Brief an einen Leser

Ein Abonnent hat uns einen Brief geschickt. Er beschwert sich darin – exemplarisch für seine gelegentlichen Schwierigkeiten mit dem Merkur – über Martin Burckhardts Beitrag aus dem Augustheft „Der Kapitalismus ist tot (er weiß es nur noch nicht)“. Er vermisst, hier wie öfter, eine „einfache klare Sprache“ und beklagt die Verwendung von Metaphern. Wir dokumentieren Christian Demands Antwort, da sie ihrerseits recht grundsätzliche Dinge diskutiert.

Sehr geehrter Herr Dr. xxx,

vielen Dank für Ihr Schreiben vom 4. August, auf das ich urlaubsbedingt erst jetzt reagieren kann.  Grundsätzlich bemühen wir uns sehr, die Beiträge unserer Zeitschrift so verständlich wie möglich zu halten. Der Merkur spricht allerdings auch eine außergewöhnlich disparate und anspruchsvolle Leserschaft an: Studenten, Lehrende und Professoren von den Geisteswissenschaften bis zu den Lebens- und Naturwissenschaften, Juristen, Ingenieure, Historiker, Politiker, Unternehmer etc. – Personen also mit sehr unterschiedlichem Erfahrungshintergrund, unterschiedlicher Vorbildung, unterschiedlichen Interessen und unterschiedlichen Erwartungen an die Themenwahl und auch die sprachliche und dramaturgische Zurichtung unserer Beiträge.  Sie alle gleichermaßen mit jedem einzelnen Text jeder einzelnen Ausgabe ansprechen zu wollen, wäre schon deshalb widersinnig, weil wir unsere Autoren damit letztlich auf ein Informations- und Reflexionsniveau in gediegener intellektueller Mittellage festlegen würden. Texte dieses Zuschnitts gibt es aber schon mehr als genug, wie nicht zuletzt die von Ihnen beigelegten Musterstücke zu Kapitalismus und Utopismus belegen, denen man als Leser schon des deutlich geringeren Umfangs wegen leichter folgen kann als vielen Merkurtexten, denen ich andererseits aber auch keinen einzigen Gedanken entnommen habe, dem ich nicht schon unzählige Male an anderer Stelle begegnet wäre.

Bei dem von Ihnen angesprochenen Essay von Martin Burkhardt handelt es sich um den Versuch, bestimmte Züge der digitalisierten Ökonomie von heute mit dem gedanklichen Instrumentarium verstehbar zu machen, das Marx für die Industrialisierung seiner Zeit entwickelt hat. Der Versuch ist zugegebenermaßen gedanklich wie sprachlich eigenwillig. Natürlich hätte man an der von Ihnen inkriminierten Passage anstelle von „sozioplastisch“ ebenso gut auch „gesellschaftsformend“ einsetzen können (auch wenn ich bezweifle, dass das Ihr Urteil wesentlich beeinflusst hätte). Und natürlich muss man dem Autor nicht in jedem Punkt zustimmen. Texte dieser Art sind Experimente, die in vieler Hinsicht und in unterschiedlichen Graden ins Leere laufen oder auch scheitern können. Solange sie jedoch einen Problemhorizont aufreißen, der zumindest die Leerstellen bisheriger Theoriebildung sichtbar macht und damit Anlass zum Weiterdenken gibt – und das würde ich für Burckhardts Essay auf jeden Fall in Anspruch nehmen –, solange halte ich es nicht nur für gerechtfertigt, sondern sogar für unbedingt geboten, solche Texte im Merkur zu bringen.

Das gilt um so mehr, als sie die Hefte ja keineswegs dominieren. Nummer 831 etwa beginnt mit einem ausgesprochen leicht zugänglichen Essay von Burkhard Müller, der nebenbei genau der Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen metaphorischer Rede nachgeht, die Sie in Bezug auf Burkhardt aufwerfen. Auch das Stück von Friedrich Lenger zu Marx ist zwar terminologisch voraussetzungsvoll, aber bei hinreichendem Interesse an der Sache ohne weiteres zu verstehen. Das gilt noch mehr für den Beitrag zur Ukraine von Paul Quinn-Judge. Und auch die restlichen Texte dieser Ausgabe scheinen mir – mit leichten Abstufungen – Ihren Ansprüchen an Empirie und Realismus durchaus entgegenzukommen. Gleichwohl nehme ich Ihre kritische Rückmeldung gern zum Anlass, in Zukunft noch aufmerksamer darauf zu achten, dass der Merkur nicht ohne Not hermetisch wirkt.