Is There Double Life on Mars? Zu Derek Parfit
Objektive Wahrheiten im Bereich der Moral sind passé, sind schon immer Scheinprobleme oder schlicht Unsinn gewesen. So viel lässt sich zumindest bei den Vertretern des logischen Positivismus Wiener Machart nachlesen. Im restmetaphysischen Sumpf der (kontinentalen) Philosophie ließen sich, so glaubten sie, keine stabilen Gebäude nach dem Vorbild der exakten Wissenschaften bauen. Und das scheint ja auch evident: Das Projekt, die Wahrheit moralischer Urteile nach derselben experimentellen Methode wie unsere Vermutungen etwa bezüglich der relativen Dichte von Bruyereholz oder des Salzgehaltes von Worcestershiresauce verifizieren zu wollen, ist auf den ersten Blick zum Scheitern verurteilt. Wenn die Welt alles ist, was der Fall ist, dann muss die Moral draußen bleiben. Wie unvollständig dieses Bild ist, erkannte nicht zuletzt der frühe Wittgenstein – Gallionsfigur wider Willen eben jenes Positivismus –, ließ es aber dennoch beim Tractatus als erstem Teil des zweiteiligen Werkes bewenden, bei dem es nach eigener Angabe auf die zweite Hälfte doch erst wirklich angekommen wäre.
Worauf es uns als Menschen tatsächlich ankommt und was sich Wittgenstein als Unsagbares zeigte, hat Derek Parfit auf ganz unmetaphysische Weise in analytische Worte gefasst; zuletzt in seinem zweibändigen Werk On What Matters (2011), einem Opus von so monumentalem Umfang wie Inhalt, in dem Parfit die überraschende These vertritt: Es gibt doch objektive Wahrheiten im Bereich des Normativen. Parfit liefert Argumente für die Unhintergehbarkeit etwa des Gedankens, dass wir jederzeit gute Gründe dafür haben, Schmerzen zu vermeiden. Ausgehend von solchen zunächst eher schlichten Annahmen entwickelt er – nicht zuletzt im konsequenten Durchspielen kontrafaktischer Szenarien – eine vollständig säkulare Moraltheorie, one thought experiment at a time.
In dieser versucht Parfit, kantische, konsequentialistische und kontraktualistische Theorieansätze zu einer einheitlichen triple theory zu integrieren. Er ist überzeugt, dass die genannten Theorien denselben Berg von unterschiedlichen Seiten zu erklimmen versuchen. Entsprechend lautet das zentrale Kalkül: Eine Handlung ist immer dann falsch, wenn Handlungen dieser Art gegen ein Prinzip verstoßen, das von allen gewollt werden kann, das nicht vernünftigerweise zurückweisbar ist und das in Anbetracht aller möglichen Alternativen die besten Konsequenzen zeitigen wird. Deshalb sollte jeder denjenigen Prinzipien Folge leisten, die – wären sie allgemeine Gesetze – die besten möglichen Konsequenzen zeitigen würden, gerade weil das die einzigen Prinzipien sind, die wir vernünftigerweise als allgemeine Gesetze wollen können. Im Klartext: Wir Privilegierten im Westen müssen ungerechtfertigte Privilegien abgeben und damit aufhören, die Erde weiter aufzuheizen, damit auch übermorgen noch intelligentes Leben möglich ist. Das scheint umso dringlicher, je wahrscheinlicher es wird, dass wir die einzigen rationalen Wesen im Universum sind.
Wer findet, dass er dergleichen auch aus anderen Ecken schon gehört hat, wenngleich sicher nicht mit der Gründlichkeit wie bei Parfit entwickelt, der kann vielleicht mehr mit den philosophischen Gedankenexperimenten anfangen, die Parfit wie kaum ein anderer Autor auch der analytischen Philosophie in so großer Vielfalt entwickelt.
Stellen Sie sich vor, Herr P lebt in einer Welt, in der es nichts Ungewöhnliches ist zum Mars zu reisen. (Also so ziemlich genau in der Welt, die Elon Musk bis 2030 herbeiführen will.) In dieser Welt ist es üblich, diese Entfernung per Raumschiff zurückzulegen. Um die mehrwöchige Flugdauer zu verkürzen, wird bald schon ein technisches Verfahren entwickelt, das es erlaubt, die Reise innerhalb einer einzigen Stunde zu bestreiten: der Teletransporter. Ein Scanner auf der Erde analysiert alle physikalischen Daten des Körpers von Herrn P. Anschließend wird dieser zerstört und die analysierten Daten mit Lichtgeschwindigkeit zum Mars geschickt, wo eine Art 3D-Drucker diese verwendet, um einen neuen Herrn P wieder exakt so, wie er auf der Erde war, aus neuer Materie zu kreieren. Herr P erwacht nach einem unmerklichen Augenblick der Bewusstlosigkeit, denkt sich nichts Böses und geht auf dem Mars seiner Wege.
Dieses aus zahllosen Filmformaten hinreichend vertraute Szenario beinhaltet für Parfit eine philosophische Frage von zentraler Bedeutung. Ist derjenige Herr P, der auf dem Mars aufwacht, noch mit dem Herrn P von der Erde identisch oder handelt es sich um zwei unterschiedliche Personen? Die meisten von uns (einschließlich Herrn P vom Mars) werden geneigt sein, Herrn P nach der Teletransportation noch für denselben Herrn P zu halten, der zuvor auf der Erde in die Maschine gestiegen ist. Schließlich ist ja ersterer in jeder physikalischen Hinsicht identisch mit letzterem, und beide beziehen sich mit Ich-Sätzen auf den gleichen Gegenstand; namentlich Herrn P.
Parfits Clou besteht nun darin, eine Fehlfunktion des Teletransporters zu imaginieren. Herr P begibt sich auf der Erde in den Teletransporter und drückt wie die Male zuvor den grünen Knopf, der die Teletransportation in Gang setzt. Dieses Mal jedoch wird er nicht ohnmächtig wie sonst. Vom Personal, das den Vorgang überwacht, erfährt er, dass es eine Fehlfunktion beim Transport gab. Herrn Ps Körperdaten wurden zwar gescannt und auf den Mars geschickt, wo Herr P auch ordnungsgemäß aufgewacht ist, leider hat aber der Zerstörungsvorgang auf der Erde nicht funktioniert. Das Aufsichtspersonal lässt Herrn P wissen, dass das Versäumnis sogleich nachgeholt werde. Wenn die Annahme wahr ist, dass Herr P vor und nach dem Transportationsvorgang derselbe ist, dann dürfte Herr P keinerlei Vorbehalte gegenüber der Ankündigung des Personals hegen. Das aber ist mehr als unwahrscheinlich.
Also ist die Sache klar: Herr P auf dem Mars ist nicht identisch mit Herrn P auf der Erde und es handelt sich um zwei verschiedene Personen. Wenn das wahr ist, dann wird Herr P, sobald das Teletransportationspersonal auf der Erde seinen Körper zerstört hat, aufgehört haben zu existieren. Aber wer ist dann dieser andere Herr P auf dem Mars? Schließlich ist er in jeder Hinsicht mit dem zerstörten Herrn P identisch und behauptet auch noch hartnäckig, derselbe Herr P zu sein, der zuvor in die Maschine gestiegen ist.
Man muss nicht alle hier stillschweigend unterstellten Thesen über das Verhältnis zwischen Körper und Geist kaufen, um das philosophische Problem zu sehen. Parfit schlägt nun vor, diese paradoxe Situation aufzulösen, indem wir unseren naiven Begriff personaler Identität zugunsten eines Begriffs des personalen Überlebens aufgeben. Herr P auf der Erde ist zwar nicht mehr identisch mit Herrn P auf dem Mars, aber ersterer überlebt in letzterem. Nicht personale Identität ist also, was Parfit zufolge zählt, sondern ausschließlich die physische und psychische Kontinuität einer Person.
Am 19. März soll der dritte Band von On What Matters erscheinen. Parfit wird das sicherlich gewaltige Echo der Fachwelt nicht mehr erleben. Am Neujahrstag ist einer der bedeutendsten Moralphilosophen der Gegenwart in Oxford verstorben, wo er, ohne je einen Abschluss in Philosophie gemacht zu haben, bis zum Schluss am All Souls College gelehrt hat. Nach allem, was er zu personaler Identität zu sagen hatte, kann Parfit von seinem unvergleichlich vernünftigen Standpunkt aus den Tod ohnehin nicht gefürchtet haben. Denn seine Ideen überleben unseren Herrn P auch über dessen physischen Tod hinaus in den Papers seiner Bewunderer. Wie er in Reasons and Persons (1984) in für ihn ungewohnt poetischer Weise schreibt, beruhen unsere Ängste in Bezug auf künftige Ereignisse wie den Tod ohnehin bloß auf so irrationalen Metaphern wie der folgenden: ‚Now’ moves down the sequence of historical events, ‚like a spot-light moving down a line of chorus girls.’
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