Leserreaktion zu Horst Meiers „Wozu Verfassungsschutz?“
Stefan Schnöckel schreibt uns als Erwiderung auf Horst Meiers auch frei online nachzulesendes Plädoyer für die Abschaffung des Verfassungsschutzes:
Immer wieder lese ich einzelne Beiträge im Merkur, vielfach mit Vergnügen und intellektuellem Gewinn. Für den jüngst veröffentlichten Aufsatz von Horst Meier Wozu eigentlich noch Verfassungsschutz? gilt indes das Gegenteil: Die Argumentation von Herrn Meier war schon vor Veröffentlichung des neuen Aufsatzes hinlänglich bekannt und wird auch durch ständige Wiederholung nicht triftiger. Sie lässt sich im Kern wie folgt zusammenfassen:
Der Verfassungsschutz sei in der Vergangenheit durch eine Reihe von Skandalen aufgefallen (genannt werden etwa die Fälle Otto John, Ulrich Schmücker oder aus jüngster Zeit die Geschehnisse um die Terrorgruppe „Nationalsozialistischer Untergrund“). Er habe sich der tatkräftigen Hilfe von Gestapo-Beamten bedient, setze die falschen Schwerpunkte und beobachte, gestützt auf den Begriff der freiheitlichen demokratischen Grundordnung, Personen und Gruppen, die sich gesetzestreu verhielten. Der aktuelle NPD-Verbotsantrag sei nichts anderes als ein Amalgam bereits bekannter Zitate und Parolen. Im Übrigen sei die Tätigkeit des Verfassungsschutzes im Wesentlichen politisch determiniert; eine Reform dieser Institution sei nicht möglich. Die einzig sinnvolle Lösung: Auflösung des Verfassungsschutzes und Verlagerung der Bekämpfung gewaltbereiter Extremisten auf die Polizei. Denn die Polizei orientiere sich an einem rationalen, objektiven Kriterium, nämlich dem Rechtsbruch.
Diese Argumentation ist – gelinde gesagt – abenteuerlich, und zwar nicht nur in ihren Schlussfolgerungen, sondern auch in ihren einzelnen Elementen. Um nur einige Einwände zu skizzieren:
Aus der Auflistung von Einzelfällen das Versagen einer gesamten Institution abzuleiten, ist systematisch wenig überzeugend. Solche Fälle lassen sich bei sorgfältiger Recherche in jeder größeren Organisation finden. Sie können auf ein Systemversagen hindeuten, das muss aber nicht so sein. Warum es hier so ist, sagt der Beitrag nicht.
Dass sich der Verfassungsschutz in besonderem Maße ehemaliger Mitarbeiter des NS-Sicherheitsapparats bedient hat, stimmt nicht. Im Gegenteil: Neueste Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass (wenigstens in den Gründungsjahren des Bundesamtes für Verfassungsschutz) frühere Mitarbeiter von Gestapo, SD oder SS inakzeptabel waren.
Der Begriff der freiheitlichen demokratischen Grundordnung zählt (trotz seiner Konkretisierung durch Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht) sicherlich zu den unbestimmten Rechtsbegriffen. Das ist indes keine Besonderheit des Verfassungsschutzes. Auch die von Herrn Meier immer wieder ins Feld geführte Polizei lässt sich bei ihrer Tätigkeit zur Abwehr von Gefahren ganz überwiegend von zwei unbestimmten Rechtsbegriff leiten: von jenem der „öffentlichen Sicherheit“ und von jenem der „öffentlichen Ordnung“. Gleiches gilt für eine Vielzahl anderer Behörden.
Die Behauptung, der Rechtsbruch (hier wohl zu verstehen als Verstoß gegen Strafgesetze) sei ein rationales, objektiv bestimmbares Kriterium, ist nur insofern richtig, als sich gleiches auch von Verstößen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung sagen lässt. Denn was einen Rechtsbruch ausmacht, liegt ja keineswegs a priori fest, sondern wird von parlamentarischen Mehrheiten beschlossen, von Gerichten konkretisiert, von Behörden vollzogen etc. So zu tun, als sei der Rechtsbruch dem politischen Streit enthoben, wohingegen der Begriff der freiheitlichen demokratischen Grundordnung zur Disposition der jeweils Regierenden stehe, ist unlogisch.
Man mag mit Fug und Recht darüber streiten, ob es wirklich sinnvoll ist, dass sowohl Polizei als auch Verfassungsschutz auf dem Gebiet des gewaltbereiten Extremismus tätig werden. Für die Frage, ob auch das Vorfeld (d. h. das sogenannte legalistische, weil nach außen gesetzestreue Spektrum) beobachtet werden sollte, ergibt sich daraus aber nichts. Wollte man diese Frage seriös beantworten, müsste man besonders die praktischen Auswirkungen eines Verzichts auf die Beobachtung des Vorfelds berücksichtigen. Man müsste beispielsweise beachten, dass es vielfältige Verbindungen zwischen dem gewaltbereiten Milieu und dem legalistischen Spektrum gibt und dass das legalistische Spektrum häufig als Nährboden für spätere Gewaltbereitschaft dient. So haben sich z. B. die Attentäter der Anschläge in London im Jahr 2005 im legalistischen Spektrum radikalisiert. All dies wird von Herrn Meier nicht einmal erwähnt.
Ebenso wenig wird berücksichtigt, dass mit der Beobachtung des Vorfelds von Gefahren und Straftaten verringerte Eingriffsbefugnisse des Verfassungsschutzes korrellieren. Anders gesagt: Der Verfassungsschutz darf auf diesem Terrain zwar beobachten, ihm stehen aber weniger Befugnisse zur Seite als der Polizei und er darf seine Informationen auch nicht ohne weiteres an die Polizei weitergeben. Eben dies ist der „Witz“ des sogenannten Trennungsprinzips.
Über Sinn und Zweck eines neuerlichen NPD-Verbotsantrags kann man sicherlich geteilter Meinung sein. Nur sollte man den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Verfassungsschutzbehörden nicht vorwerfen, sie hätten nichts anderes getan, als „sattsam bekannte Parolen und Sprüche aus dem Dunstkreis der Partei“ zusammenzutragen. Denn nach den Erfahrungen mit dem ersten Verbotsantrag wurde bewusst die Entscheidung gefällt, in dem neuen Verfahren allein offen verfügbares Material zu verwerten. Ob das politisch und rechtlich zwingend war, sei dahingestellt. Dem Verfassungsschutz lässt es sich aber jedenfalls nicht anlasten.
Noch mehr Einwände aufzuführen, würde den Rahmen dieser Anmerkung sprengen; ein eigenständiger Aufsatz wäre dazu notwendig. Auch so wird hoffentlich deutlich geworden sein: Den Beitrag von Herrn Meier im Merkur zu lesen, hat mich schwer enttäuscht. Mir will es scheinen, hier wird durch Polemik wettgemacht, was an sorgfältiger Analyse und praktischer Erfahrung fehlt.
Dr. Stefan Schnöckel, LL.M., Studium der Rechtswissenschaften in Heidelberg und an der University of Chicago, zur Zeit tätig im Innenministerium Baden-Württemberg. Der Leserbrief gibt natürlich nur seine persönliche Meinung wieder.
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