Hohe Kultur (7)
Konservative und linksalternative Positionen
Ausgangspunkt dieser Artikelserie war die Beobachtung, dass heutzutage kaum jemand mehr von ‚hoher Kultur‘ spricht, um sich selbst und Werke anderer in eine führende Position zu bringen. Die Abfolge der Artikel hat diese Diagnose bislang bestätigt: In zwei Beiträgen mit kulturpolitischem Akzent wurde von ‚hoher Kultur‘ und ‚Hochkultur‘ nur gesprochen, um gegen sie Stellung zu beziehen: zum einen im Namen der „populären Kultur“ (so im Beitrag von Stefan Krankenhagen), zum anderen im Namen eines „emanzipatorischen Kunst- und Kulturprogramms“ (so im Beitrag von Christina Dongowski). Dies ist umso bemerkenswerter, als diese beiden Beiträge vonseiten des „Merkur-Blog“ kamen, obwohl der „Merkur“ in den sieben Jahrzehnten seines Bestehens zwar einige Änderungen erlebt hat, aber bei seiner Themenwahl bislang zu keinem Zeitpunkt als Vorreiter einer ‚populären‘ oder ‚emanzipatorischen‘ Kultur aufgefallen ist.
Dies ist aber nur ein Beispiel unter vielen. Generell lässt sich festhalten: Auch wenn es den eigenen Interessen oder zumindest der eigenen Ausrichtung widerspricht, ist es in vielen Organen, Parteien, Verbänden offenkundig nicht mehr das Mittel der Wahl, die ‚hohe Kultur‘ zu propagieren und sich selbst dadurch versuchsweise in ein gutes Licht zu rücken. Die Verwendung des Begriffs wird vielmehr bewusst vermieden, es herrscht die Auffassung vor, sie würde einen in ein schlechtes, elitäres Licht rücken.
Selbst wenn man den Begriff ‚hohe Kultur‘ in eine Suchmaschine eingibt und anschließend nicht nach institutioneller Bedeutung auswählt, erhält man kaum aktuelle Treffer. Immerhin, in der FAZ polemisiert eine einzelne Autorin 2017 gegen Berlins ‚rot-rot-grüne‘ Regierung: Diese habe in ihrem Koalitionsvertrag die „Hochkultur“ „kaum erwähnt“; die Vereinbarungen zur Kulturpolitik läsen sich vielmehr wie ein „Künstlersozialplan, auch für die eher nicht gemeinnützige Clubkultur“. Ein heute seltener Moment früher sehr vertrauter konservativer Argumentation und Rhetorik, wenn auch die Überschneidung von „Hochkultur“ mit ‚Gemeinnützigkeit‘ einen unüblichen Akzent setzt. Vielleicht ist dieser aber nicht beabsichtigt, und es sollte nur darum gehen, der „Clubkultur“ sowohl eine hochkulturelle als auch gemeinnützige Eigenschaft abzusprechen, nicht aber darum, „Hochkultur“ mit ‚Gemeinnützigkeit‘ zu identifizieren.
Eigentümlich mutet aber in diesem konservativen Rahmen bereits die „Clubkultur“ an. Die Rede von der „Kultur“ weist hier zwar einerseits traditionell konservativen Charakter auf: Es gibt etwas Abgeschlossenes mit eigener Moral, eigener Historie, angestammten Orten und Trachten, dem darum ein konservativer Wert eignet. Für „Clubkultur“ ist dieser Wert der über einen längeren Zeitraum herausgebildeten Eigenheit jedoch von konservativer Seite zuvor nicht reserviert gewesen, dafür erschien sie zu künstlich und dekadent zu sein. Dass selbst im Rahmen einer konservativen Abwertung Clubs mit dem Signum „Kultur“ bedacht werden, belegt bereits die Wandlung der Rede über ‚Kultur‘ (früher wäre im konservativen Deutschland etwas Ähnliches bestenfalls als ‚Zivilisations‘-Phänomen negativ verbucht worden).
Allerdings entspricht es konservativer Tradition durchaus, nicht nur bei den ‚Hohen‘ das Gute zu finden. Nach konservativer Lesart verfügt auch der ‚niedere Stand‘ über seine eigenen Gebräuche, Traditionen und Sitten, die bewahrenswert sind – ‚jedem das Seine!‘ Solange kein Versuch unternommen wird, das zu ändern (und vor allem nicht angestrebt wird, das vormals ‚Niedere‘ zum künftig ‚Hohen‘ zu machen), ist aus dieser Perspektive alles gut.
War diese konservative Maxime aber lange gegen die demokratisch-kapitalistische ‚Zersetzung‘ einer ‚organisch gewachsenen‘ Ständeordnung gerichtet, zeigt das Wort von der „Clubkultur“ an, dass selbst solchen Phänomenen nun aus konservativer Sicht ein gewisser Wert – wenn auch kein ‚gemeinnütziger‘ – zukommt und sie nicht der ‚Unkultur‘ oder ‚Barbarei‘ (also dem Unzusammenhängenden, Chaotischen, prinzipiell Wertlosen, Nicht-Kultivierbaren) zuzuschlagen sind.
Darum ist es aus konservativer Sicht prinzipiell wichtig, die ‚hohe Kultur‘ ins Feld zu führen. Dadurch bleibt deutlich, dass nicht alle ‚Kulturen‘ – die ‚Bierkultur‘ wie die ‚klassische Kultur‘, die Techno-Kultur wie der Bildungsroman, der Slapstickfilm wie die Tragödie – denselben Rang als ‚Kultur‘ besitzen. ‚Kultur‘ zeigt dann an, dass es einen identifizierbaren, abgegrenzten Zusammenhang von Handlungen, Gegenstandsformen, Gebräuchen, Sitten gibt, ‚Hochkultur‘, dass es bessere und schlechtere solcher Ausprägungen gibt.
Verzichtet man auf diese Auszeichnung der ‚Hochkultur‘ – wie heutzutage zumeist –, bleibt dem rechten Lager der Versuch, bestimmte Kulturen, die man nicht als die ‚eigene‘ erkennt, woanders ansiedeln oder belassen zu wollen; es handelt sich um einen Kulturrelativismus, der auf dem Anspruch beruht, die ‚nationale Kultur‘ rein zu halten, nicht aber explizit darauf, auch außerhalb der eigenen (Sprach-)Grenzen diese Kultur durchzusetzen. Aus taktischen oder essentiellen (populistischen, anti-elitären) Gründen wird von diesen Nationalisten ‚Nationalkultur‘ deshalb nicht zwangsläufig mit der ‚hohen Kultur‘ gleichgesetzt.
In linksalternativen Kreisen wird der traditionelle Begriff der ‚hohen Kultur‘ aus eindeutig essentiellen (etwa antikolonialistischen) Gründen verworfen. Ihnen gelten prinzipiell die ‚Kulturen‘, die vormals von Konservativen (und von Nationalisten mitunter bis heute) zumeist als ‚nieder‘ oder gar als ‚barbarische Unkultur‘ eingestuft worden waren, als wertvoll, als bewahrens- und schützenswert. Im Namen der ‚Vielfalt der Kulturen‘ (auch und manchmal gerade innerhalb noch bestehender nationaler Grenzen) nähert man sich dem Kulturrelativismus, der die Gleichwertigkeit aller Kulturen behauptet.
Dieser Relativismus währt zumindest so lange, bis Linksalternative auf die Existenz martialisch-männlicher, westlich-rassistischer oder kapitalistisch-kommerzieller Kulturen stoßen. Dann stehen sie vor der Versuchung oder Aufgabe, diese ebenfalls als Teil kultureller Vielfalt oder doch wieder als ‚barbarisch‘ oder ‚minderwertig‘ einzustufen. Der Verzicht auf den für sie historisch diskreditierten Begriff ‚Hochkultur‘ drängt in diesem Fall eigentlich dazu, von ‚Unkultur‘ zu sprechen, denn ohne ‚hohe Kultur‘ fällt es schwer, eine ‚niedere Kultur‘ anzunehmen. Deshalb ist verständlich, dass Linksalternative diese Kehrseite ihres nur teilweise durchgehaltenen Kulturrelativismus lieber beschweigen.
Konservative, reaktionäre und linksalternative Ansätze verfügen bei allen gravierenden Unterschieden zumindest über eine Gemeinsamkeit. Auch sie ist bereits in dem kurzen Zitat der konservativen FAZ-Autorin zu erkennen. Die Kulturpolitik von „Rot-Rot-Grün“ wird dort nicht nur abgewertet, weil sie die „Hochkultur“ vernachlässige, sondern auch weil sie eine hauptsächlich sozioökonomische, verwaltungstechnische Ausrichtung besäße („Künstlersozialplan“). Wenn auch von linksalternativen Anhängern eine finanzielle Unterstützung der ‚Kreativen‘ keineswegs abgelehnt wird, stimmen sie aber zumeist zu, wenn es gilt, die unbürokratische Freiheit und das Risikoreiche der Kunst zu verteidigen.
Wegen ihrer Begeisterung für das Kreative glauben sie sogar, sie garantierten der Freiheit einen viel größeren Raum als die Konservativen. In einer Hinsicht stimmt das auch: Das Kreative muss sich bei ihnen nicht wie bei Konservativen in künstlerischer Werkform niederschlagen, sondern wird auch als (alltäglicher) Prozess kulturell legitimiert.
Wie Konservative sind sie aber gewillt, diese Freiheit nicht grenzenlos zu gewähren, sondern treten auf ihre Art ebenfalls für eine Ausübung der Freiheit ein, die Konservative gerne ‚verantwortungsbewusst‘ nennen. Die Konservativen sehen diese Verantwortung mit der Depolitisierung der Kunst und ihrer Reinigung vom Vulgären erfüllt – dieses Vulgäre wird traditionell in der metaphorischen Ordnung ‚unten‘ angesiedelt. Die Linksalternativen hingegen setzen auf die Förderung nicht westlicher, nicht maskuliner Kreativität – einer Form der Kreativität, der sie zutrauen, aggressive und einengende Kunst- und Kulturmuster zu überwinden.
Im Gegensatz zu Konservativen nennen sie das Ergebnis oder Ziel dieser Bemühungen nie ‚hohe Kultur‘, sondern wollen mit ihrem Ansatz wie gesagt eine größere Vielfalt befördern. Sie zielen damit nicht auf Beliebigkeit ab, sondern auf eine Vielfalt, die sich für sie auch und nicht selten gerade jenseits und ‚unterhalb‘ der früher regelmäßig der ‚hohen Kultur‘ zugeschlagenen Kunstformen und Verhaltensweisen ergibt oder ergeben sollte (dazu Teil 2 dieser Reihe).
Auf eine Vielfalt, die auch das einschließt, was Konservative lange mit dem Leit- und Kampfbegriff der ‚hohen Kultur‘ an Vulgärem, Eindeutigem, Propagandistischem ausschließen wollten, läuft das aber gegenwärtig oftmals genau nicht hinaus. Die heutige linksalternative Entwertung oder Abwehr des Heteronormativen und ‚Männlich‘-Aggressiven versucht eine ähnliche Ausgrenzung des Vulgären aus der Kultur zu bewirken wie zuvor die konservative Feier der ‚männlich‘ sublimierten ‚Hochkultur‘ – eine konservative Wertschätzung, die in Absetzung von der unvermittelteren ‚vulgären‘ Praxis des ‚niederen Volks‘ ergeht. Die gegenwärtige linksalternative Abwehr des Vulgären geht nur (oder sogar) weiter, sie bezieht auch einige von Konservativen (und Sozialisten) legitimierte ‚reife‘, herrschaftliche Kunst- und Umgangsformen mit ein.
Es ist deshalb bemerkenswert, dass beide, Konservative wie Linksalternative, auf den Begriff der ‚hohen Kultur‘ kaum mehr oder gar nicht zurückkommen, obwohl sie beide offenkundig keine Kulturrelativisten sind. Es lässt sich wohl damit erklären, dass sie ihre Ansätze nicht (mehr) durch den ‚Verdacht‘ belasten wollen, ein ausgrenzendes Projekt zu vertreten, das sich (auf teilweise unterschiedliche Art und mit unterschiedlicher Reichweite) gegen das Vulgäre richtet.
Da sie dies aber nun einmal tatsächlich tun, wäre es im Sinne der Deutlichkeit von Vorteil, wenn sie ihre Kultur- und Kunstpolitik im Namen der ‚hohen Kultur‘ oder einer vergleichbar klaren Kategorie (‚erstklassige Kultur‘, ‚wünschenswerte Kultur‘, ‚richtige Kultur‘ etc.) formulierten und begründeten. So würden sie ihre Kriterien für eine angemessene Beurteilung des kulturellen Werts darlegen und die von ihnen bevorzugte Kultur als die überlegene und erstrebenswerte Kultur kenntlich machen. Sodann würden sie davon unmissverständlich die ihrer Auffassung nach ‚schlechtere‘, ‚falsche‘ oder eben ‚niedere‘ Kultur ableiten sowie im Zuge dessen auch benennen können, was sie genau an solch misslicher Kultur (oder gar Unkultur) stört – etwa ihre Vulgarität. (Aber wahrscheinlich ist das für sie wiederum eine allzu vulgäre Schlussfolgerung.)
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