Klagenfurt, Tag 1: Rausgehen

Rausgehen. Nach Klagenfurt fahren. Ein fiebriges Kind bei den anderen zuständigen Sorgearbeiter*innen lassen oder eher: in Form von schlechtem Gewissen mitnehmen. Beim nächtlichen Vier-Stunden-Aufenthalt in Salzburg wieder merken, dass es auch Zugfahrten jenseits der Strecke München-Berlin gibt, dass es also Kilometer gibt, obwohl es zum selben historischen Zeitpunkt auch Internet gibt. So sind wir hierher gekommen, das ist das schwache Wir, das hier postet. „Am Rande der Erschöpfung weiter“, so ist Reinhard Baumgarts Klagenfurt-Bericht für den Merkur von 1980 überschrieben.

Und auch dieses Hier, dieses Klagenfurtdings, das merken wir sofort, geht mittlerweile raus. Verortungen sind eher schwach als stark. „Nahe der südlichen Grenze des deutschen Sprachgebiets“ ist fast schon aperol-spritziger Urlaub und gleichzeitig gibt es diese volle Textkonzentriertheit und diesen absurd blauen See. Die „Hunger Games der deutschsprachigen Literatur“, so irgendein Tweet heute, finden natürlich genauso sehr dort, also auf Twitter statt, und im Fernsehen, in den Feuilletons vielleicht auch noch. Das Real-Bühnenbild, irgendwo zwischen 80er-Debatten-TV (falls es so etwas gab) und imperialem Star-Wars-Konferenzraum (die Tür!!), heißt, sorry, „Reise“. Bei der Anmoderation eines nächsten Texts verlassen zahlreiche Zuschauer*innen das Studio. Draußen wird wieder klar: Es war ja total egal, dass sie drinnen waren, obwohl die ganze Inneneinrichtung von diesem Innen so überzeugt war.

Das war ja auch die ganze Idee von Klagenfurt: Rausgehen, weg, Erfahrungen machen. Davon berichten, als gut gemachter Text, der auch herzeigt, dass er gut gemacht ist, gut genug, um dieses ganze Draußen völlig unversehrt zu verkraften. Literatur als Lehrjahr im ganz anderen Raum. Und irgendwo wird das hier auch noch verteidigt, aber es ist nicht ganz klar: Von wem eigentlich? Wogegen? Wir sind doch längst schon draußen am See und hier werden keine Erfahrungen gemacht, hier schaut man sich was an und das ist erst mal okay.

In gewissem Sinne, und an weniger privilegierten Orten war das immer schon viel deutlicher und schmerzhafter, waren wir auch davor schon draußen. Diese Wände, die irgendwie so ein Drinnen machen, in dem man abhängen kann, funktionieren nur für manche Isolations-Privilegierte und gegen Twitter helfen sie auch überhaupt nicht. Für die Protagonistin in Stefanie Sargnagels Text ist zum Beispiel die eigene Wohnung nicht etwa der Ort, an dem sie sich von den Strapazen von Beisl und Zumba erholt, sondern dort wartet die Lohn- und Schreibarbeit mit den brutalen Anforderungen nicht nur an die Zeit, sondern auch an die Authentizität. Das merkt man Sargnagels Text selbst an, der sich von seinem „natürlichen“ Lebensraum, der kleinen Form des sozialen Netzwerks, ins unsexy Setting in Klagenfurt herüberschwingt: So kommt Sargnagels Text von einem heftig zerstreuten Draußen, aber er lässt sich darauf ein, dieses Draußen so zu verpacken, dass die Jury im üblichen Klagenfurt-Modus damit umgehen kann. Wo dieser Text herkommt, in welches Netzwerk er gehört, braucht hier nicht zu interessieren, er wurde ja gerade vorgelesen.

Im Gegensatz dazu fast allergisch reagiert die Jury (und Twitter auch) auf Sascha Machts Authentizitätsverweigerung vor lateinamerikanischer Postapokalypse: „So spricht doch niemand“ ist das Verdikt über den Protagonisten, der am Telefon zu seiner Schwester sagt „dass ich mich für einige Zeit von der Universität zurückziehen wolle, um mein Verhältnis zu Forschung, Lehre und akademischer Verwaltung neu zu überdenken, meinen Geist zu ordnen und wieder Kraft zu sammeln“. Natürlich spricht so niemand! Aber trotzdem machen vielleicht auch unauthentische Erzähler*innen einen Punkt, gerade hier. Zwischen See und Sender, Kameras und Twitter-Timeline braucht es keine Echt- und Formfantasien, sondern schwache Texte. Schwache Texte, die gar nicht so genau wissen, wo drinnen und wo draußen ist.