Indigene Stammeskulturen

Vor kurzem stellte Giuseppe Bianco in Paris sein Buch Après Bergson. Portrait de groupe avec philosophe vor. Es wird, davon ist auszugehen, die Art und Weise ändern, wie in Frankreich über die Rezeption und Aneignung von Bergsons Denken gesprochen wird. Aber diese Veränderungen brauchen Zeit. Im Augenblick staune ich noch über Giuseppes neuen Look, während er seine Recherchen dem Publikum im Saal erläutert. Die Haare sind länger geworden und werden jetzt nach hinten gegelt. Ich weiß gar nicht, wie man die Farbe seines Hemdes nennen sollte: ein ganz blasses Pink, eigentlich fast schon weiß. Steht ihm. Später will ich wissen, woher er es hat, Acne, A.P.C., Sandro? Er schaut etwas erstaunt, weist derartige Unterstellungen zurück und antwortet: Zara.

Nach der Präsentation gab es einen kleinen Empfang im Untergeschoss der philosophischen Fakultät der École normale supérieure. Es ist eine Art Aufenthaltsraum. Ich bin froh, dass sich die Tür zum Hof nach zwei Versuchen recht leicht öffnen lässt. Den französischen Unis, selbst den grandes écoles, fehlt es an Geld. Die Canapés werden zwar kleiner, aber das Essen deshalb nicht schlechter. Und es wird immer rosbif geben, dazu wird Estragonmayonnaise serviert, Weinflaschen werden geöffnet. Ich stehe eine Stunde am Buffet, esse still vor mich hin und bin zufrieden.

Fréderic Worms hatte ich zuletzt vor einem Jahr gesehen. Er lächelt, freute sich, dass er die Arbeit seines Doktoranden Giuseppe in der von ihm betreuten Reihe „Philosophie française contemporaine“ bei den Presses Universitaires de France unterbringen konnte. Frédéric trägt ein Hemd, das genauso violett ist wie das Cover von Über Leben, einer Sammlung von Worms‘ Essays zum kritischen Vitalismus, die Victoria und ich für Merve übersetzt haben. Ich war mir absolut sicher, dass wir damit berühmt werden würden. Dann erzählte mir Tom, dass von einem erfolgreichen Mervebuch ungefähr 700 oder 900 Exemplare verkauft werden. Wäre es Musik, würde das wohl nicht ausreichen, um Spotify mit der Drohung, sie nicht länger dem Streamingdienst zur Verfügung zu stellen, in die Knie zu zwingen. Frédéric bietet mir an, doch ein paar Weißbrote mit nach Hause zu nehmen. Wie nett, denke ich, aber eigentlich will ich mehr. Wie beim letzten Mal, weißt du noch, als wir bei dir zum Essen eingeladen waren, Champagner tranken und ausnahmsweise sogar im Haus rauchen durften? Lass uns das nochmal machen.

Alain Badiou blieb dem Book Launch fern. Seine Verbindungen zum Internationalen Zentrum für französische Gegenwartsphilosophie (CIEPFC), das die Buchvorstellung organisierte, hat er weitgehend gekappt. Es muss wohl in gegenseitigem Einvernehmen passiert sein, wie Scheidungsanwälte sagen. Auch Badious Seminar findet nicht länger an der ENS statt, sondern in „La Commune“, einem Theater in der Pariser Vorstadt. Wer allerdings vorbeischaute, war Quentin Meillassoux. Er stand da und war eigentlich wie immer: Richtig angenehm scheint er soziale Situationen eigentlich nie zu finden, aber er versucht trotzdem das Beste daraus zu machen. Gleichzeitig ist der Mann international gefragt wie nie: Zahlreiche amerikanischen Universitäten haben Meillassoux äußerst lukrative Angebote gemacht, aber ihn interessiert das nicht sonderlich. Und wenn er noch einmal darlegt, warum er in Paris bleiben wird, leuchtet seine Entscheidung auch unmittelbar ein. Nimmt man die Lehrverpflichtungen ernst, gehe für die Vorbereitung der Seminare und Vorlesungen unglaublich viel Zeit drauf. Und in den verbleibenden Stunden und Tagen will er einfach lesen. Er verlässt den Empfang früh, um „seine Töchter zu füttern“.

Von Tássia, Giuseppes Freundin, hatte ich schon viel gehört. Hier treffe ich sie zum ersten Mal. Sie ist Psychologin, kommt aus Brasilien, und hat in Paris die Psychoanalyse für sich entdeckt, obwohl Lacan auch in Lateinamerika ein Riesending sei, vor allem in Brasilien und Argentinien. Es gebe sogar ziemlich viele christliche Lacanianer. Was nur auf den ersten Blick überrascht. Für Cord, Andreas und Tom – alles Atheisten – funktionieren Lacans Texte wie eine spirituelle Übung. Lacan habe ich kaum gelesen, es auch immer wieder verschoben. Und wo soll man überhaupt anfangen? Bei den Écrits? Olivier kommt dazu, nimmt sich etwas Roastbeef und empfiehlt zur Einführung L’œuvre claire von Jean-Claude Milner, einem Lacanschüler.

Die christliche Kirche in Brasilien ist sehr synkretistisch. Sogar für Ayahuasca ist sie empfänglich. In den Gottesdiensten der Santo Daime-Gemeinden gehört die halluzinogene Droge, die traditionell von Amazonas-Indianern verwendet wird, zu den Sakramenten. Glauco Villas Boas, einer der bekanntesten Karikaturisten Brasilien, war bereits seit vielen Jahren ein aktives Mitglied der Sainto Daime-Kirche, als er 2010 tot aufgefunden wurde. Ein psychisch gestörter Sprössling einer wohlhabenden Familie aus Sao Paolo hatte ihn erschossen. Ayahuasca ist in Brasilien zu einer regelrechten Hipsterdroge geworden. Studenten, Künstler, Werbeleute, Schluffis – alle trinken das aus einer Liane zubereitete Gebräu, ob nun gegen Depressionen oder einfach, weil man anders unterwegs sein möchte. Muss aber eine ziemliche Sauerei sein, das Ganze. Vom obligatorischen Erbrechen wusste ich bereits. Aber zu absolut unkontrolliertem und unkontrollierbarem Durchfall komme es genauso regelmäßig, meint Tássia. Auf Dauer habe das die Atmosphäre in ihrer WG verändert. Wenn irgend möglich, möchte ich den leuchtenden Pfad zur geistigen Heiterkeit ohne Diarrhö abschreiten.

Ayahuasca hat auch außerhalb Brasiliens längst seinen Siegeszug angetreten. Der Droge gelang, was LSD verwehrt bliebt: Sie ist in das Luxussegment der Wellnessindustrie vorgestoßen. In ihrer Hochglanzbeilage „how to spend it“ berichtete die Financial Times 2014 von einer neuen Generation von luxury retreats in Mexiko. Der Ansatz ist ganzheitlich. Zum Repertoire gehören nicht nur Massagen, sondern auch Einläufe und eine von einem „erfahrenen Schamanen“ durchgeführte Ayahuasca-Zeremonie. Für 5000 Dollar ist man dabei.

Irgendwann ist von Pierre Clastres die Rede. Olivier schwärmt von einem Freund, der über das Verhältnis des 1977 verstorbenen französischen Anthropologen zu Ayahuasca promoviert. Auch Tássia erwähnt umgehend Bekannte, die zu Clastres arbeiten. Ich erinnere mich daran, in Clastres‘ Nachlass im IMEC-Archiv einen Forschungsantrag gefunden zu haben. Darin bat Clastres seine Vorgesetzten bei der französischen Forschungsgemeinschaft CNRS inständig um die nötigen finanziellen Mittel für eine groß angelegte Feldstudie zum Gebrauch psychotropischer Substanzen in den Amazonas-Gesellschaften, mit denen sich Clastres seit den sechziger Jahren ausgiebig beschäftigt hatte. Ohne ein immersives Ayahuasca-Forschungsprojekt werde man die „politischen Vorstellungswelten“ dieser Gesellschaften nie durchdringen. Der Antrag wurde abgelehnt.

Sechs Jahre ist es her, dass Peter Sloterdijk mit der Forderung nach einer „Revolution der gebenden Hand“ eine Debatte über Sinn und Unsinn der Umverteilung durch Steuern provozierte. Er hatte wohl geahnt, dass sich die Reaktionen auf Empörung und Unverständnis beschränken würden: Mehr als eine rückwärtsgewandte Verteidigung des bundesrepublikanische Sozialstaatsmodells sei von seinen Kontrahenten nicht zu erwarten. Und in der Tat begnügt sich Axel Honneth in seiner Erwiderung nicht zuletzt mit der Würdigung der intellektuellen Repräsentanten, die „in der ‚alten‘ Bundesrepublik […] als allgemeine Fürsprecher einer Umverteilungspolitik“ in Erscheinung getreten sind. Diese Ehrenrettung des sozialdemokratischen Zeitalters bleibt erstaunlich defensiv.

Bei seinem Versuch, „die unerhörte Aufblähung der Staatlichkeit in der gegenwärtigen Welt zu ermessen“, kommt der widerwillige Sozialdemokrat Sloterdijk selbst auf die „historische Verwandtschaft zwischen dem frühen Liberalismus und dem anfänglichen Anarchismus“ zu sprechen. Die systemische Umstellung von Zwangssteuern auf freiwillige Gaben – „Geschenke an die Allgemeinheit“ – würde, so Sloterdijks These dem Stolz der Leistungsträger ein weitaus besseres Betätigungsfeld bieten. An einem derartigen „Gedankenexperiment“ wollte Honneth sich auf keinen Fall beteiligen. Zur Debatte im engeren Sinne kam es dann auch nicht.

Man kann Sloterdijk durchaus auf seinen staatsskeptischen Wegen tief in anthropologische Gefilde folgen und trotzdem zu ganz anderen Schlussfolgerungen kommen. Wenn Sloterdijk Spenden „als Friedensprämie für eine von Ungleichheitskonflikten bedrohte Gesellschaft“ definiert, würde Pierre Clastres ihm beipflichten. Aber wie lässt sich ein solcher Gabenkomplex ohne staatlichen Zwang einrichten? Wie sähe ein System aus, das die Großzügigkeit der Leistungsträger gesellschaftlich flankiert?

Im Jahr 1975 verfasste Clastres ein Vorwort für die französische Ausgabe von Marshall Sahlins‘ Stone Age Economics.[1] Der US-amerikanische Anthropologe hatte einige Jahre zuvor eine Einladung an das Collège de France erhalten, die auf Claude Lévi-Strauss zurückging. Dort machte auch Clastres Bekanntschaft mit Sahlins, dort entstand das Projekt, sein Buch ins Französische übersetzen zu lassen. In seinen einführenden Kommentaren unterstreicht Clastres, wie revolutionär Sahlins‘ wirtschaftsanthropologische Arbeiten waren.

Viel zu oft gingen Anthropologen davon aus, dass indigene Stammeskulturen auf einer prekären Subsistenzwirtschaft basierten, deren Fortbestand ständig in Frage stand. Diese Jäger, Sammler und brandrodenden Bauern, so das vorherrschende Bild, brachten ihre Tage damit zu, ihre elende Existenz mehr schlecht als recht zu sichern. Für Sahlins deckte sich diese Lehrmeinung keineswegs mit seinen eigenen Beobachtungen in Afrika und Melanesien. Vielmehr habe er mit genuinen „Wohlstandsgesellschaften“ zu tun gehabt.

Auch wenn diese Gesellschaften extrem egalitäre Strukturen aufwiesen, kam, wie Clastres bemerkt, ihren Anführern eine eigentümliche Rolle zu. Politisch waren sie nämlich völlig machtlos. Die übrigen Stammesmitglieder schuldeten ihnen keine Gefolgschaft. Wozu dann aber überhaupt eine so eminente Stellung, die aller klassischen Insignien der Macht entledigt ist? Was treibt sie an? Den Anführern ging es ums Prestige, das vor allem aus zwei Aktivitäten resultiert: Eloquenz und Arbeit. Die meisten anderen Stammesangehörigen verwendeten pro Tag nicht mehr als fünf Stunden auf ihren Lebensunterhalt. Ohne Neid, sondern voller Bewunderung blickten sie auf die Leistungsträger, die noch schufteten, als die anderen längst in der Hütte saßen.

Ohne den Einsatz dieser Mehrleister, den melanesischen big men, wäre der gesellschaftliche Wohlstand kaum möglich gewesen. Doch Anerkennung findet diese Arbeit nur, wenn zwei Bedingungen erfüllt sind. Der Anführer kann andere nicht zur Mitarbeit zwingen, sondern verrichtet die produktiven Tätigkeiten aus eigenem Antrieb und „im Schweiße seines Angesichts“, wie Sahlins schreibt. Noch wichtiger aber ist, dass die Früchte dieser Arbeit großzügig den anderen überlassen werden. Je üppiger die Gabe an die Gesellschaft, desto größer das Ansehen. Der Reichtum der big men bemisst sich an dem, was sie nicht länger besitzen, weil sie es verschenkt haben. Die Gesellschaft honoriert diese gnadenlose Selbstausbeutung mit Ansehensgewinnen.

Es ist dies die von „Einsicht und generösem Beitragswillen getragene aktive Gebe-Leistung zugunsten des Gemeinwesens“, von der auch Sloterdijk träumt.[2] Nur eine Elite, die sich bis an die Grenzen der eigenen Belastungsfähigkeit (und darüber hinaus) physisch und ökonomisch verausgabt, hat eine Daseinsberechtigung – bei gleichzeitiger Befriedigung ihrer Stolzbedürfnisses durch die Gesellschaft.

 

[1] Pierre Clastres, Age de pierre, âge d’abondance. L’économie des sociétés primitives, Paris, Gallimard 1976, S. 11-30.

[2] Um das Reich der Freiwilligkeit überhaupt geht es aber weder Clastres noch Sloterdijk. Der Zwang verschwindet nicht aus der Welt. Bei beiden werden gesellschaftliche Verpflichtungen als Schuldenverhältnis gedacht. Sloterdijk sieht den alten Konflikt von Kapital und Arbeit zunehmend vom Gegensatz zwischen Gläubigern und Schuldnern überlagert. Das Ökonomische kommt so zu seinem politischen Recht, wie die jüngsten Wendungen der europäischen Krise nachdrücklich unterstreichen. Clastres hingegen hält Schulden für einen Kategorie des Politischen. Seine Gesellschaftstheorie beruht auf einer grundlegenden Unterscheidung, die sich aus dem sens de la dette ergibt – dem Sinn, aber auch der Richtung, in die das Schuldenverhältnis wirkt. Staatenlose Gesellschaften zeichnen sich dadurch aus, dass alle, die sich über das egalitäre Credo erheben und Führungspositionen beanspruchen, sich gerade dadurch gegenüber der Gesellschaft verschulden. Die Heraufkunft des Staates läutet ein neues Zeitalter ein, in dem sich dieser Zusammenhang umkehrt. Die Herrscher pochen nun darauf, dass ihre Untergebenen in ihrer Schuld stehen und deshalb einen Tribut (in Form von Gütern oder Zwangsarbeit) zu entrichten haben. Das (christlich aufgeladene) Zusammenspiel von Schuld und Schulden, für das sich zahlreiche aktuelle Forschungsarbeiten interessieren, spielt bei Clastres keine Rolle. Im Französischen fällt Schuld (faute) und Schuld (dette) eben nicht in ein Wort.