Das Mentalo-Geheimnis. Pariser Notizen III
Typisches Phänomen, in der ganzen Stadt anzutreffen: Glückliche, sehr verliebt wirkende Touristenpaare, die den ganzen Tag in aller Ruhe zusammen Sachen machen, möglichst händchenhaltend, während man als Alleinstehender eher das Gefühl hat, sein Besichtigungsprogramm etwas herzlos und bürokratisch abzuhetzen. Bei schlechtem Wetter sitze ich vor einem Café und esse einen kleinen, teuren Linsensalat mit was Grünem und was Rotem drin. Möglicherweise Rucola und Tomate. Ein glückliches Paar, beide Ende Sechzig, schlendert an mir vorbei, lacht besonders stark und wirkt besonders zufrieden. Ich bilde mir ein, in dem männlichen Part des Paares Michael Haneke zu erkennen, mit viel grauem Haar, Vollbart und Brille. Nur die von ihm ausgehende absolute Lebensfreude mag nicht so recht zu meinem Klischeebild von Haneke passen, den ich mir eher als ständig ernsthaften, über neuen realistisch-traurigen Filmideen brütenden Menschen zurechtimaginiert habe. Anstatt mich als promigeiler Kulturdepp zu entlarven und einfach zu fragen, ob er es denn wirklich ist, widme ich mich abends auf YouTube einer längeren, interviewbasierten Videoanalyse der hanekeschen Persönlichkeit und komme zu dem Schluss, dass es sich bei der Haneke-Erscheinung eventuell doch auch um einen pensionierten Lateinlehrer aus Remagen gehandelt haben könnte.
Die wunderbare, von allen ausgeübte Freiheit, überall bei Rot über die Ampel zu gehen, ohne von Müttern beschimpft oder von hinter Litfaßsäulen versteckten Polizisten bestraft zu werden. Also schnell hinüber zum Musée d’Art Moderne, das sich am Ufer der Seine in einem Flügel des Palais de Tokyo befindet, einem etwas totalitär anmutenden, neoklassizistischen Bauwerk mit viel Portikus-Schnickschnack und anderen architektonischen Gestaltungselementen, die Bauhaus-Gegner 1937 eben schön fanden. Noch bis Februar ist dort die Ausstellung L’Art en Guerre zu sehen, die einen auf großartigste Weise bedrückenden Überblick über das Kunstschaffen in Frankreich während der Zeit der deutschen Besatzung und des Vichy-Regimes bietet. Den Ausgangspunkt der Ausstellung stellt ein Rückblick auf eine der letzten großen freien Ausstellungen in Paris dar: die weltweit erste, internationale Surrealismus-Retrospektive, von Duchamp und Breton 1938 initiiert. Ein Großteil der dort vertretenen und damals in Frankreich sesshaften Künstler wird in den folgenden Jahren Frankreich freiwillig oder unter Zwang verlassen, einige kommen als unerwünschte Ausländer in eines der 200 Arbeitslager, andere verbleiben mit Ausstellungsverbot im Land und begeben sich in die innere Immigration. Picasso zum Beispiel. Kaum zu glauben, dass er tatsächlich während der gesamten deutschen Besatzungszeit in Paris verweilte und dort wahrscheinlich nicht sehr munter, aber äußerst beständig und produktiv Gemälde, Plastiken und bemalte Teller produzierte. Eine der damaligen Zeit entsprechende düstere Ausstellung. Traurige Bilder, Stillleben mit abgezogenen Hasen, dunkle Interieurs, ernste Portraitstudien, spätkubistische Depressionskompositionen, verzweifelte Werkstücke von in Arbeitslagern Inhaftierten, deren Namen man heute nicht mehr kennt. Als ich die Ausstellung niedergeschlagen verlasse, fegen ein paar Arbeiter den steinernen Innenhof auf der Seine-Seite des Museums. Dichter Nebel liegt über dem Eiffelturm, da drüben ganz in der Nähe. Nur der skelettartige Rumpf ist zu sehen.
Neben dem Haus, in dem ich wohne, gibt es ein mysteriöses Ladenlokal, über dem in großen Lettern MENTALO steht. Das klingt wie der Name einer russischen Heavy-Metal-Band. Oder wie ein Schimpfwort. Aber auch ein bisschen wie eine Berufsbezeichnung, die man selber gerne in Auskunftei-Bögen eintragen würde. Was machst du so? Ich bin Mentalo, und Du? Vor Mentalo stehen manchmal junge, rauchende Männer, die dann zehn Minuten später drinnen, in einer Art Sprachlabor, mit Headsets vor Computern sitzen und schweigend auf Flachbildschirme starren. Das Mentalo-Geheimnis ist mir so wichtig geworden, dass ich es mir nicht durch Google lösen lassen will. Mentalo soll als neben mir wohnendes Rätsel weiterexistieren, vor allem wenn es dann wieder tagelang leer steht. Nicht weit von dem Haus, in dem ich wohne, ungefähr einen Kilometer entfernt, befindet sich die Médiathèque Marguerite Duras, eine öffentliche, frei zugängliche Bibliothek, die auch am Sonntag geöffnet hat und deren ausgeschildertes Café aus einem Kaffeeautomaten und zehn Stühlen besteht. Der Saal mit den Büchern, Tageszeitungen und Zeitschriften ist fast immer bis auf den letzten Lesestuhl besetzt. Französische Rentner blättern stundenlang in Fotobüchern, junge Menschen lesen Zeitung, Geschäftsmänner lesen Romane. Also alles komplett surrealistisch. Mir hat es die Fachzeitschrift Cerveau & Psycho angetan, die ich gerne anonym für Mentalo abonnieren und in Deutschland als Fanzine unter dem Namen Hirn & Psycho herausbringen würde. Titelstory des Heftes: Twitter – un révélateur de narcissisme? (Twitter – Ein Anzeichen von Narzissmus?). Da könnte man schon mal ein paar Stunden darüber nachdenken.
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