Überflüssig-Werden
Roman Widder (mehr hier) hat ein Jahr in Sibirien studiert. Die Tagung, von der er hier berichtet, fand in dieser Zeit statt. Die Bilder sind Fotografien von Landschaftsmalereien, die auf Olchon den öffentlichen Raum schmücken. Wir setzen mit dem Text unsere Begleitung des Heftschwerpunkts „Zur Lage der Universität“ fort. (d. Red.)
Kurz vorm Übersetzen auf die heilige Insel Olchon stiegen alle aus, um sich durch einen Schluck Wodka zu weihen. Bald nachdem die Fähre unseren Reisebus auf der Insel abgesetzt hatte, wurde die Straße zu unwegsam. Den Rest der Strecke mussten wir laufen und unsere Rollkoffer durch die sengende Hitze tragen. Am Anfang war das Grüppchen der Wissenschaftler noch eine geschlossene Gemeinschaft. Schnell aber zeigten sich die unterschiedlichen Leistungsvermögen. Auch ich legte regelmäßig Pausen ein. Einige ließen sich von Bewohnern der umliegenden Dörfer ihre Trinkflaschen mit Wasser nachfüllen. Nachdem ich im Bus die ganze Zeit geschwiegen hatte, ergab sich nun ein freundliches Gespräch mit einem ukrainischen Professor. Er versuchte mir gegenüber höflich zu bleiben, fluchte aber bereits still vor sich hin. Wenn der Atem tief wird und die Zunge langsamer, dachte ich mir, fallen eben manchmal ganz andere Wörter heraus als gewöhnlich. Am Straßenrand standen gelegentlich seltsame Schilder mit Landschaftsbildern, die Olchon und den Baikalsee zeigten. Auf und hinter den Bildern also dasselbe: Meer, Sand und Klippen, wilde Pferde und Fischgeruch.
Zuvor war das Gerücht umgegangen, es gebe einige Einzelzimmer, was sich als haltlos herausstellte. Das Feriendorf, in dem wir einquartiert waren, bestand aus zeltförmigen Holzhütten mit jeweils zwei Doppelzimmern und Toilette im Freien. Da ich gemeinsam mit dem ukrainischen Professor eintraf, wurde uns ein gemeinsames Zimmer zugewiesen. Vergeblich fragte er nochmal nach – nach einem Einzelzimmer für Professoren. Er war fast so unglücklich wie ich darüber, kein eigenes Zimmer zu haben.[1] Dabei mochte er mich und nahm mich als eine Art europäische Oase wahr. Von Beginn an wirkte er entnervt, wandte sich an mich jedoch mit heimelnder Vertraulichkeit. Er erblickte in mir weit und breit den einzigen wirklichen Europäer, wie er sich einmal hinter vorgehaltener Hand ausdrückte, und glaubte deshalb, mir gegenüber ungehemmt fluchen zu dürfen. Ich wusste nicht, ob ich das als Kompliment auffassen sollte.
Zum Mittagessen gab es rohen Omulsalat als Vorspeise, gebratenen Omul zur Hauptspeise und Omulkaviar als Nachspeise, also auf allen Seiten nur jenen endemischen Fisch des Baikal, den man auch roh verspeisen kann. Alle stürzten sich mit glänzenden Augen und wie aus einer monatelang aufgestauten Lust heraus auf den Fisch.
Dann begann die Tagung, schließlich waren wir zusammengekommen, um das unwahrscheinliche Ereignis des Denkens zu ermöglichen. Meine Professorin hatte mich unter dem Vorwand eingeladen, dass es einen Vortrag zu meinem Lieblingsautor geben würde. Eine Tagung auf Olchon hatte ich mir anfangs nur schwer ausmalen können, wollte aber die günstige Gelegenheit nicht verpassen, den Baikal kennenzulernen. Die Sektion, an der ich teilnahm, fand im zur Küche führenden Flur des kleinen Speisegebäudes statt. Mit überschlagenen Beinen saßen wir im rechten Winkel zueinander auf zwei Holzbänken, der eine oder die andere während des Vortrags an den Nachbarn angelehnt. Nur dem ukrainischen Professor gelang es manchmal, mit seinen bösen Blicken die anderen Wissenschaftler zu mehr Seriosität zu ermuntern. Außer uns schienen sich alle schon länger zu kennen und uns verunsicherte es ein wenig, in diese intime Atmosphäre hineingeschleudert worden zu sein.
So widmeten wir uns also der mühevollen Arbeit des Denkens, die, wie es heißt, alleine gar nicht möglich ist, sondern nur im Dialog, im Aufeinandertreffen von Gedanken, obwohl ich mich kaum konzentrieren konnte und meine Gedanken während der Vorträge in die Vergangenheit schweiften. Ich dachte zurück an die Proteste gegen den Leistungsdruck, in die ich genau ein Jahr zuvor noch verwickelt gewesen war im Rahmen einer studentischen Protestbewegung und die im Rückblick genauso unausweichlich wie lächerlich erschienen. Der Leistungsdruck, das wusste ich mittlerweile, war auch für die sibirischen Studenten enorm.[2] Die philologische Hochnäsigkeit einiger sibirischer Studenten sprach eine eindeutige Sprache. Auch die chinesischen Kommilitonen waren vom Leistungsdruck ausgezehrt und tagsüber immer völlig übermüdet, weil sie nachts unter den Anforderungen litten, die ihre Computerspiele an sie stellten. Vom Wettbewerb kaum gezeichnet waren einzig die kirgisischen Kommilitonen, vielleicht auch aufgrund der politischen Ereignisse in ihrem Heimatland.
So träumte ich vor mich hin und während sich der Beitrag zu meinem Lieblings-Autor als liebevolle Farce entpuppte, handelte mein Favorit vom Überflüssig-Werden. Schon zuvor, beim Blick auf das Programm, hatte ich mich auf den Vortrag gefreut. Wie sich nun herausstellte, war es der ukrainische Professor, der dieses interessante Thema aufwarf. Im ersten Teil des Vortrags ging es um Überflüssig-Sein in den Geisteswissenschaften. Das Gefühl, überflüssig zu sein, sei heute in den Geisteswissenschaft zurecht weit verbreitet. Natürlich gehörten Geisteswissenschaftler in besondere Weise zur überschüssigen Bevölkerung, eine Tatsache, die zu verdrängen, wie er mit einem Seitenblick auf mich mündlich hinzufügte, eine Flucht nach Sibirien auch nicht helfe. Man dürfe nicht verdrängen, dass die Arbeit des nackten Denkens eine Arbeit ohne Wert sei. Er schlug deshalb vor, die Universität in ihrer jetzigen Form, mit der Professionalisierung der Geisteswissenschaften, abzuschaffen. Die Universität solle sich öffnen für alle, die denken wollen, und zwar an einem dafür eingerichteten und für alle Berufsgruppen gültigen freien Tag in der Woche, den jene, die nicht denken wollen, auch nutzen könnten, um an den See zu gehen. Die Geisteswissenschaftler teilten ihre Überflüssigkeit nämlich, so der ukrainische Professor, mit vielen anderen Menschen und deshalb könne ihre Hilflosigkeit nur im Rahmen einer allgemeinen Umgestaltung der Gesellschaft überwunden werden, in deren Zentrum die allgemeine Halbierung der Arbeitszeit stehen müsse und die Ermöglichung des Denkens für alle.
Nach diesem stürmischen Beginn wurde der Vortrag meines ukrainischen Professors etwas nüchterner. Er sprach nun über Überflüssig-Sein als Lebensgefühl in Geschichte und Gegenwart. Hier sammelte er vor allem eine Reihe von literarischen Beispielen, die sich seit dem 16. Jahrhundert gehäuft haben. Im letzten Teil ging es dann um Überflüssig-Werden diesseits und jenseits Europas. Hier bezog er das Gesagte auf seine eigenen Lebenserfahrungen, seinen bisherigen Kampf mit dem Überflüssig-Werden, den er besonders in der Ukraine auch als einen politischen Kampf begreift. So endete sein Vortrag nicht so hoffnungsvoll wie er begonnen hatte und mündete schließlich gar in eine Serie militärischer Metaphern. Der letzte Satz, an den ich mich erinnern kann, lautete: „Das Öl muss immer etwas überfließen, damit die Maschine gut läuft“.
Am Abend traf man sich gemeinsam mit einigen bezahlten Bewohnern der Insel am Lagerfeuer auf einem kleinen Hügel und stimmte schamanische Gesänge und russische Volkslieder an. Völlig übermüdet, auch von der Lichtflut der nicht untergehenden Sonne, zogen mein ukrainischer Professor und ich uns recht früh in unser Zimmer zurück.[3] Mit einem tiefen Seufzen, das fast ein Heulen war und zum Ende hin ein kleiner, verzweifelter Schrei, verabschiedete er sich in den Schlaf.
***
[1] Nichts hatte mich in den ersten Monaten meines sibirischen Universitätslebens stärker aufgezehrt, als ohne eigenes Zimmer leben zu müssen. Zunächst teilte ich die zwölf Quadratmeter (für fünfzehn Euro monatlich) mit einem Syrer, der innerhalb Russlands zum sechsten Mal die Universität gewechselt hatte und nachts Neugierigen aus dem Wohnheim Videos davon zeigte, wie er gemeinsam mit Freunden Nazis verprügelte. Dann durfte ich zu einem Kirgisen wechseln. Die Kirgisen der neunten Etage – alle Ausländer waren auf der neunten Etage untergebracht – waren angenehme Gesellen, trotz ihrer massiven ökonomischen Probleme. Die kirgisische Wirtschaftskrise hatte im Frühjahr 2010 massive soziale Unruhen ausgelöst und zu Angriffen sowohl auf russische als auch auf amerikanische Militärbasen geführt. Gemeinsam mit den Kirgisen saß ich im Gemeinschaftsraum und schaute die Unruhen in ihrem Heimatland im Fernsehen an. So fiel mir die ununterbrochene Gesellschaft schon etwas leichter.
[2] Man könnte meinen, dass es ohne eigenes Zimmer leichter wäre, die konkurrenzförmige Isolation unter den Studenten zu überwinden und ein solidarisches Verhältnis zu entwickeln, aber das ist eine Legende. Über Monate kein eigenes Zimmer zu haben, war in aller Einfachheit eine schlimme Erfahrung, die mir den Sinn jener Pariser Vorstadt-Installation mit dem Titel Ich und Wir vor Augen führte: nichts als eine Hütte, die sich Hüter der Einsamkeit nennt und von Einzelpersonen zum Alleinsein und Nachdenken genutzt werden kann. Der Abstand zur Gemeinschaft ist die Voraussetzung ihrer Existenz.
[3] Im Bett liegend erzählte er mir noch empört, wie ein russischer Professor ihn einmal zum Essen eingeladen und beim Eintritt in die Wohnung dann gebeten habe, die Schuhe auszuziehen und in Pantoffeln zu schlüpfen. Das wertete mein ukrainischer Professor als klares Zeichen eines unverzeihlichen Zivilisationsmangels.
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