird schließlich vom Moderator zu einer Stellungnahme gezwungen. Sie halte, erwidert sie mit todernster Miene, das gesamte Gesetzesvorhaben für ein Produkt des homosexuellen Imperialismus, der die Menschen in den französischen Banlieues mit einer Lebensweise konfrontiere, die mit deren Realität überhaupt nichts zu tun habe. Da blieb sogar dem rechten Juraprofessor der Mund offenstehen, die schüchterne Philosophin verdrehte die Augen und der Moderator leitete flugs zum nächsten Gesprächsthema über: Soll sich Frankreich für seine während der Kolonialzeit begangenen Verbrechen etwa ausdrücklich und öffentlich entschuldigen?