• Durchverstehen mit Dalí: Pariser Notizen V

    Abendliches Winterwetter in Paris, überall liegt Schnee, dicke Schneeflocken fliegen durch die Luft. Die Befestigungspfosten der Vélib-Fahrradleihstationen sind dick zugeschneit, die grünen Lichter der Verfügbarkeits-Dioden scheinen durch die Schneeschicht hindurch. Mit den angenehm abgedämpften Straßengeräuschen und dem marsianisch orange eingefärbten Nachthimmel kommt einem die Stadt surrealistisch heruntergedrosselt vor. Kaum jemand ist unterwegs, nur wenige Autos und Supermarkt-Rentner schleichen auf nicht geräumten Straßen und Wegen ihren Zielen entgegen. Ich schleiche meinerseits, von der Rue Turbigo kommend, die Rue Beaubourg hinunter, auf dem Weg zur Dalí-Ausstellung im Centre Pompidou. Bereits der zweite Versuch. Der erste Versuch, in der Neujahrswoche, scheiterte an der Besucherschlange, die einmal rund um das Centre Pompidou reichte. Damals war ich darüber fast erleichtert, denn meine Lust auf Dalí-Ausstellungen hält sich in Grenzen, seitdem einem im Kunstunterricht moderne Kunst, beziehungsweise das, was man als Frühpubertierender darunter verstand, mit Hilfe des hochpolierten Surrealismus à la Dalí oder Magritte nähergebracht wurde. Was auch funktioniert hat und weshalb man sich heute noch etwas dafür hasst, auf pfannkuchenartig verschmolzene Uhren und Männer mit Hut und grünem Apfel vor dem Gesicht hereingefallen zu sein, in dem festen und überheblichen Glauben, ab sofort moderne Kunst komplett durchverstehen zu können. (mehr …)
  • Total aufgemuskelt. Pariser Notizen IV

    In letzter Minute doch noch schlechte Karten für Harold Pinters Le Retour im Théâtre de l‘Odéon bekommen. Die Telefonfrau der Theaterkasse hatte mich fünfmal darauf hingewiesen, dass die visibilité aber réduite wäre, zweiter Rang, Balkonplätze, rechts am Rand undsoweiter. Ich dachte leicht angenervt auf Deutsch in mich hinein: ist ja gut, mach mal voran und lass mich endlich meinen komplizierten Nachnamen auf Französisch durchbuchstabieren, damit das Gespräch ein Ende hat. Überhaupt hat die notorische Lahmheit der schlechtbezahlten Angestellten an Theater-, Kino- und Supermarktkassen, bei McDonald’s, Uniqlo und Fnac recht schnell ihren folkloristischen Reiz verloren, den man im Sommer noch großzügig über die Stadt verstreut hatte. (mehr …)
  • Das Mentalo-Geheimnis. Pariser Notizen III

    Typisches Phänomen, in der ganzen Stadt anzutreffen: Glückliche, sehr verliebt wirkende Touristenpaare, die den ganzen Tag in aller Ruhe zusammen Sachen machen, möglichst händchenhaltend, während man als Alleinstehender eher das Gefühl hat, sein Besichtigungsprogramm etwas herzlos und bürokratisch abzuhetzen. Bei schlechtem Wetter sitze ich vor einem Café und esse einen kleinen, teuren Linsensalat mit was Grünem und was Rotem drin. (mehr …)
  • Geschlossene Abteilung. Pariser Notizen II

    Das discounterhaft Unglamouröse am Metrofahren ist auch so ein angenehmes Paris-Ding, das einem die oberirdische, oft schon an Klischeekitsch grenzende Schönheit der Stadt erträglicher macht. Die Waggons sind zu jeder Tageszeit voll, die Sitzplätze zu eng, in den Verbindungstunnels beim Linienwechsel geht man prinzipiell auf der falschen Seite und wenn man dann wie immer den falschen Metroausgang genommen hat, steht man plötzlich auf dem Boulevard Saint-Germain, den man auch lieber zu Rimbauds oder Sartres Zeiten beschritten hätte. Vorbei am Crêpes-Stand mit den aufgestapelten Nutella-Gläsern, vorbei an den berühmten Cafés, in die man extra nicht reingeht, und immer weiter hoch Richtung Rue du Bac, wo sich die Exklusivität der Straße auf luxuriöse Küchenstudios und aus dem Mittelalter herausgeschossene Maronenverkäufer beschränkt. (mehr …)
  • Schön und wahr. Pariser Notizen I

    Stephan Herczeg wird für den Merkurblog in loser Folge als Kulturkorrespondent aus Paris berichten. Der Kulturbegriff soll dabei ein erweiterter sein. Ich stehe vor der Joghurtwand eines Pariser Supermarkts. Sieben Meter Joghurtprodukte neben- und übereinander, mit und ohne Fruchtgeschmack, in allen Fettstufen, von Kuh oder Ziege, biologisch oder normal, mit proaktiven Kulturen oder undeklariert, einzeln erhältlich oder im 16er-Pack. Die Frau, hinter der ich später fünfzehn Minuten an der Kasse stehen werde, weil sie für über vierhundert Euro Lebensmittel, Toilettenpapier, Schreibwaren, einen Schal, die Taschenbuchausgabe von Cinquante Nuances de Grey, einen Kochtopf, zwei Flaschen Champagner, ein schwarzes Negligé, eine Tischdecke und einen plumpen Brotkorb gekauft hat, stopft zwei 16er-Packs Fruchtjoghurt in ihren riesigen schwarzen Einkaufstrolley, während sie mit ihrem schulpflichtigen Kind telefoniert. Ich bewundere ihre Entschlusskraft, kann mich aber für kein Milchprodukt entscheiden und wende mich der gegenüberliegenden, gleich langen Nachspeisenwand zu. Die erstbeste Crème Caramel im Glas-Zweierpack wandert in den Einkaufskorb. Der Supermarkt-Voyeurismus muss ein Ende haben. (mehr …)