Total aufgemuskelt. Pariser Notizen IV

In letzter Minute doch noch schlechte Karten für Harold Pinters Le Retour im Théâtre de l‘Odéon bekommen. Die Telefonfrau der Theaterkasse hatte mich fünfmal darauf hingewiesen, dass die visibilité aber réduite wäre, zweiter Rang, Balkonplätze, rechts am Rand undsoweiter. Ich dachte leicht angenervt auf Deutsch in mich hinein: ist ja gut, mach mal voran und lass mich endlich meinen komplizierten Nachnamen auf Französisch durchbuchstabieren, damit das Gespräch ein Ende hat. Überhaupt hat die notorische Lahmheit der schlechtbezahlten Angestellten an Theater-, Kino- und Supermarktkassen, bei McDonald’s, Uniqlo und Fnac recht schnell ihren folkloristischen Reiz verloren, den man im Sommer noch großzügig über die Stadt verstreut hatte. Ich sitze also ziemlich weit oben, im wirklich sehr schönen, alten Odéon-Theater, in einer plüschigen Zweierloge auf einem extra hohen barhockerähnlichen Stuhl und frage mich, warum mich die Telefonfrau der Theaterkasse nicht sechsmal darauf hingewiesen hat, dass die Sicht eingeschränkt ist. Aber wenn ich mich vorbeuge, kann ich einen bösen, alten Mann im Unterhemd am linken Rand der Bühne sehen, der eine Bierflasche in der Hand hält, viel raucht und ein etwas nuscheliges Französisch spricht. Das ist Bruno Ganz, der seit sechs Jahren zum ersten Mal wieder eine Theaterrolle angenommen hat, wozu ihn wohl Luc Bondy, Regisseur des Stücks und Intendant des Théâtre de l‘Odéon, bewegen konnte. Ganz spielt ganz großartig das tyrannische Familienoberhaupt Max, das missmutig und launisch mit seinem Bruder und zweien seiner drei Söhne in einem schmuddeligen Männerhaushalt zusammenlebt. Der dritte Sohn, das einzige Familienmitglied, das es zu etwas gebracht hat, nämlich zum verheirateten Philosophie-Professor mit Kindern in den USA, kommt unerwartet zu Besuch, auch um seine Ehefrau Ruth endlich der Familie vorzustellen. Ruth wird schnell zum umgockelten und unter den Männern aufgeteilten Objekt der Begierde. Im Familienkreis wird ihre Zukunft als Luxusprostituierte beschlossen, Ruth stimmt unter speziellen, von ihr gestellten Bedingungen zu. Ihr Schwager wird zu ihrem Zuhälter, ihr Ehemann reist schließlich ohne sie wieder ab. Um eingespielte, innerfamiläre Repressionsmechanismen, aber auch um die Umkehrung von Opfer- und Täterrollen geht es in Pinters 1965 uraufgeführtem Theaterstück The Homecoming, das nun, von Philippe Dijan neu übersetzt und prominent besetzt in Paris zur Aufführung kam. Neben Bruno Ganz sind u.a. Louis Garrel (inzwischen total aufgemuskelt und leider überhaupt nicht mehr schlaksig), Micha Lescot (zum Glück total schlaksig und bester Schauspieler des Abends) sowie Emmanuelle Seigner (letzte Kinorolle: die Mittelklasse-Mutti in François Ozons Dans la maison) zu sehen.

Zwei Wochen lang das Leben eines Berufstätigen simuliert, der immer ganz früh aufstehen muss, um mit der Pariser Metro irgendwo hinzufahren. Man verlässt das Haus und befindet sich sofort in einer klischeelastigen, real gewordenen Chanson-Verfilmung von Paris s’éveille. Menschen mit Baguettes unter dem Arm gehen über die Straße, junge Väter bringen ihre dunkelhaarigen Kinder in die Grundschule, stark geschminkte Rentnerinnen führen ihre Hunde aus, der jüdische Metzger legt große Fleischstücke in die Schaufenstervitrine, beim marokkanischen Herrenfriseur sitzen schon wieder die ersten Kunden. Es ist sehr kalt, ein bisschen neblig, feucht und grau. Über der Straße und in ein paar Schaufenstern hängt komisch herumblinkende Weihnachtsdekoration, die eher funktional als stimmungsvoll rüberkommt. Vor den Eingangsschranken der Metro das unregelmäßige Bestätigungs-Piepsen der elektronischen Navigo-Monatskarten. Die Leute haben es ein bisschen eilig, aber auch nicht zu sehr. In den Metrogängen gehen grundsätzlich sechs einander fremde, aber exakt gleich langsam laufende Menschen nebeneinander, in der wahnhaften Überzeugung, sich gerade gegenseitig zu überholen. Die Metro fährt am Bahnsteig ein, zwanzig Leute rennen hektisch los und quetschen sich in den bereits besonders überfüllten letzten Waggon am Ende des Zuges, um nur nicht auf die für in zwei Minuten angekündigte nächste Metro warten zu müssen. Gedrängt, aber ohne Körperkontakt, steht man im Waggon nebeneinander. Viele lesen im Stehen in einem Taschenbuch herum, die Anwesenheit von iPad-Clowns tendiert gegen Null. Im etwas leereren Nachbarwaggon fängt ein Musikant an, Bésame mucho auf seinem Akkordeon zu spielen. Wenn jetzt noch an der nächsten Station eine amélie-ähnliche Type mit Pagenschnitt-Frisur und einem Gartenzwerg in der Hand zusteigt, drehe ich komplett durch.

Im sehr empfehlenswerten Blog Invisible Paris auf die interessante Besprechung eines Sachbuchs gestoßen. „Paris est un leurre – La véritable histoire du faux Paris“ (Paris ist eine Attrappe – Die wahre Geschichte des falschen Paris) heißt es. Der Autor Xavier Boissel erzählt darin von den unglaublichen Plänen des französischen Militärs, Paris im Kriegsjahr 1917 vor deutschen Luftangriffen mit Zeppelinen oder mehrmotorigen Bombern zu schützen, um im Falle eines nächtlichen Bombardements die Zahl der zivilen Opfer, aber natürlich auch die Sachschäden so gering wie möglich zu halten. Da damals noch kein radargestützer Flug möglich war, flogen deutsche Bomberpiloten meist nachts und ausschließlich auf Sicht. Die Pläne sahen deshalb vor, die eigentliche Stadt Paris nachts komplett zu verdunkeln und zwei Seine-Schleifen weiter westlich ein künstliches Paris mit den wichtigsten Sehenswürdigkeiten, Bahnhöfen und Fabriken samt Straßenbeleuchtung nachzubauen, in dem dann, aus Authentizitätsgründen, nur einzelne Fake-Arrondissements verdunkelt werden sollten. Das Projekt gelangte nie zur Ausführung, das französische Militärarchiv bestreitet sogar heute noch seine Existenz, obwohl bereits 1920 in der französischen Zeitschrift L’Illustration ein erster Artikel zum Thema mit genauem Kartenmaterial erscheint. Ein Elektro-Ingenieur namens Fernand Jacopozzi scheint das Paris-Verdunkelungs-Projekt maßgeblich entwickelt zu haben. Kurioserweise genau dieselbe Person, die ein paare Jahre später, in den Zwanzigerjahren, durch spektakuläre Lichtinszenierungen des Eiffelturms und der großen Kaufhäuser, Paris mit zu seinem Ruf als „Stadt der Lichter“ verhalf.