Siedeln zwischen Vergangenheit und Zukunft. Anmerkungen zu Herzog & de Meurons Entwurf für das Kulturforum

Was ist eine Scheune? Seitdem ich an einem kleinen Buch zur Scheune arbeite, [1. Aktuelle Recherchergebnisse und Trouvaillen sind auf dem Blog barnology.tumblr.com versammelt. Für Einsendungen und Hinweise bin ich dankbar und stelle die mit Einverständnis gern mit namentlicher Nennung ein.] habe ich diese Frage verschiedenen Architekturtheoretikern und Architekten gestellt. Mindestens von letzteren erntet man bislang lediglich ein Schulterzucken. Auch musste ich feststellen, dass diese so merkwürdige wie ubiquitäre Gebäudeform bislang weder in die Bücher der Architekturtheorie noch der Architekturgeschichte Eingang gefunden hat. Der Grund für dieses Desinteresse liegt nicht zuletzt im Urheberrecht: die Schöpfungshöhe für eine Scheune ist zu gering. Selbst den Bauingenieuren ist sie zu profan. Das Standardwerk zur Bauentwurfslehre „Neufert“ [2. Ernst Neufert, Bauentwurfslehre: Grundlagen, Normen, Vorschriften, ed. Johannes Kister et al. (Berlin, Heidelberg: Springer Verlag, 2015)] erwähnt sie nur mit zwei mageren Zeilen.

Dass die Schöpfungshöhe einer Scheune jedoch durchaus beachtlich sein kann, haben unlängst Herzog & de Meuron mit ihrem umstrittenen Entwurf für die Bebauung des Kulturforums in Berlin bewiesen. Zwar wird das geplante Gebäude im Erläuterungsbericht der Architekten auch als Tempel, Lager- oder Bahnhofshalle bezeichnet, [3. “Der Siegerentwurf:,” Nationalgalerie20: Museumsneubau Am Berliner Kulturforum, October 27, 2016, http://www.nationalgalerie20.de/realisierungswettbewerb/1-preis/.] aber es war die dort genannte Scheune, die im öffentlichen Diskurs die Imagination auf sich zog. Der Architekturkritiker der FAZ Niklas Maak nannte dieses Wort „irritierend“ [4. Niklas Maak, “Museumsentscheidung: Soll Berlin ländlich werden?,” Frankfurter Allgemeine Zeitung, October 29, 2016, http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/museumsentscheidung-soll-berlin-laendlich-werden-14502398.html] und Markus Woeller erkannte in der Welt auf mutige „Respektlosigkeit.“ [5. Marcus Woeller, “Wie Man Einen Architekturwettbewerb Gewinnt – Herzog & de Meuron Bauen Museum Der Moderne in Berlin,” Die Welt, Oktober 28, 2016]

Was ist also eine Scheune und warum ist sie so irritierend und respektlos?

Scheunen sind zunächst einmal Strukturen ohne Menschen. Sie sind schwache Organisationen zwischen Innen und Außen, halten den Regen und den Wind ab, aber bieten kaum Schutz vor Kälte. Sie sind ohne Fundament und off the grid: ohne Wasser- und Stromanschluss und häufig sogar abseits von Wegen gelegen. Sie haben keine Feuerstellen, hier wird keine Glut geschürt und kein Herd betrieben. Scheunen sind keine Häuser und in ihnen wird nicht gewohnt. Wenn sich dennoch Menschen in Scheunen aufhalten, wird die soziale Ordnung außer Kraft gesetzt: Feste, illegitime Liebeleien, Vagabunden, Selbstmörder, Monster und Zombies sind hier anzutreffen.

Als scheinbar insignifikante Kulisse sind Scheunen in Filmen und der Literatur fester Bestandteil des Repertoires, und Leser wie Zuschauerinnen wissen: wo Scheunen auftauchen, hat Transgression statt. Oft genug sind dabei die räumlichen und zeitlichen Apriori mit suspendiert und es ist unklar, wo man sich befindet.

Das gilt auch für eine der berühmtesten Scheunenszenen der Literatur. Im Doktor Faustus legt Thomas Mann die deutsche Jugend ins Scheunenstroh. Natürlich geht es im Gespräch vor dem Einschlafen um Gott und die Welt. Vor allem aber wird in der Scheune, „heute wo der Liberalismus abstirbt“ [6. Thomas Mann, Doktor Faustus, 39th ed. (Frankfurt am Main: Fischer Verlag, 1990), 165.], von den einen für die affektiven Bindungsqualitäten des Nationalismus argumentiert, denen gegenüber die Vernunftoptionen liberaler oder sozialreligiöser Politik vergleichsweise bindungsdürr daher kämen. So vehement wie ironisch bestehen andere darauf, dass man die Substanz der Bindungen, die „überall angeboten“ werden, in ihrer vermeintlich Echtheit durchaus skeptisch zu prüfen habe. Die offene und strittige Frage, welche Ordnung sich eine Gesellschaft zu geben hat und was die richtige Position zwischen „bürgerlichem und natürlichem“ ist, wird schließlich in der Scheune nicht zur Antwort gebracht, denn „die gütige Natur“ hielt „den Schlaf bereit, um das Gespräch darin aufzunehmen.“

Heute ist umso mehr unklar, wo sich die Scheunen selbst befinden. Sie verschwinden von den Feldern und Höfen, wo sie längst von sich selbst lagernden Rundballen einerseits, praktischen und solarzellenbedachten Zinkblechhallen andererseits abgelöst werden. Zugleich taucht eine Scheune als monumentales Artefakt inmitten einer Metropole wieder auf, um ein Museum des 20. Jahrhunderts zu beherbergen. „Soll Berlin ländlich werden?“ lautet denn auch die beinahe bange Frage, mit der der bereits erwähnte Artikel von Niklas Maak überschrieben ist.

Offenbar sind wir wieder einmal inmitten einer Neuaushandlung des Verhältnisses zwischen Stadt und Land. Das gilt auch und gerade für Deutschland. Ob Deutschland ein Land urbaner Metropolen ist, oder zwischen Landliebe und Manufactumkatalog sich als postindustrielle Landkommune imaginiert, ist eine politisch heiß umstrittene Frage.

Dass damit aber auch die dunklen Seiten der Ländlichkeit aufgerufen sind, wird im Diskurs um die Unterschiede der politischen Präferenzen der Land- versus der Stadtbevölkerung ebenso klar, wie wenn man sich einmal die Hintergründe [7. Stefan Höhne, “Die Idiotie des Stadtlebens. Zum Verhältnis von Anti-Urbanismus und Dorfromantik,” Zeitschrift Für Ideengeschichte IX, no. 2 (2015).] des im früher mit Manufactum verbundenen Manuscriptum Verlags wiederaufgelegten Buchs Land und Leute des völkischen Kulturtheoretikers Wilhelm Heinrich Riehl ansieht. Wie schon in früheren technologischen Veränderungsschüben wird der Ländlichkeit „Lokalität, Subsistenz und Allmende“ zugeschrieben und werden diese als „potentiell widerständige Modelle“ diesmal gegen Neoliberalismus und Digitalisierung gesetzt.

Tatsächlich aber ist gerade die Ländlichkeit Schauplatz der Digitalisierung und ökonomischer Durchrationalisierung. Rem Koolhaas hat diese Entwicklung bereits vor Jahren hellsichtig beschrieben [8. Rem Koolhaas, Jencks Award 2012 – Rem Koolhaas Lecture, 2012; Rem Koolhaas, “Rem Koolhaas in the Country – Icon Magazine,” Icon Eye] und dabei eine interessante Perspektivumkehrung angeboten: die Stadt hege heute natürlichere, ungeordnete und freiere Orte als das Land. Rurale Gegenden dagegen seien maximal cartesianisch organisiert und nachgerade Avantgardeareale der Digitalisierung. Nirgendwo ist das Versprechen des Internets der Dinge mehr eingelöst als auf den Feldern, Weiden und Höfen der zeitgenössischen Agrarwirtschaft. Kein Fleckchen das nicht vermessen, in seiner Ertragsfähigkeit bestimmt und punkgenau ansteuerbar ist. Agrarwirtschaft verhandelt Kulturtechniken der Skalierung und Koordination, genauso wie das Cloudcomputing und die sozialen Medien es tun. Zieht man in Betracht, dass die Serverfarmen unserer digitalen Daseinsformen aufgrund des günstigen Stroms und der sauberen Luft mehrheitlich in ländlichen Gebieten stehen, so wird vollends deutlich, dass wir gegenwärtig einer neuartigen Verkreuzung von ländlichen und urbanen Strukturen unterliegen. [8. Christoph Engemann, “Die Farm Der Daten. Über Den Auszug Des Digitalen Ins Grüne,” Zeitschrift Für Ideengeschichte IX, no. 2 (2015): 47–53. Vgl. auch: Niklas Maak, “Kulturforum Berlin: Was Machen Wir Mit Der Stadt?,” FAZ, November 3, 2016, .]

Ob also die auf dem Kulturforum zu errichtende Scheune zur Vergangenheit oder Zukunft gehört, ist nicht einfach zu entscheiden. Kaum eine andere Baustruktur ist zugleich so insignifikant wie symbolisch aufgeladen, als dass sie an diesem prominenten Ort die Frage nach dem Siedeln zwischen Vergangenheit und Zukunft hätte stellen könnte. Möglicherweise findet im Moment ihres Verschwindens von den Feldern eine Transformation der Scheune von einem zentralen Enigma der Moderne zum Schauplatz einer sozialen Simulation statt. Einer Simulation der Suspension von Raum und Zeit um den Verwerfungen, Untiefen und Schatten des zwanzigsten Jahrhunderts gerecht werden zu können. Der Konsum dieser Verwerfungen gehört längst zum Repertoire des aufgeklärten Bildungsbürgers und deren Ausstellung spätestens seit dem Holocaust-Denkmal zu den wichtigsten Assets deutscher Zivilisationspositur.

Denn nicht zuletzt sind Scheunen immer auch Stätten von Standgerichten und Erschießungen gewesen, wenn nicht gleich Menschen in sie hineingetrieben und die Scheune dann in Brand gesetzt wurde. Sicher ist jedenfalls, dass das Unheimliche der Scheune auch aus der Beunruhigung rührt, dass man nie genau weiss, was in ihnen lebt, tot oder vielleicht irgendwo dazwischen geblieben ist.

Sollten Herzog & de Meuron also tatsächlich eine Scheune inmitten Berlins errichten, stehen diese Irritationspotentiale im Raum. Zwischen Scharouns Weinberg und Mies van der Rohes Tempel der Transparenz wird mit der Scheune ein Ort gestellt, der die ganze Zwielichtigkeit der Aufklärung aufruft. Schaustätte der Akkumulation von Kultur und zugleich beunruhigende Zeitmaschine, von der man nicht wissen kann, welche Scheunenfunde damit einhergehen könnten.

Vielleicht aber ist damit schon in einem zu viel an kritischer Zuversicht die Scheune zu einem Haus der Erkenntnis verklärt. Denn auf den zweiten Blick korrespondiert die zum Entwurf gehörende Anlage zweier sich kreuzender Boulevards aufs engste mit jener der unweit liegenden Potsdamer Arkaden: einer Shopping-Mall.