Plädoyer für eine einfühlsame Sachlichkeit

Ich bin Sexistin. Wenn ich mich umziehe, um schwimmen zu gehen, überlege ich, ob mein Körper so gut genug verdeckt ist, nicht zu viel und nicht zu wenig, nicht zu aufdringlich, aber auch nicht verklemmt. Wenn ich auf der Straße eine aufgedonnerte Frau sehe, mit blondgefärbtem Haar, viel Schminke auf dem Gesicht, hautengem, pinkem Kleid und großem Ausschnitt, ist mein erster Gedanke hohl. Ich will Produkte kaufen, weil die Werbung mir verspricht, dass ich davon einen porentiefreinen, frischen Teint bekomme. Wenn eine Frau zehn Katzen zuhause hat, denke ich, die hat wohl keinen Mann gefunden. Ich spreche wie die größte Chauvinistin mit mir selbst, warum hast du eigentlich keine Modelfigur, sofort zwei Stunden joggen, scheiß drauf, ob du Blut hustest. Wenn mir in einer Diskussion zum fünften Mal über den Mund gefahren wird, traue ich mich nicht, einfach mal auszuflippen. Wenn nachts hinter mir ein Mann läuft, fürchte ich mich manchmal. Gelegentlich zwinge ich mich dazu, auf Tinderdates zu gehen, weil ich Angst bekomme, dass es keinen Kerl geben wird, der mit mir Kinder haben will. Ich schreibe diesen Text und veröffentliche ihn, weil jemand Einflussreicheres mir die Möglichkeit dazu gibt. Wenn ich mit meinen Cousinen rede, geht es vor allem darum, wer einen Freund hat und wie’s so läuft, obwohl wir alle sehr interessante Dinge studieren. Wenn sich neben mir im Bus einer hinsetzt und ich sein Knie ans Bein gedrückt bekomme, denke ich typisch.

Ich bin in einer diskriminierenden Gesellschaft aufgewachsen und habe daraus Denkstrukturen gelernt. Mit Rollenerwartungen haben wir alle zu tun, unabhängig von unserem Geschlecht, an dieser und jener Stelle kennen wir das Problem nicht nur von Anderen uns gegenüber, sondern auch von uns selbst. Deshalb sollten wir Feminist°innen sein. Wir müssen Rassismus, Sexismus, Klassismus, jede Form von Diskriminierung und all ihre Aspekte kennen, sehen, bearbeiten. Wir müssen reden, Platz machen, uns selbst kritisieren, andere auf Muster hinweisen, Hinweise auf eigenes diskriminierendes Verhalten ernst nehmen. Denn das System von Bevor- und Benachteiligung, von Unterdrückung, Machtausübung, Rollenerwartungen, Vorurteilen und Stereotypen kostet Menschen ihr Selbstbewusstsein, ihre Persönlichkeit, ihre Freiheit, kostet Chancengleichheit und Gerechtigkeit jeder°m Einzelnen gegenüber. Und es reproduziert sich bis in die Ewigkeit, wenn wir nicht die Entscheidung treffen, dieses System gemeinsam bis ins Subtilste und in letzter Konsequenz abzuschaffen. Das klingt nach viel Arbeit und die ist es. Das kann die Köpfe brummen, aneinanderklatschen, einziehen lassen. Das kann die ganze Ordnung durcheinander bringen.

Es ist der 4. Juli 2017, wir sind im Blauen Salon des Hildesheimer Literaturinstituts bei der überfüllten Diskussionsrunde zur Sexismus-Debatte: Vorne sitzen vier Lehrende und vier Studierende, je eine°r von ihnen moderiert, ich diskutiere mit. Kurz habe ich Sorge, dass mein Engagement für mein Studium und meinen persönlichen Frieden Folgen hat. Seien es feine Sticheleien oder gröbere Druckmittel wie schlechtere Noten bei gleichbleibender Leistung oder die Verweigerung von Unterschriften im kommenden Semester. Diese Vorstellung bedeutet vor allem emotionalen Stress. Aber ich finde die Sache hier wichtig, also cool bleiben.

Wir tragen Forderungen vor wie ,diverses Lehrangebot‘ und ,Machtsensibilität von Lehrendenseite‘. In der Diskussion nenne ich ein Beispiel für die konkrete Benachteiligung zweier Studentinnen. In einem Seminar melden sich drei Studentinnen für die Redaktion einer Buchpublikation als Seminarleistung. Der Name einer der Studentinnen wird aufgenommen, die anderen beiden werden übergangen, da der Dozent sich Leute »mit redaktioneller Erfahrung« für diese Aufgabe wünscht. Nach der redaktionellen Erfahrung der beiden Studentinnen fragt er nicht, stattdessen spricht er zwei Studenten an, die sich nicht für die Aufgabe gemeldet haben, ob sie das nicht machen wollen würden. Sie willigen ein. Zu der Studentin, deren Name bereits aufgenommen wurde, sagt der Dozent: »Dann kannst du ja auch noch mitmachen.«

Im Laufe der Diskussionsrunde behandeln wir nicht lange die strukturelle Problematik dieses Vorfalls. Stattdessen meldet sich schon bald ein Student und teilt mit, dass er sich am Institut aufgrund seiner Herkunft nie benachteiligt gefühlt hat. Die eigene Nicht-Erfahrung negiert so die Erfahrung des Anderen, impliziert Zweifel an deren Richtigkeit und schmälert sie in ihrer Wichtigkeit. Immer wieder wird in der Diskussion die Relevanz des Themas grundsätzlich in Frage gestellt, weil einige diese Vorfälle nicht erleben oder wahrnehmen. Ich gehe mit der Frage, wie wir diskriminierende Strukturen am Institut verringern können, in die Diskussion und komme mit einer anderen zwei Stunden später wieder raus: Wie können wir dieses Gespräch konstruktiv mit allen Beteiligten führen?

Ich möchte meinen Vorschlag dafür die einfühlsame Sachlichkeit nennen. Sachlichkeit und Einfühlungsvermögen als Verpflichtung in der Umgangsform. Eine Gesprächskultur, die Einzelvorfälle sieht und Erfahrungen grundsätzlich ernst nimmt. Eine Übereinkunft darüber, dass die Nicht-Erfahrung der°des Einen die Erfahrung einer°s Anderen nicht widerlegen kann. Dass Diskriminierung in vielen Formen verschiedensten Personen oder Gruppen gegenüber auftritt, bewusst und unbewusst ausgeübt wird und nie gerechtfertigt ist. Eine Übereinkunft, dass es nicht darum geht, Schuld zuzuweisen, sondern darum, dass jede°r Einzelne Verantwortung für gleichberechtigte, respektvolle Strukturen trägt. Eine Gesprächskultur, die zwischen strukturellen Problemen und Einzelfällen differenzieren kann und die Zusammenhänge zwischen beidem aufdeckt, jedes Mal. Alle Beteiligten müssen in Einzelsituationen die verschiedenen Wahrnehmungen der Situation beleuchten, die Wahrnehmungsebene ernst nehmen, das Ansprechen des Themas bewusst nicht als Angriff werten, die Beziehung der Einzelsituation zu strukturellen Problemen herstellen, konkrete Änderungen an der Struktur umsetzen und den respektvollen Umgang miteinander suchen. Wir müssen gemeinsam an sprachlichen Werkzeugen arbeiten, um Unterschwelliges zu formulieren und benennen zu können. Wir müssen erarbeiten, in welchen Formaten wir uns gemeinsam mit dem Thema beschäftigen wollen. Ich sage nicht, dass bei niemandem Bestrebungen dazu da sind. Nur sind wir eben nicht da, wo es sich für alle um eine Selbstverständlichkeit  handelt, und die muss es werden.

In meiner Vorstellung werden wir von Sexist°innen zu Feminist°innen, indem wir uns alltäglicher Beobachtungen annehmen und uns in einen Diskurs einarbeiten, der schon lange geführt wird, nicht erst, seit im Faltblatt ein Text dazu erschienen ist. Ich sehe Kulturschaffende und somit auch Lehrstätten für Kulturschaffende sogar in einer besonderen Verantwortung, dies zu tun. Dass da nicht alle im Boot sind, ist mir völlig klar. Aber ich hoffe, dass ich einen Punkt erleben werde, wo die Ohren aller offen sein werden für diese Probleme und man es sich eingestehen kann, wenn man privilegiert aufgewachsen ist und lebt, und dass man absolut nichts dafür getan hat, dass man diese Privilegien genießt. Dass man sie erlebt, weil man geboren wurde, wo und wie und von wem man geboren wurde, und dass das keine Errungenschaft an sich ist. Ich bin kein Opfer, weil ich eine Frau bin, aber ich erfahre Respektlosigkeiten und strukturelle Nachteile, weil ich eine Frau bin. Und weil ich Feministin bin, muss ich immer auch bedenken, dass ich dennoch vielen anderen Formen der Diskriminierung nie ausgesetzt war. Diejenigen, die in bevorteilten und mächtigen Positionen sind, müssen ihre Privilegien reflektieren, destabilisieren und teilen. Das zu tun ist ein politischer Akt und hat keine lebensbedrohlichen Konsequenzen, also geben wir uns einen Ruck.

Tatjana von der Beek studiert Literarisches Schreiben und Lektorieren in Hildesheim und ist Mitherausgeberin der BELLA triste.

 

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