„Out of the Bars“ – San Francisco am 12. Juni 2016
Die Ecke Castro Street und Market Street ist die wohl schwulste Ecke der USA. Hier, am Fuß der Twin Peaks in San Francisco, weht weithin sichtbar eine riesige Regenbogenfahne. Einen Block weiter lag früher der Fotoladen, den einmal Harvey Milk betrieb, bevor er als erster schwuler Mann zum Stadtverwalter San Franciscos gewählt wurde. Wenn man die Market Street herunter sieht, die im Juni für San Francisco Pride ebenfalls festlich mit Regenbogenfahnen beflaggt ist, fällt der Blick auf die goldene Kuppel der City Hall, wo Milk und Bürgermeister George Moscone im November 1978 erschossen wurden.
Der Mörder war Dan White, Ex-Polizist und Lokalpolitiker. An dem Tag, an dem er mit einer Haftstrafe von gerade einmal sieben Jahren für zwei vorsätzliche Morde davonkam (von denen er nur 5 Jahre absaß), und an dem das Urteil über den Polizeifunk noch von Whites ehemaligen Kollegen gefeiert wurde, explodierte die Situation. Wie so häufig erschallte entlang der Castro Street die Parole „Out of the bars, into the streets“. Macht das Persönliche politisch, sollte das heißen – wer entlang der Castro Street die Bars frequentierte, war in der Pflicht, auch generell für schwul-lesbische Belange aktiv zu werden.
Von der Castro Street ging es entlang der Market Street bis vor den Tatort City Hall. Dort steckte die Menge Polizeiwagen in Brand und warf die Scheiben des Gebäudes ein. Die offiziellen Repräsentanten der Gay Community hatten versucht, die „White Night Riots“ zu verhindern. Als aber die Medien am darauffolgenden Tag um eine Stellungnahme baten, blieben die von ihnen erwarteten Entschuldigungen aus. „Harvey Milks Leute müssen sich nicht entschuldigen. Die Gesellschaft wird uns nicht mehr als nette kleine Tunten behandeln können, die Haare stylen, sondern als Menschen, die Gewalt ausüben können“, sagte Milks Nachfolger Harry Britt.
Am 12. Juni, dem Tag nach der Ermordung von 49 vor allem schwulen oder lesbischen Menschen in der Diskothek Pulse in Orlando, setzte sich wieder ein Menschenzug auf der alten Marschroute der „White Night Riots“ in Bewegung. So hatte man die homophobe „Proposition 8“ 2008 begrüßt, so hatte man die Verhandlung der Homo-Ehe vor dem obersten Gerichtshof begleitet. Während die Redner den Tross anfeuerten, hörte man mehr als einmal: „I thought we were done with this route for now.“
Der zornige, traurige Protest, das trotzige Gedenken an die Brüder und Schwestern in Orlando, sie sagen viel aus über das, was sich geändert hat in der LGBT-Community, und was gleichgeblieben ist. Der alte Slogan „Out of the bars, into the streets“ hatte klar ausgedient, zumindest der Teil mit den Bars: Wenige junge, politisch aktive Schwule können sich das Leben entlang der Castro Street leisten, sie mussten mit den öffentlichen Verkehrsmitteln aus Oakland oder von noch weiter her anreisen. In den Bars und Cafés tummeln sich genauso viele heterosexuelle Pärchen in Yoga-Hosen wie Schwule und Lesben. Die Castro Street als politisch schlagkräftige Konzentration einer Subkultur, die von einem Moment auf den anderen überkochen kann, gibt es effektiv nicht mehr.
Aber auch die Straßen hatten sich verändert. Die Marschroute entlang der Market Street macht das Paradoxe dieser Situation augenfällig. Die Protestierenden trugen ihre Regenbogenfahnen vorbei an Hunderten bereits vorhandenen Regenbogenfahnen: Die Stadtverwaltung hatte sie für Pride Month gehisst. Das einst oppositionelle Symbol war zum Zeichen offizieller Anerkennung geworden, aber das hatte den 49 Toten in Orlando auch nichts geholfen. Die Anerkennung durch den Staat hatte Dan White und seine Pistole nicht von Harvey Milks Büro ferngehalten, und sie hatte Omar Mateen, seinen Hass, Selbsthass oder was es auch immer war, nicht aus der Diskothek fernhalten können.
Abstrakte Rechte hatte man sich erstritten und im Taumel darüber beinahe vergessen, dass sich jene, die Schwule und Lesben ermorden, nur selten um Rechte scheren. Die Marschierenden wirkten geschockt, aber vor allem davon, dass sie geschockt waren. Davon, dass sie sich in Sicherheit hatten wiegen lassen von einer Politik, die sie ernstnahm, einen Präsidenten, der für sie einstand, einer öffentlichen Meinung, die sich immer mehr auf ihre Seite schlug, wo sie es doch eigentlich besser hätten wissen müssen.
Viele von denen, die hier marschierten, gehören zu den Gewinnern der bürgerrechtlichen Revolution der letzten zehn Jahre: schwule Männer und lesbische Frauen, mit neuen Rechten versehen, im Job akzeptiert und gleichberechtigt. Für sie war Orlando der Anlass, wieder auf die Straße zu gehen – andere hatten sie nie verlassen. Die Transgender-Community, zum Beispiel, die sich die amerikanischen Konservativen nach irgendeiner unterweltlichen Logik als nächstes Ziel des Hasses und der Benachteiligung ausgesucht haben. Oder die armen, mexikanischen oder schwarzen Schwulen und Lesben, die zwar in Kalifornien nicht mehr aufgrund ihrer Sexualität benachteiligt werden dürfen, die aber genauso oft von der Polizei drangsaliert und ermordet werden wie ihre heterosexuellen Familienmitglieder; die Kids, die, von ihren Familien verstoßen, obdachlos in San Francisco vegetieren.
Nachdem die Homo-Ehe höchstrichterlich in der Verfassung verankert wurde, befürchteten viele, dass die LGBT-Community ins Apolitische abdriften könnte, dass die Dialektik zwischen den Bars und der Straße, zwischen Hedonismus und Aktivismus, die die Bewegung über vierzig Jahre so vital hielt, verloren gehen könnte.
Orlando hat diese Gefahr, so sie denn existierte, gebannt. Auch wenn die mittelalten Herren, die mit Zwillings-Kinderwagen oder Hund an der Leine mit den Drag Queens und den jungen Latinos mitzogen, es beim Zubettgehen am 11. Juni vergessen gehabt haben mögen, rief ihnen der Morgen des 12. Juni die Tatsachen wieder ins Gedächtnis: dass das rote Kreuz um Blutspenden bat, dass aber schwules Blut immer noch nicht gespendet werden darf; dass eine lesbische Frau in Florida, die über Facebook ihre Solidarität bekundet, am nächsten Tag von ihrem Chef gekündigt und von ihrem Vermieter aus der Wohnung geworfen werden kann, ohne dass Chef oder Vermieter sich strafbar machten.
Und sie wussten, wie schnell die Medien das Schlaglicht von den Opfern abziehen würden, wie schnell vergessen sein würde, dass Mateen Schwule, Lesben und Trangenders ermordet hatte – es würde um „Terroristen“ gehen, die „uns alle“ bedrohen, und die Schwulen sollten sich mal nicht so haben. Noch schneller würde in Vergessenheit geraten, dass es insbesondere Latinos waren, nicht weiße, schwule Rechtsanwälte und Professoren, die im Pulse umkamen.
Menschen also, deren Rückzugsräume äußerst beschränkt sind, beschränkt wahrscheinlich auf die paar Quadratmeter, die Mateen in eine Schlachtbank verwandelte. Und dass diese Rückzugsräume für diese Community auch ein Nachtasyl darstellten gegen den orangefarbigen Mussolini, der den Anschlag gleich für Propaganda missbrauchte. Dass er und seine Jünger die dort Hingemetzelten nicht für echte Amerikaner halten, haben sie gerade lang genug vergessen, um sie für ein paar Tweets über „Islamofaschismus“ zu instrumentalisieren.
Und so sah man entlang der Market Street auch schon Plakate wie „Queers against Islamophobia“. Denn die LGBT-Community kennt das Script: Die Schuld am „Proposition 8“-Entscheid, der schon zugestandene Rechte einfach wieder einkassierte, wurde der schwarzen und Latino-Community zugeschoben – was Unfug ist. Und Homophobie wird immer dann als Sorge entdeckt, wenn man damit syrische Flüchtlinge aus den USA fernhalten kann – oft genug kommt die angebliche Sorge von Menschen, die in Sachen Schwulenrechte von eben jenen Syrern noch einiges lernen könnten.
Und doch, bei aller Bitterkeit über das „Schon Wieder“: Als der Tross in die Van Ness Avenue einbog, merkte man auch, wie weit man sich, trotz gleicher Marschroute, von der White Night fortbewegt hatte. Fast einen Kilometer weit staute sich der Verkehr, und als sich der Zug City Hall näherte, erhob sich ein solidarisches Hupkonzert. Trucker winkten aus ihren Kanzeln, ein im Stau festsitzender Biker-Club ließ die Motoren röhren. Und über allem thronte City Hall, in allen Farben des Regenbogens angestrahlt. Ein Polizist, der mitgelaufen war, machte Fotos – für seinen Mann, erklärte er.
Und dann konnte man nur noch denken, wie anders es alles mittlerweile ist: die Solidarität mit der LGBT-Community, aber auch die Solidarität der Community mit anderen – mit Latinos, mit Muslimen, mit Befürwortern von strikteren Waffengesetzen. Die Schwulen und Lesben haben lange für ihre Rechte gestritten und werden es noch lange tun müssen; aber die Reaktion auf Orlando scheint auch zu zeigen, dass sie für die Rechte anderer streiten werden, selbst wenn es ihnen selber gut geht. Und das macht sie, so fühlte es sich zumindest vor dem regenbogenfarbig angestrahlten Marmorpalast der City Hall an, zu mächtigen Verbündeten. Denn die LGBT-Community weiß genau, dass man, wenn man seine Verzweiflung statt in Ducken in ein Aufbäumen ummünzt, Berge versetzen kann. Out of the bars, into the streets.
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