Zum Tod von Henning Ritter

Gestern ist Henning Ritter, der langjährige Leiter der FAZ-Geisteswissenschaften, im Alter von 69 Jahren verstorben. (Hier der Nachruf von Andreas Platthaus in der FAZ – und hier der von Ritters Nachfolger Jürgen Kaube.) Ritter war als Autor auch dem Merkur verbunden. Wir schalten zur Erinnerung an ihn seinen im Juni 2010 im Merkur veröffentlichten Text über Paul Kammerer frei.

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Henning Ritter

DER ZUFALLSJÄGER

Paul Kammerer und das Gesetz der Serie

In den frühen siebziger Jahren in Berlin besuchte ich Freunde, die gerade von einer Reise zurückgekehrt waren. Seit wir uns zuletzt gesehen hatten, war mir ein kleines Buch in die Hände gefallen, kaum fünfzig Seiten stark, dessen Untertitel mich sofort interessiert hatte: Die Anziehungskraft des Bezüglichen. Der Titel war: Der Zufall, eine Vorform des Schicksals. Wenn ich mich richtig erinnere, waren es kurze Stücke, die in den zwanziger Jahren in einer Berliner Tageszeitung erschienen waren, eine Sammlung von Fallgeschichten, bei denen der Zufall die Regie führte. Personen, die sich durch schicksalhafte Verstrickungen aus den Augen verloren hatten, fanden sich überraschend wieder, Gegenstände kehrten zu ihren Eigentümern zurück, die sie längst verloren gegeben hatten. Sogar die moderne Technik wurde zum Mitspieler. So waren auf einem fotografischen Negativ in einer Doppelbelichtung zwei Personen vereint, die vor langer Zeit getrennt worden waren. Der Zufall arbeitete hier wie ein gut ausgerüsteter Suchdienst. Sogar diese phantastische Episode sollte dem Autor zufolge ihre Erklärung durch jene Anziehungskraft des Bezüglichen finden, deren Wirksamkeit das kleine Buch an einer Fülle von Beispielen dokumentierte.

Als ich meinen Freunden von dieser Lektüre erzählte, nannte ich auch den Namen des Verfassers: Es war Wilhelm von Scholz, ein seinerzeit populärer Romanautor, der sich, einer Zeitmode folgend, auch mit mystischen und okkulten Phänomenen beschäftigte. Als ich den Namen des Autors nannte, antworteten mir Ausrufe des Erstaunens. »Wir waren gerade am Bodensee«, erzählten meine Freunde, »und wohnten dort in einer Gründerzeitvilla, die früher einmal Wilhelm von Scholz gehörte.« War dies nicht selbst ein schlagendes Beispiel für die Anziehungskraft des Bezüglichen? Zwei voneinander ganz unabhängige Erlebnisse – die Lektüre eines Buches und der Aufenthalt in einem Haus – werden durch den Namen eines Schriftstellers verbunden. Der Verfasser des Buches und der Eigentümer des Hauses werden nach Jahrzehnten überraschend zusammengeführt.

Als ich etwa um die gleiche Zeit das umfängliche Buch Das Gesetz der Serie von Paul Kammerer kennenlernte, machte ich die Beobachtung, dass ich selbst, sobald ich mich mit dem Zufall beschäftigte, ungewöhnlich viele Zufallserlebnisse hatte, die sich von den Zufällen in meiner bisherigen Erfahrung durch Prägnanz und vermeintliche Bedeutsamkeit unterschieden. So ging ich mit einer Bekannten, die einige Zeit in Mailand gearbeitet hatte und nach einem unglücklichen Erlebnis nach Berlin zurückgekehrt war, die Schlüterstraße entlang. Zum ersten Mal sprach die Freundin über ihr Mailänder Trauma. Wir achteten kaum auf das, was um uns vorging. Da hielt ein Auto am Bordstein, ein Fenster wurde heruntergekurbelt, jemand bat um eine Auskunft. Es war ein Italiener, und wie sich herausstellte, kamen er und seine Begleiter aus Mailand. Nicht nur dies, es waren Leute, die meine Freundin aus der Zeit, als sie dort in einer Galerie beschäftigt war, gut kannte. Wie unwahrscheinlich war schon dieses Zusammentreffen in Berlin, und wie aberwitzig, dass es just in dem Augenblick geschah, in dem sie über ihre Mailänder Erfahrungen in den Kreisen sprach, zu denen die jungen Leute gehörten, die uns gerade nach dem Weg fragten.

Zu diesen Beispielen könnte ich aus jenen Jahren viele weitere hinzufügen, wenn ich sie sorgfältig in ein Notizbuch eingetragen und gesammelt hätte. Ich hatte sogar damit begonnen, diese Buchführung aber bald aufgegeben, weil das Material schnell überhand nahm. So wird es vielen gehen, die auf ähnliche Phänomene aufmerksam werden. Zu unwahrscheinlichen Begegnungen kommen bei Lesern Lektürezufälle hinzu, durch die Zitate aus entlegenen Büchern völlig unerwartet zusammengeführt werden, so dass man den Eindruck haben kann, man verfahre bei seinen Lektüren nicht nach eigenem Gutdünken, sondern die Bücher würden von einer geheimnisvollen Hand herbeigeschafft und umgeblättert. Phasen gesteigerter Empfänglichkeit für Zufälle halten freilich meist nicht lange an, und nicht jede Zeit, nicht jedes Lebensalter ist im gleichen Maße zufallsträchtig. Das zunehmende Alter scheint die Zufälle einzutrocknen. Jeder, der solche Phasen der Zufallshäufung erlebt, wird zu der Überzeugung gelangen, ein Mitarbeiter des Zufalls zu sein, der es mit ihm besonders gut zu meinen scheint. Es ist ähnlich wie bei der Traumdeutung Freuds, die bei seinen Patienten regelmäßig zu einer vermehrten Traumproduktion führte.

Zurück bleibt von solchen Phasen erhöhter Ansprechbarkeit für den Zufall ein befremdliches Gefühl, oft aber auch ein gewisses Behagen: das Gefühl, in ein Netz subtiler, im Alltagsleben sonst verdeckter Bedeutsamkeiten verflochten zu sein. Man glaubt sich in ein Geschehen verstrickt, das es doch irgendwie gut mit einem meint – auch wenn die Vorgänge, auf welche diese Annahme sich gründet, keinen greifbaren Nutzen haben. Wenn sich Behagen einstellt, dann beruht es auf dem vermeintlichen Versprechen, dass sich auch existentiell Bedeutsames irgendwann einmal so oder ähnlich ereignen kann. So empfindet wohl auch manch ein Lottospieler, wenn die eine oder andere »seiner« Zahlen in der Gewinnreihe vorkommt, auch wenn es zu einem nennenswerten Gewinn wieder nicht gereicht hat: Offenbar wird sein Wille weiterzuspielen durch jede Art von Gewinn gestärkt, auch wenn er selbst nicht der Gewinner ist und trotz der grandiosen Unwahrscheinlichkeit eines Hauptgewinns. So hat Adam Smith aus dem Vorhandensein von Lotterien den weitreichenden Schluss gezogen, dass die Menschen im Allgemeinen dazu neigen, ihr Glück zu überschätzen.

Die Häufung von Zufällen bei gesteigerter Aufmerksamkeit auf Zufälle ist immer wieder zu beobachten. Sie scheint einen Einfluss der Wahrnehmung auf die Wirklichkeit zu beweisen, der nach dem normalen Verständnis kausaler Zusammenhänge nicht einsichtig ist. Jede Theorie über den Zufall muss den Versuch machen, solche akausalen Beziehungen zu erklären. Eine typische »Erklärung« dieser Art hat der erwähnte Wilhelm von Scholz er dacht. Er war der Ansicht, dass die Zufallsereignisse ein Hinweis darauf seien, dass wir in einer verkehrten Welt leben. Während wir den Zufall als irreguläre Unterbrechung kausaler Reihen auffassten, sei es in Wahrheit umgekehrt: Ein ursprüngliches Netz bedeutsamer Beziehungen werde durch Ereignisse kausaler Natur zerrissen. Die Bedeutsamkeit, welche die Dinge ursprünglich verbunden habe, werde durch sinnlose Verknüpfungen ersetzt. Eine Welt von Sinn verschwinde unter der Decke kausal verknüpfter Ereignisse. Das normale Erleben ist demnach ein verfälschtes, während die Zufälle das wahre Leben für Augenblicke wieder aufscheinen lassen. In Wahrheit sei die Welt, auf die die Zufälle hinlenken, die eigentliche, die Welt der normalen Erfahrungen die uneigentliche. Jeder Zufall erweise die Richtigkeit des Prinzips, dass, mit dem berühmten Wort Willy Brandts, zusammenwachse, was zusammengehört. Eigentlich hänge alles mit allem im Sinne der »Anziehungskraft des Bezüglichen« zusammen. Aber diese sinnreiche Ordnung sei gestört worden und werde vom Zufall für Augenblicke wieder sichtbar gemacht. Dies sind die Augenblicke, in denen wir ausrufen: Das kann doch kein Zufall sein!

Diese Reaktion ist typisch für den Zufallsforscher, der seine Aufmerksamkeit und sein Erleben auf kleine und große Zufälle spezialisiert hat. Paul Kammerer, der sein Buch Das Gesetz der Serie 1919 publizierte – das wohl ehrgeizigste und umfangreichste Buch dieser Art -, gehört in die Reihe der leidenschaftlichen Sammler von Zufällen. Und auch er bestätigt die schon bei Wilhelm von Scholz bemerkte Neigung, die Welt der Zufälle zur Konkurrentin der Normalität kausalen Denkens zu machen und aus dem scheinbar Zufälligen eine Welt zu konstruieren, die von der Normalerfahrung verdeckt ist – eine Welt der ungestörten Bedeutsamkeit.

Die Zufälle, die der Biologe Kammerer viele Jahre hindurch in seine Notizbücher eintrug, werden schließlich durch seine Theorie verwandelt in Erscheinungen der Serialität, von Wiederholung und Periodizität, wodurch das Tor aufgestoßen werde zu einer neuen Gesetzlichkeit. Wo Kausalität war, sollte Serialität werden. Das scheint der Sinn des Buchtitels Das Gesetz der Serie zu sein, das in gewisser Weise ein Gegenprogramm zu Freuds »Wo Es war, soll Ich werden« formuliert. Denn es soll eben nicht der »subjektive« Zufall sein, die in die kausalgesetzliche Naturordnung eingewobene Zufälligkeit. Daneben soll vielmehr eine zweite Ordnung aufscheinen, die nicht weniger regelmäßig ist. Man muss sich vor Augen halten, dass Paul Kammerer nicht eigentlich ein Buch über, sondern gegen den Zufall geschrieben hat, über den er nur mit Herablassung oder Verachtung spricht. Von Zufall dürfe, erklärt er, keinesfalls geredet werden: »Ganz abgesehen davon, dass die Erklärung einer Begebenheit durch :Zufall9 ein grober Missbrauch ist und in keiner wissenschaftlichen Begründung geduldet werden sollte.« Der Zufall dient ihm nur dazu, das Tor zum Gebiet seiner Serialitätsforschung abzustecken, das er mit keinem geringeren wissenschaftlichen Ernst ins Auge fasst als Sigmund Freud die Träume und pathologischen Phänomene des Alltags.

Es ist deswegen nicht überraschend, dass Freud einer der ersten Leser des Buches von Kammerer war und auch der einzige Zeitgenosse von Rang ge wesen sein dürfte, der es einer Erwähnung für wert gehalten hat. Noch im Erscheinungsjahr 1919 hat er in seiner Abhandlung Das Unheimliche auf Kammerers Buch Bezug genommen. Indem er die Gegenstände von Kammerers Forschungen umstandslos in den Kreis der Phänomene des Unheimlichen zog, gab er dem Zufall eine Wendung ins Düstere. Dem Behagen, das aus der Zuwendung der Dinge entstehen kann, setzte er ein Unbehagen entgegen, das dem Zufall misstrauisch ins Angesicht schaut. Freud erklärt nämlich das Unheimliche am Zufälligen damit, »dass es nur das Moment der unbeabsichtigten Wiederholung ist, welches das sonst Harmlose unheimlich macht und uns die Idee des Verhängnisvollen, Unentrinnbaren aufdrängt, wo wir sonst nur von ‚Zufall‘ gesprochen hätten«.

Für Freud besetzt das Unheimliche sozusagen die Leerstellen eines verborgenen Sinns. Das Beispiel, das Freud veranlasst, Kammerers Buch zu erwähnen, ist ganz von der Art jener Ereignisse, die der Zufallssammler in seine Notizbücher einzutragen pflegt. Es steht in direktem Zusammenhang mit Kammerers Buch, denn der Physiologe Ewald Hering, um dessen Namen sich Freuds Beispiel dreht, ist einer von Kammerers theoretischen Gewährsleuten. Ob dies Zufall war, lässt sich nicht entscheiden. »Oder wenn man«, schreibt Freud, »eben mit dem Studium der Schriften des großen Physiologen E. Hering beschäftigt ist und nur wenige Tage auseinander Briefe von zwei Personen dieses Namens aus verschiedenen Ländern empfängt, während man bis dahin niemals mit Leuten, die so heißen, in Beziehung getreten war«, so sei dies der typische Fall »unheimlicher« Häufung oder Wiederholung. Über Kammerer bemerkt Freud dann, dass dieser vor kurzem den Versuch unternommen habe, »Vorkommnisse solcher Art gewissen Gesetzen unterzuordnen, wodurch der Eindruck des Unheimlichen aufgehoben werden müsste«. Freud fügt aber hinzu, dass er sich nicht zu entscheiden getraue, »ob es ihm gelungen ist«.

In Wahrheit dürfte Freud diesem Versuch, das Unheimliche durch Gesetze auszutreiben, nicht so neutral gegenübergestanden haben, wie es den Anschein hat. Denn er erledigt alle derartigen Versuche dadurch, dass er auf die Eigenheit von Zwangsneurotikern hinweist, überhaupt nicht überrascht zu sein, wenn sie regelmäßig der Person begegnen, »an die sie eben – vielleicht nach langer Pause – gedacht hatten«. In der Welt der Zwangsneurotiker sei es nämlich nichts Ungewöhnliches, »regelmäßig am Morgen einen Brief von einem Freund zu bekommen, wenn sie am Abend vorher geäußert hatten: Von dem hat man aber jetzt lange nichts gehört«. Nur selten ereigneten sich Todesfälle, die nicht schon eine Weile »durch ihre Gedanken gehuscht« waren. Dies seien für sie eben »Ahnungen«, von denen sie behaupten, dass sie »meistens« einträfen.

Ohne dass Freud dies ausspricht, ist das Beispiel der Zwangsneurotiker dazu angetan, misstrauisch zu machen beispielsweise gegen Kammerers Absicht, die durch Zufälle hervorgerufene Anmutung des Unheimlichen durch den Nachweis von Serien oder Koinzidenzen zu zerstreuen, indem der Zufall mit Bedeutsamkeit aufgeladen oder auf eine serielle Gesetzmäßigkeit zurückgeführt wird. Wie nur irgendein von Zufallserlebnissen Heimgesuchter setzt sich Kammerer dem Verdacht aus, seine Forschungen durch persönliche Marotten zu verderben. Lange Zeit hatte er sich nach eigenem Bekunden auf diesem Gebiet zurückgehalten. Fünfzehn Jahre des bloßen Sammelns gingen ins Land, ehe sein Entschluss reifte, auf dieses Material eine wissenschaftliche Arbeit zu gründen, durch die er sehenden Auges seinen Ruf als Forscher und Biologe aufs Spiel zu setzen riskierte. In seiner akademischen Biographie wurde, wie nicht anders zu erwarten, seine Serialitätsforschung zum Skandal und zum vorweggenommenen Todesurteil. Alle Versuche, Professor zu werden, blieben fortan vergeblich. Jede ernsthafte Auseinandersetzung mit der Serialitätsforschung seitens der Wissenschaft unterblieb.

Dabei war, wie Kammerer berichtet, das Interesse für die Art von Zufällen, die er in seine Notizbücher eintrug, mit den Jahren gewachsen: Der Zufall kam geradezu in Mode. Während die meisten Menschen, die Kammerer mit diesen Phänomenen bekannt machte, in der ersten Zeit die Stirn in Falten gelegt hatten, wurde diese Reaktion bald von Neugier abgelöst. Mit dieser Veränderung, so meinte er, hing auch zusammen, dass die Zeitungen dazu übergegangen waren, diesem kuriosen Stoff ihre Aufmerksamkeit zu widmen. Zeit und Zeitstimmung hatten sich offenbar der Zufälle im Alltagsleben angenommen. Manche der Beispiel Kammerers scheinen auch atmosphärisch an der Wiener Zufallsmode der Zeit teilzuhaben.

Kammerer erzählt: »Ich fahre täglich mit der Wiener Stadtbahn von meiner im Vororte Hacking gelegenen Wohnung zu meinem im Prater gelegenen Institut . . . Das tägliche Fahren zu annähernd gleicher Stunde im annähernd selben Zug bringt es mit sich, dass man annähernd mit denselben Leuten – mit einigen häufiger, anderen seltener – zusammentrifft; ohne dass es gerade Bekannte sind, kennt man sie seit langem vom Sehen im Stadtbahnwagen. Wenn ich nicht gerade lese, mache ich Beobachtungen zu den Mitfahrenden, die sich zu serialen Gruppen zusammenschließen. Bestimmte Passagiere, die sehr selten fahren – einen davon, Herrn K., kenne ich persönlich und weiß, dass er ein Automobil besitzt, welches er begreiflicherweise der Stadtbahn vorzieht, wenn seine Frau es nicht eben benötigt -, werden durch :Prévenants9 angekündigt, durch doppelgängerische Vorläufer, die ihnen ähnlich sehen oder, ohne dass sich bestimmte Merkmale der Ähnlichkeit angeben ließen, doch sehr stark an den betreffenden anderen erinnern. Gesetzt den Fall, ich erblicke in Unter-St. Veit einen Herrn, der dem mir bekannten Herrn K. ähnlich ist, so kann ich mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit erwarten, dass in Hietzing Herr K. selber einsteigen wird. Der :Vorläufer9 des Herrn K. muss nicht immer derselbe sein und kann auch in irgendeiner anderen Station vor Hietzing sichtbar werden; auch kann sich der Sachverhalt, der dann für eine erste Feststellung serialen Geschehens minder beweiskräftig wäre, umkehren: beim Hinausfahren in der Richtung Prater-Hacking steigt in Station Hietzing zuerst Herr K. aus, und wir erblicken in einer späteren Station einen Doppelgänger.«

Worin kann der Nutzen solcher Beobachtungen bestehen? Da Herr K. dem Beobachter unsympathisch ist (»ich mag seine banalen Redensarten nicht anhören«), würde dieser gerne vorher wissen, ob an diesem Tage mit ihm zu rechnen ist. Serialität vorausgesetzt, könnte er sich von dessen »Vorläufer« warnen lassen und das Abteil wechseln. Zögert er aber, weil er die Vorwarnung durch einen der Doppelgänger (denn er hat für diesen Fall mehrere Personen zur Auswahl) nicht ernst nimmt, wird er sofort bestraft. Dann wird er von K. überrascht, der ihn mit seinem aufdringlichen Grinsen anspricht: »Wie geht’s?«

Kammerer schildert dies als Fall eines »Ausnützens der Serienkenntnis«. Der Nutzen ist freilich nicht bedeutend, denn er könnte, wenn er Herrn K. keinesfalls begegnen möchte, gleich bei Fahrtantritt das Abteil wechseln. Es ist ein geringfügiger Vorteil im Alltagsleben, der sich hier durch Serienkenntnis erwirken lässt. Erstaunlich ist darüber hinaus, wie Kammerer an diesem Beispiel allerlei Manipulationsmöglichkeiten hervortreten lässt: Es braucht keine »schlagende Ähnlichkeit« mit Herrn K. zu sein, die den »Vorläufer« auszeichnet, es genügt offenbar eine so ungefähre Ähnlichkeit, wie sie im Alltag ständig zu Verwechslungen führt. Anerkennt man jeden der straßenbahnfahrenden Herren, den man zur Not mit Herrn K. verwechseln könnte, als »Vorläufer«, dann ist das Angebot bald so groß, dass ein zwingender Serialitätseindruck sich jederzeit herstellen lässt.

Um dem vorzubeugen, wird ein zusätzlicher Ratschlag gegeben: Man solle nicht »mit dem Kopf durch die Wand wollen«, also nicht Serialität um jeden Preis erzwingen. Denn manchmal treffe man auf eine »überlegene Kräftekonstellation«. Wir sehen, wie sich ein Seriensucher den Weg durch den Alltag bahnt: Aufmerksam geworden auf Ähnlichkeiten mehr oder weniger gleichgültiger Personen, macht er umsichtigen Gebrauch von diesem Material, um es nicht durch eine allzu grobschlächtige Anwendung zu zerstören. Man kann aus Kammerers Maximen auf die Verfassung des Alltags zurückschließen, in dem er seine Funde macht: Dazu gehört in diesem Fall ein von zumindest in den Stoßzeiten durch dieselben Leute frequentiertes Straßenbahnsystem mit seiner strikten Regelmäßigkeit, mit Liniennummern und farbigen Symbolen, die zu überraschenden Konvergenzen führen können, aber auch eine starke Uniformität des Erscheinungsbildes der Passanten und Verkehrsteilnehmer. Der Beobachter Kammerer fährt offenbar nicht mit dem Automobil, so dass dieser Teil des Verkehrsgeschehens seriell unterbelichtet bleibt.

Kammerers Wahrnehmungsfeld ist das des Straßenbahnfahrers, des Passanten, des Besuchers von Theater und Konzert. In all diesen Fällen lässt sich die Haltung eines uninteressierten Beobachters von beliebig an ihm Vorüberziehenden besonders leicht einnehmen. Da stellen sich Ähnlichkeiten unschwer ein, das Auge wird auf sie gelenkt. Aber erst wenn eine emotionale Stellungnahme hinzukommt, wie bei Kammerers Abneigung gegen Herrn K., dürfte diese interesselose Wahrnehmung gleichsam kristallisieren, so dass sich das Wahrnehmungsfeld auflädt und sich aus dem Zustand der Interesselosigkeit in den interessierter Aufmerksamkeit verwandelt. Erst dann werden Ähnlichkeiten, die es in großer Fülle gibt, bedeutsam.

Bei der Lektüre der hundert Einträge aus seinen Notizbüchern, die Kammerer als Beispielsammlung über sein Buch verteilt, stellt sich noch etwas anderes ein: Wie bei manchen Texten Freuds drängt sich der Eindruck eines literarischen Reizes der Alltagsminiaturen auf. In dem zitierten Fall reagiert unsere literarische Bildung sofort auf die Person des »Herrn K.«, die unwillkürlich an Franz Kafkas »K.« erinnert. Auch wenn diese Assoziation uneingelöst bleibt, vertieft sie die Bedeutung des Mitreisenden Kammerers: noch ein Doppelgänger in der Straßenbahn, der Kammerer möglicherweise schon durch den gleichen Anfangsbuchstaben des Namens unsympathisch geworden war. Dies entspräche dem Kleinlichen seiner Aufmerksamkeit, die auf die Ziffern von Garderobenmarken, auf Platznummern im Theater, auf identische Rechnungsbeträge, auf Namensgleichheit spezialisiert ist, während für das spektakuläre Serialitätsgeschehen, etwa bei berühmten Mordfällen, die Zeitungen zuständig sind.

Aber auch über dem kleinen Kosmos des Seriensammlers flattert wie ein Spruchband der Seufzer »Wir entgehen nie dem Serialverlaufe«. Tröstlich ist dieser Zuspruch, weil darin ein Versprechen der Serialität liegt, während dieselben Zufälle als etwas Verächtliches erscheinen, sobald sie isoliert auftreten. Die Ungeduld des Serienjägers veranschaulicht ein anderes Beispiel, bei dem die angestrengte Gedankenarbeit den Sprung in den Bereich des Seriellen allerdings nicht zu erzwingen vermag: »Herr O. B. war aus der Zensur entlassen worden, musste aber alsbald eine andere und einträglichere Stellung gefunden haben, denn ich sah ihn vom Fenster der Zensur aus in einem prächtigen Stadtpelze einherstolzieren, wozu ihn seine bisherigen Verhältnisse kaum berechtigten. Von da ab entfiel aber Herr O. B. meinen Augen, meinem Sinn. Nach vielen Wochen sehe ich im Café Kotmayer, Dorotheergasse (Wien), einen Pelzmantel hängen, der in diesem einfachen Volkscafé seltsam anmutet. Dabei fällt mir O. B. ein, und dass er stets ein wenig verschwenderisch gewesen; denn er hatte mir einstmals erzählt, dass er sich nach dem Rasieren auch die Haare anfeuchtete und auffrisieren lasse, das brauche er nun einmal zu seiner Erfrischung. Nun sah ich förmlich im Geiste O. B. beim Friseur sitzen, den Kopf in ein Tuch gewickelt, das dazu dient, den glatt geölten Scheitel haltbar festzukleben. Die Gedankenverknüpfung war hier so: einerseits hatte ich mich über O. B., solange er noch im Amte war, mehrfach ärgern müssen; andererseits verursacht es mir oft viele Ungeduld, wenn einem Vordermann, auf den ich beim Raseur warten musste, der Kopf eingebunden wurde. Diese Prozedur entwickelt sich bekanntlich zu längerem Dauerzustand, während man soeben noch gehofft hatte, es werde beim Rasieren sein Bewenden haben. – Zwei Stunden nun nach diesem höchst wichtigen Gedanken- und Erinnerungsverlaufe im Café Kotmayer begab ich mich zum Friseur, und dort saß jetzt leibhaftig O. B., wurde eben gepudert und hatte das Kopftuch angeknotet. Auf ihn musste ich nun warten.«

Es ist nur scheinbar eine Erfolgsgeschichte, denn sie endet mit einem Anblick von O. B. beim Friseur als dem Deus ex machina, der den Erzähler mit knapper Not aus der Falle befreit, die er sich selbst durchs Wichtignehmen seiner eigenen Gedankengänge gestellt hatte und in die er ohne Not gelaufen war. Die O. B. und seinen Friseur umkreisenden Gedanken finden am Ende das Objekt glücklich dort, wo sie es vermuteten. Die Stimmung der Zufalls konstruktionen Kammerers tendiert, wie man sieht, durchaus nicht zum Unheimlichen, wie bei Freud. Sie ereignen sich bei hellem Tageslicht und verbreiten die Stimmung heiterer Kriminalistik, deren Corpus delicti ein harmloser Passant ist. Aber gelegentlich fängt die buchhalterische Bewirtschaftung des Alltags doch eine ungewöhnliche, beklemmende, wenn nicht unheimliche Szenerie ein.

»Am 24. Mai 1909, früh 9 Uhr, fahre ich im Nichtrauchercoupé II. Klasse von Hacking (Vorort Wiens) zur Station Hauptzollamt. Der Waggon ist die ganze Zeit (1/2 Stunde Fahrt, 13 Stationen, die Ausgangs- und Endstation mitgerechnet) ausschließlich von Männern besetzt. Ein andermal sind es – im gleichen 9-Uhr-Zuge – ganz vorwiegend alte, wieder ein andermal vorwiegend junge hübsche Damen. Noch ein anderesmal steigen auffallend viele Herren ein, die sich offenbar neue Hüte gekauft haben, da sie solche in Papiersäcken mit dem Aufdruck bekannter Wiener Hutfirmen trugen. – Meine Frau und ich steigen am Karlsplatz (Wien) in die elektrische Straßenbahn ein; wir haben auffällig viele umfängliche Pakete bei uns, enthaltend Hundefutter, Watte, Spielzeug, eine große Tragtasche mit Aufdruck ‚Gerngroß‘. Dadurch inaugurierten wir eine Serie, derzufolge nunmehr die meisten Passagiere – notabene, es war zu später Abendstunde, lange nach Geschäftsschluss und durchaus nicht in der Weihnachtszeit oder dgl. – sehr große und zahlreiche Pakete trugen.«

Der Zufall, der in diesem Wien von der Jahrhundertwende bis zum Ersten Weltkrieg eine Mode geworden ist wie der Traum und die Hysterie, scheint, diese kleine Straßenbahnepisode mit den Einkaufstüten und Paketen zeigt es, überall Mitarbeiter gefunden zu haben. Paul Kammerer wird nicht der einzige wache Beobachter dieses weitgespannten Netzes von Beziehungen, Ähnlichkeiten, Zufällen und Serien gewesen sein. Und das Geschehen war so abwechslungsreich, dass dem Beobachter der Stoff nicht ausgehen konnte. Ständig veränderte der Zufall seine Physiognomie. Bald war er nicht mehr nur jener freundliche Begleiter des normalen Alltagslebens, der hier und da eine erheiternde Pointe setzte, der ablenkte und unterhielt. Der Zufall im zivilisierten Alltagsleben war ein Ironiker, der darauf hinwies, dass nicht alles war, was es zu sein schien, oder der von dem, was für wichtig gehalten wird, ablenkte, indem er eine Ordnung des Nebensächlichen freilegte. Der zivilisierte, in der Eigentumsordnung verwurzelte Zufall war konservativ, wenn er Dinge und Personen zusammenführte, die man längst für verloren gehalten hatte. Aber derselbe Zufall konnte auch wie ein Revolutionär auftreten, indem er die Befreiung vom Zwang des kausalen Denkens verkündete und ein radikales Umdenken forderte, wie es Kammerer mit dem Aufstand der Serialität gegen die Herrschaft der Kausalität anstrebte.

Der Zufall hat aber auch eine Affinität zu der geistigen Situation insgesamt, indem er das, was man ihren »Stil« nennen könnte, repräsentiert. So hat Karl Jaspers in seinem 1931 erschienenen Buch über die Geistige Situation der Zeit vom »Zufall des Beliebigen« gesprochen. Gemeint war damit eine Zunahme dessen, was im modernen Leben dem Zufall überlassen bleibt. Der Stil der Situation am Ende des Ersten Weltkriegs, als Kammerer sein Buch veröffentlichte, war dem Beliebigen weniger gewogen. Zu viel an Unvorhergesehenem war in das Alltagsleben eingebrochen, um es ins Belieben des Zufalls zu stellen. Kammerers Buch war ein Kriegsbuch. Es wäre nicht geschrieben worden, erklärt er pathetisch, »hätte nicht der Weltkrieg die Frucht zu früher Reife oder doch ihren Erzeuger zu dem Entschlusse gebracht, sie um jeden Preis abzustoßen, gleichviel ob reif oder nicht«.

Auch dass der kausale Zwang gebrochen werden musste, war zweifellos eine Idee, die sich im Krieg durch seine alle Sinnerwartungen durchkreuzenden kausalen Zwänge aufdrängte. Mit seinen umfassenden Planungen, die alles unter das Joch von Ursache und Wirkung zu zwingen suchten, war der Krieg jedes Mal, wenn er seine Planungsziele verfehlte, ein Zufallsgenerator ungeheuren Ausmaßes. Das Schlachtfeld war der Schauplatz gigantischer Planungen, ebenso lebenserhaltend wie lebensvernichtend und von Unvorhersehbarkeiten durchkreuzt. Nicht weniger chaotisch war die Lage am Ende des Krieges, die bis in ihre letzten Verästelungen die Signatur des Unvorhersehbaren trug, ein Gewirr von Zufälligkeiten, das Kammerer nach einer anderen Ordnung Ausschau halten ließ. »Unsicherheit und Unfreiheit von Leben, Arbeit und Eigentum« war es, wie Kammerer schrieb, was ihn zu seiner kopflosen Flucht aus der zusammengestürzten Ordnung und zu dem Gedanken veranlasste, außerhalb der kausalgesetzlich geregelten Wege nach neuer Gesetzmäßigkeit Ausschau halten zu wollen.

Er übersah dabei freilich, dass das perhorreszierte Kausalprinzip auch jene Mechanisierung hervorgebracht hatte, die das technische Pendant zu jener Serialität war, die Frieden und gegenseitige Hilfe fördern sollte. Mechanisierung und Uniformierung des Lebens im Krieg und danach waren die hauptsächlichen Quellen jenes seriellen Geschehens, dessen Früchte Kammerer in seinem Buch einsammeln wollte. Nicht zufällig stammen die eindrucksvollsten Serialitätsfälle aus dem Milieu der Armee, der Offiziere, der Uniformierten überall auf den Straßen. Sie waren besonders leicht zu verwechseln, bei ihnen wurde man leicht durch vermeintliche Ähnlichkeit irregeführt. Dass das Alltagsleben in jenen verworrenen Jahren während des Krieges und danach besonders reich an Zufällen, Serien und Periodizitäten zu sein schien, hätte den Serialitätsbeobachter Kammerer misstrauisch machen müssen gegen seine Vermutung, dadurch Zipfel einer ursprünglicheren Ordnung zu fassen zu bekommen. Wie in Berlin der Utopist Ernst Bloch in jedem U-Bahn-Schild, in jedem U die Utopie sah, war für Kammerer die Serialität das Vorzeichen einer neuen Ordnung. Die Mechanisierung und Uniformierung des Alltagslebens der Zeit trugen dem Serialitätsforscher zahllose Bestätigungen zu, die man nur vom Ruch der Kausalität befreien musste, um sie als prägnanten Ausdruck positiv bewerteter Serialität zu erfahren.

Erst nach Fertigstellung seines Buches will Kammerer entdeckt haben, dass sein Titel Das Gesetz der Serie nicht eine originelle Erfindung von ihm, sondern schon längst in der Tagespresse ein geläufiger Ausdruck war. In eigens dafür eingerichteten Rubriken veröffentlichten die Zeitungen spektakuläre Fälle von Zufällen, Wiederholungen und Serien. Kammerer entging nicht, dass auch dies als Fall von Serialität angesehen werden konnte, und er zog aus der Mode der Zufälle und Serien Ermutigung für sein eigenes Projekt. Nicht Originalität hatte der Serialitätsforscher anzustreben, sondern Konvergenzen in der Zeitsituation. Dazu gehörte auch das Phänomen der zunehmenden Dichte von gleichzeitig und unabhängig gewonnenen wissenschaftlichen Erkenntnissen. Ein berühmtes Beispiel dafür war die Evolutionstheorie, für die Alfred Wallace und Charles Darwin unabhängig voneinander den Schlüssel gefunden hatten, indem sie den Mechanismus der Auslese entdeckten. Bekanntlich gab ein Schreiben des Naturforschers Alfred Wallace, das die wesentlichen Elemente von Darwins bis dahin nicht publizierter Theorie enthielt, den Anstoß zur Niederschrift von On the Origin of Species.

Solche Fälle häuften sich offenbar und sind als Anzeichen einer Beschleunigung und Verdichtung des Forschungsprozesses in den Naturwissenschaften des 19. Jahrhunderts zu erklären. Für Kammerer waren sie ein Hinweis auf den inneren Zusammenhang von Serialität und schöpferischem Denken. Dass Nietzsches Lehre von der Ewigen Wiederkehr des Gleichen nicht nur eine unübersehbare Affinität zu seiner eigenen Gedankenwelt hatte, sondern auch in ihrer Zeit nicht isoliert war – Blanqui und Le Bon hatten unabhängig voneinander ebenfalls auf eine Wiederkehr des Gleichen gesetzt -, schien ihm ebenso wenig seine eigene Originalität wie die jener Denker zu mindern. Vielmehr wollte er darin ein Zeichen dafür sehen, dass in Ähnlichkeiten und Wiederholungen eine »Wahrheitsmacht« zum Ausdruck kam, die nach ihrer gesetzlichen Fassung rief. Die Erkenntnis des Serienprinzips schien, so meinte er, in der Luft zu liegen, wie der populäre Ausdruck für derartige Phänomene lautet. Was ehedem nur Ahnung war, werde zur »manifesten Serie«, zur »Erkenntnis reif gewordener Menschen«.

Das Weltbild, das Kammerer für diese »reif gewordenen Menschen« skizziert, sei in seinen Grundzügen »das Bild eines Weltmosaiks und Weltkaleidoskops, das trotz stetig wechselnder und ständig neu zusammengestellter Lagen immer wieder Gleiches zu Gleichem wirft« – die alte Vorstellung der Welt als bewegliches Mosaik, als »Puzzlespiel mit auswechselbaren Steinchen« oder als Reigen »durcheinander wirbelnder Atome«. Die Bevorzugung des Gleichen, wie sie sich im Mosaik darbiete, solle sich im natürlichen Weltbild wieder ausdrücken, damit, wie Kammerer poetisch formuliert, »der geistige Blick sich nicht uferlos verwirre«. Das Wiener Kunstgewerbe jener Jahre verleitete ihn offenbar dazu, die Welt als ein einziges Ornament zu sehen, als ein »Sichsuchen, Fliehen und Wiederaufsuchen gleichbeschaffener Elemente«. Die Herkunft dieser Bilder aus der Kunst und kulturellen Atmosphäre Wiens nach der Jahrhundertwende ist nicht zu übersehen.

Doch die an den Jugendstil erinnernde Überblendung von Natur- und Kunstformen hatte auch ihre biologischen Entsprechungen nicht nur in Ernst Haeckels Kunstformen der Natur, sondern in den merkwürdigen Wechselbeziehungen von natürlichen und kulturellen Prozessen in der Biologie des 19. Jahrhunderts. Den »letzten Lamarckianer« hat Arthur Koestler den Biologen Paul Kammerer genannt, der in lebenslangem Experimentieren die mit dem Namen Lamarcks verbundene Theorie der Vererbung erworbener Eigenschaften beweisen wollte. Kammerer beging 1926 Selbstmord, als an den für seinen Beweis ausschlaggebenden Begattungsschwielen seines letzten noch existierenden Präparats einer Geburtshelferkröte Tinte nachgewiesen worden war. Arthur Koestler, der den Fall in seinem Buch Der Krötenküsser 1971 wieder aufrollte, gelangte zu der Ansicht, dass Kammerer das Opfer einer Intrige geworden war: Man habe ihm ein gefälschtes Präparat untergeschoben. Die jüngste Untersuchung über Kammerers Biologie schlägt eine andere Erklärung vor: Kammerer habe in die für den Beweis wichtigen Flecken Tinte gespritzt, um sie auf der Fotografie besser sichtbar zu machen. Sander Gliboff, The Case of Paul Kammerer. In: Journal of the History of Biology, September 2006.

Aber auch wenn der Fälschungsvorwurf entkräftet oder abgemildert würde, es bliebe als schwere Sünde bestehen, dass Kammerer die Vererbung erworbener Eigenschaften für beweisbar hielt. Koestler hat sich in seiner späten Veröffentlichung sehenden Auges in den Nebel des Okkulten begeben, weil er sich dort Einblick in die Geheimnisse der schöpferischen Phantasie, des »göttlichen Funkens«, erhoffte. Dies war Koestlers Antwort auf seine Enttäuschung durch die Politik, in die er sich in seinen jungen Jahren mit nicht geringerem Enthusiasmus verstrickt hatte. Sein lamarckistischer Glaube versprach ihm Trost angesichts seiner Enttäuschung durch die Kultur.

Die Lehre von der Vererbung erworbener Eigenschaften, die Kammerer und Koestler verband, konnte deswegen tröstlich sein, weil sie die Herrschaft blinder Vergeblichkeit einzuschränken versprach, ohne zu teleologischen Lehren der Vergangenheit zurückzukehren. Wenn man damit rechnen kann, dass erworbene Eigenschaften an die Nachkommen weitergegeben werden, dann sind die vom Individuum unternommenen Anstrengungen, neue Bedürfnisse zu befriedigen, nicht vergeblich gewesen. Sie kommen der nächsten Generation zugute. Darauf beruhte die auch nach Darwin noch anhaltende Faszination der Lehre Lamarcks, weil sie den Weg zeigte, wie Chaos zu Ordnung werden konnte. Der Mensch verwandelt die Zufälligkeiten seiner Existenz in ein verlässliches Erbe für seine Nachkommen. Wie Stephen Jay Gould gesehen hat, waren die kulturellen Anstrengungen, die das Leben der Individuen ausmachten, auf diese Weise nicht vergeblich. Ein kultureller Mechanismus wurde in biologische Zusammenhänge übertragen, so dass letztlich die Kultur der Natur die Richtung wies.

Darwin war mit dem von ihm entdeckten Mechanismus der Auslese der große Gegenspieler dieser lamarckistischen Vorstellungswelt, seine Theorie der Evolution hatte den Gedanken der Vererbung erworbener Eigenschaften aus der Biologie ausgetrieben. Darwin lehrte, alle Erwartungen aufzugeben, dass die Natur eine Wohltäterin für den Menschen war. Sie diente ausschließlich der Erhaltung der Arten, nicht der Individuen, die im Prozess der Evolution verbraucht wurden. Darwin hatte aber auch jene Kontinuität zwischen Natur und Kultur zerrissen, die für die kulturelle Vorstellungswelt eine unverändert große Bedeutung besaß. Die tröstliche Lehre Lamarcks lebte hier fort. Viele Biologen seither erklärten nun die Natur darwinistisch, die Kultur aber lamarckistisch. Auch Freud, der Darwin bewunderte, blieb zeitlebens Lamarckianer, denn in den Fragen, die ihn interessierten, überlagerten sich Natur und Kultur. Doch in dem Maße, wie seine Einschätzung der menschlichen Kulturleistungen pessimistischer wurde, musste sich auch sein Lamarckismus abschwächen, jedenfalls in seiner naiven Form der kontinuierlichen Weitergabe des Erworbenen.

Nachdem die Vorstellung einer wohltätigen Natur ins Reich der frommen Legenden verbannt war, sollten die Menschen wenigstens in der Kultur für ihre Anstrengungen belohnt werden. Aus der Sicht der Biologie wurde dadurch die Funktion der Kultur fassbar: Sie sollte die Menschen für das entschädigen, was ihnen von der Natur, von der sie Zuwendung erhofft hatten, vorenthalten wurde. Von ihrem ursprünglichen Anwendungsgebiet gelöst und in der Biologie längst widerlegt, beschreibt die Lehre Lamarcks sehr prägnant die Eigenschaft, durch welche sich die kulturelle Entwicklung von der biologischen Evolution unterscheidet: Die Kultur entwickelt sich durch die Weitergabe ihrer Errungenschaften an die nächsten Generationen und durch die Kontinuität solcher Tradition. Kultur beruht offensichtlich auf »Vererbung« erworbener Eigenschaften.

Die Widerlegung der Lehre Lamarcks in der Biologie hat erstaunlicherweise dazu geführt, dass sie auf dem Gebiet der Kultur mit umso größerem Nachdruck vertreten worden ist. So hat der Biologe Peter Medawar, der die Unzulänglichkeit des Darwinismus für die Erklärung der kulturellen Entwicklung betonte, nicht etwa die Biologie überhaupt für unzuständig für die Kultur erklärt, sondern empfohlen, sich in der Biologie vor Darwin nach Modellen des Kulturmechanismus umzuschauen: »Kulturelle Erbschaft unterscheidet sich grundsätzlich von biologischer Vererbung, indem sie lamarckisch verfährt, also dadurch, dass das, was von einer Generation gelernt wird, Teil des Erbes der nächsten Generation werden kann.« In der Biologie sei mit den Gedanken Lamarcks nichts anzufangen, wohl aber in der Kultur.

Diesen Sachverhalt präzisierte Medawar so: »Anstatt durch nichtgenetische Kanäle vermittelt zu werden, unterscheidet sich kulturelle Erbschaft kategorial von biologischer Vererbung, indem sie lamarckisch ist; also durch die Tatsache, dass das, was von einer Generation gelernt wird, Teil des Erbes der nächsten Generation werden kann.« Der Anthropologe Adam Kuper hat in The Chosen Primate (1994) dieselbe Auffassung noch knapper zusammengefasst: »Lamarck hatte – zufällig – recht, freilich hinsichtlich der Kultur.« Mit dieser Ansicht verträgt es sich gut, dass die großen Gesellschaftstheoretiker des 19. Jahrhunderts – Marx, Spencer und Freud – trotz ihrer Parteinahme für Darwin doch allesamt Lamarckianer waren. Erst als der Lamarckismus im 20. Jahrhundert in der Biologie als völlig indiskutabel galt, wurden solche Inkonsequenzen unmöglich. Wer sich zur Theorie von Lamarck bekannte, setzte sich dem Verdacht aus, einem Biologismus mit falschen Prämissen anzuhängen.

Demnach war die Theorie Lamarcks auf dem Gebiet, für das sie entworfen worden war, falsch, während sie die Art der Vererbung, die in der kulturellen Entwicklung der Menschheit wirksam ist, richtig beschreibt. Diese hat begonnen, als vor fünfzigtausend Jahren der Homo sapiens auftrat, und sie ist abgelaufen, ohne dass es seitdem nennenswerte genetische Verbesserungen des Menschen gegeben hätte. Die kulturelle Entwicklung des Menschen beruht also auf Prägungen eigener Art. Die von Darwin beschriebene biologische Evolution hört nicht mit dem Homo sapiens auf, aber sie setzt sich in einem so langsamen Zeittakt fort, dass sie keinen merklichen Einfluss auf unsere Geschichte und kulturelle Entwicklung hat. Stephen Jay Gould, der die Zeitverschiebung zwischen Natur und Kultur besonders betonte, hielt deswegen jeden Versuch, die Kultur von der Natur her begreifen zu wollen, für aussichtslos. In beiden Fällen folgen die Entwicklungen einem so verschiedenen Zeittakt, dass sie aufeinander nicht abgebildet werden können. Allenfalls könne man versuchen, schmerzhafte Reibungen zwischen natürlicher und kultureller Entwicklung zu vermeiden.

Doch das Tor zur Biologie wurde von der Kultur her wieder aufgestoßen. Mit wachsendem Unbehagen in der Kultur begann der lamarckistische Glaube auch auf diesem Gebiet zu zerfallen. Die Wohltaten der Kultur, die auf wunderbare Weise vererbbar waren, wurden als solche in Zweifel gezogen. Freuds Das Unbehagen in der Kultur ist das bedeutendste Zeugnis für diesen Zweifel am Sinn der Kulturleistungen. In der Kultur erbte sich nicht nur vieles fort, was der Mühe wert war, sondern auch vieles, was sich als Last und Glücksminderung erwies. Dieser durch den Ersten Weltkrieg erstmals zu deutlichem Bewusstsein gelangte Sachverhalt führt dazu, die biologische Seite der Kultur mit neuen Augen zu sehen. Fragen der Kultur wurden wieder zu Fragen der Biologie – oft ohne dass man sich darüber klar wurde. Paul Kammerer war ein Beispiel für die ständige Verwechslung von Biologie und Kulturtheorie, die ihm offenbar nie störend ins Bewusstsein getreten ist. Im Gegenteil, seine Theorie der Serialität sollte ein neues Bindeglied zwischen Natur und Kultur schaffen. Für Zufälle, Serien und Perioden des Alltags suchte er ganz selbstverständlich in der Biologie ein Fundament, so dass, wäre seine Konstruktion insgesamt haltbar gewesen, ein neuer, auf den Zufall begründeter Biologismus sich der Kultur bemächtigt hätte.

Unschwer lässt sich auch erkennen, dass seine Forschungen einen Beitrag zur Diagnose einer Übergangsperiode geleistet haben, in der eine Ordnung durch eine andere ersetzt wurde. Die Obsession mit Zufällen ist symptomatisch für eine unwillkürliche Lenkung des Verhaltens in neue, ungekannte Bahnen. Das »Gesetz der Serie« kompensiert die Vertrauensverluste, die eine Gesellschaft im radikalen Umbruch erlebte. Wenn alles wankt, sucht der Mensch Halt beim Zufall, der im glücklichen Fall mit einem überwältigenden Entgegenkommen der Dinge antwortet. In dieser Hoffnung steckt der Wunsch, dass menschliche Anstrengungen belohnt werden – wenn nicht in diesem Leben, so doch, dank der Kultur, in einem nächsten, nämlich dem eines anderen Menschen, mit dem er durch die Kultur verbunden ist. Es macht die Stärke der Kultur, aber auch ihre Kälte aus, dass sie gleichgültig dagegen ist, wann solches geschieht oder wem es zuteil wird.