September 20, 2019 - 1 Kommentar
Als ich Sergej das letzte Mal sah, war es Sommer. Er war nach Berlin gekommen, um Fahrrad zu fahren. Nach seinen ersten Rundfahrten bat er mich, ihm das russische Berlin zu zeigen, also fuhren wir gemeinsam nach Marzahn – in ein Stadtgebiet, das für seine Armut und Kriminalität berüchtigt ist. Doch Marzahn überraschte mich mit strahlender Sonne, guter Luft und vor allem den Resten einer architektonischen Utopie der Neuorganisation des kommunalen Raums, der eine erkennbar sowjetische Prägung hat. Das Zentrum der Wohnsiedlung bildet ein kleiner, nach dem bereits 1933 in Dachau ermordeten Kommunisten Franz Stenzer benannter Fußgängerpfad mit Kleingewerbe mitten durch die riesigen Plattenbauten. Er verleiht der Gegend die Atmosphäre eines Feriendorfs. Nur ist er heute zur Seite der S-Bahn-Station hin durch ein großes Einkaufszentrum begrenzt und verborgen. Sergej war jedenfalls froh, fast erleichtert, in Marzahn zu sein. Es war nach einer Woche Berlin für ihn ein Stück Vertrautheit: „Wie zuhause“. (mehr …)
September 13, 2018 - Keine Kommentare
.Dieser Artikel erscheint zugleich auf Literaturwissenschaft in Berlin.
Die Klage über die Arbeitsverhältnisse an deutschen Universitäten wurde in den letzten Jahren immer lauter. Regelmäßig erfahren auch im Feuilleton kritische Stimmen aus dem Mittelbau ein großes Echo. De facto geändert hat sich bisher jedoch wenig. Nicht zuletzt in Reaktion auf eine Podiumsdiskussion beim letzten Germanistentag 2016 in Bayreuth widmet sich das neueste Heft der Mitteilungen des deutschen Germanistenverbands unter dem Titel Prekär. Berichte, Positionen und Konzepte zur Lage des germanistischen ›Mittelbaus‹ nun dem Thema und lässt dabei Stimmen aus allen Statusgruppen zu Wort kommen. Inwiefern betrifft das Problem gerade auch die Germanistik? Lenkt die Forderung nach mehr Geld nicht von den eigentlichen Konfliktfeldern ab? Und welche alternativen Modelle werden derzeit diskutiert? Roman Widder hat mit Mark-Georg Dehrmann, Professor für Neuere Deutsche Literatur an der HU Berlin und einer der Herausgeber der Mitteilungen, über das Heft und seine eigenen Vorschläge gesprochen.
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Juni 15, 2015 - Keine Kommentare
Roman Widder (mehr hier) hat ein Jahr in Sibirien studiert. Die Tagung, von der er hier berichtet, fand in dieser Zeit statt. Die Bilder sind Fotografien von Landschaftsmalereien, die auf Olchon den öffentlichen Raum schmücken. Wir setzen mit dem Text unsere Begleitung des Heftschwerpunkts "Zur Lage der Universität" fort. (d. Red.)
Kurz vorm Übersetzen auf die heilige Insel Olchon stiegen alle aus, um sich durch einen Schluck Wodka zu weihen. Bald nachdem die Fähre unseren Reisebus auf der Insel abgesetzt hatte, wurde die Straße zu unwegsam. Den Rest der Strecke mussten wir laufen und unsere Rollkoffer durch die sengende Hitze tragen. Am Anfang war das Grüppchen der Wissenschaftler noch eine geschlossene Gemeinschaft. Schnell aber zeigten sich die unterschiedlichen Leistungsvermögen. Auch ich legte regelmäßig Pausen ein. Einige ließen sich von Bewohnern der umliegenden Dörfer ihre Trinkflaschen mit Wasser nachfüllen. Nachdem ich im Bus die ganze Zeit geschwiegen hatte, ergab sich nun ein freundliches Gespräch mit einem ukrainischen Professor. Er versuchte mir gegenüber höflich zu bleiben, fluchte aber bereits still vor sich hin. Wenn der Atem tief wird und die Zunge langsamer, dachte ich mir, fallen eben manchmal ganz andere Wörter heraus als gewöhnlich. Am Straßenrand standen gelegentlich seltsame Schilder mit Landschaftsbildern, die Olchon und den Baikalsee zeigten. Auf und hinter den Bildern also dasselbe: Meer, Sand und Klippen, wilde Pferde und Fischgeruch.
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