Kritik und Krise revisited. Neues zur Pathogenese der bürgerlichen Welt

.Rede auf der Graduierungsfeier der Zeppelin Universität,
.gehalten in Friedrichshafen am 14. September 2018

So etwas kann also dabei herauskommen. Die Dissertationsschrift des Historikers Reinhart Koselleck, 1954 von der Philosophischen Fakultät der Universität Heidelberg angenommen und fünf Jahre später als Buch gedruckt, bleibt eine der erstaunlichsten Abschlussarbeiten, welche die deutsche Universität hervorgebracht hat. Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt wurde 1973 ins Taschenbuchprogramm des Suhrkamp-Verlags aufgenommen, als Nummer 36 der schwarzgewandeten Reihe suhrkamp taschenbuch wissenschaft, und ist seitdem kontinuierlich lieferbar.

Das Buch ist schlank, umfasst nur 250 Seiten, davon 150 Seiten Text und 80 Seiten Anmerkungen, hat aber ein denkbar großes Problem zum Gegenstand, den kausalen Zusammenhang zwischen der philosophischen Aufklärung und der Französischen Revolution. Einer erneuten Überprüfung unterzieht Koselleck eine Erklärung für die Revolution, die schon von ihren Zeitgenossen vorgebracht wurde, insbesondere von ihren Gegnern, die den Philosophen vorwarfen, dem alten Staat durch das Untergraben seiner metaphysischen und moralischen Fundamente den Ruin gebracht zu haben. Koselleck unternimmt seine Prüfung der alten Hypothese im Lichte oder vielleicht auch im Schatten der seit der Französischen Revolution geschehenen Geschichte.

Mein Exemplar des Buches, die sechste Taschenbuchauflage, stammt aus dem Jahr 1989, dem Jahr der Feiern zur zweihundertsten Wiederkehr des Tags des Sturms auf die Bastille. Henning Ritter, mein 2013 verstorbener Kollege und Mentor, der erste verantwortliche Redakteur für Geisteswissenschaften der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, schrieb in einer Betrachtung zum Revolutionsgedenken, die in der Zeitung vom 17. Mai 1989 gedruckt wurde: „Die Lehre aus dem Jahr 1789, die im Jubiläumsjahr am wenigsten beherzigt wird, ist: Nicht sich auf ein Fin de siècle einspielen, ehe das Jahrhundert zu Ende ist. Vor 1789 sah das ganze Jahrhundert anders aus als danach; wenige Jahre genügten, es noch umzuprägen.“

Das war eine Überlegung, in der man anklingen hören kann, wie vertraut Ritter mit den Schriften Kosellecks war. Ein weiteres stw des Autors Koselleck ist die Aufsatzsammlung Vergangene Zukunft. Bis zu seinem Tod 2006 arbeitete der 1923 geborene Koselleck an einer Theorie historischer Zeiten. Diesen Bielefelder Historiker interessierte die Geschichtlichkeit von Geschichtsvorstellungen, die Wechselwirkung zwischen den historischen Ereignissen und den Perspektiven auf Geschichte. Die anthropologische Ausgangssituation, dass Menschen in der Zeit stehen und nicht aus der Zeit heraustreten können, um die Zeit zu betrachten, hat in Kosellecks Augen in unserer Epoche, der modernen Zeit, eine Zuspitzung oder Verschärfung erfahren: Die Menschen erleben sich als Produkte eines historischen Geschehens, in dem sich die Folgen ihres eigenen Handelns akkumulieren.

Koselleck ließ die moderne Zeit mit der Französischen Revolution beziehungsweise mit deren Vorgeschichte beginnen. In dieser Zeit kommt es dazu, dass Philosophen den Versuch unternehmen, die historische Bewegung auf Gesetze zu bringen. Gleichzeitig veralten die überlieferten Gewissheiten ständig. Daher benötigt man komplementär zu einer Geschichtsphilosophie, die quasi-naturwissenschaftliche Regelmäßigkeiten von Abläufen ermitteln will, auch eine begriffliche Vorsorge für die Erfassung des Unvorhersehbaren. In diesem Sinne gab Henning Ritter im Mai 1989 zu bedenken, dass das achtzehnte Jahrhundert im Jahr 1789 noch nicht zu Ende gewesen war und das Jahr 1789 am 13. Juli erst recht noch nicht. Eigentlich eine Trivialität: ein Blick in den Kalender.

Bei seinesgleichen, den Intellektuellen der Bundesrepublik, machte Ritter, geboren 1943, damals einen Habitus der Zeitabgewandtheit aus. Der letzte Satz seines Artikels lautete. „Im europäischen Vergleich wirkt die Bundesrepublik intellektuell erfahrungsarm, wie die Insel eines politischen Biedermeier – mit viel Wissenschaft und politischem Räsonnement, aber unter dem Vorbehalt, dass alles so bleibt, wie es ist.“

Ich bin im Sommer 1989 in die Redaktion der F.A.Z. eingetreten und habe im Rückblick immer bewundert, dass Ritter im Frühjahr 1989 die Ahnung hatte, dass die Dinge nicht so bleiben würden, wie sie waren, dass sich das biedermeierliche Land vielleicht doch in einer vorrevolutionären Situation befand. Und ich bewundere, dass er diese Ahnung zu Papier brachte und auf Zeitungspapier drucken ließ, ohne Furcht, sich als falscher Prophet zu blamieren, als vom Gang der Dinge widerlegter Schwärmer. Wie ist sein Gespür zu erklären? Nicht mit Insiderwissen, dem Zugang zu geheimen Informationen über das, was in den Regierungszentralen angebahnt wurde. Mir fällt keine andere Erklärung ein als Nachdenken über Lektüre. Und zwar doppelte Lektüre. Ritter las parallel die Zeitungen und die klassischen Werke der Reflexion über revolutionäre Situationen, Alexis de Tocqueville, Jacob Burckhardt, Reinhart Koselleck.

Ist es nicht wunderbar, dass eine Dissertation wie Kritik und Krise ein Klassiker werden kann? Denn das ist ja ganz unwahrscheinlich: Eine Anfängerarbeit, die Probe, mit welcher der Verfasser belegt, dass man ihn weitermachen lassen kann, soll für ewige Zeit oder wenigstens auf absehbare Zeit lesenswert bleiben, und das nicht etwa nur für Spezialisten, die dasselbe Feld beackern wie der Autor.

Weshalb kann Kritik und Krise schon bei der ersten Lektüre den Eindruck vermitteln, dass dem Buch jenes Schicksal des Überholtwerdens erspart bleiben wird, das Wissenschaftler, wie sie Max Weber, von Nietzsche inspiriert, sehen wollte, doch eigentlich bejahen müssen? Kosellecks Buch entfaltet einen einzigen Gedanken: den Antagonismus zwischen dem absolutistischen Staat, der sich hinter die Mauern des Geheimnisses zurückzieht, und der bürgerlichen Öffentlichkeit, die sich als Gegenwelt zur Sphäre der Willkürherrschaft konstituiert.

Das Argument entwickelt einen Sog, so dass man das Buch in einem Rutsch lesen kann. Ich tat das im Frühjahr 1990 an Bord eines Flugzeugs auf dem Weg über den Atlantik. Hier stimmt das Klischee: Das Buch liest sich wie ein Krimi, denn es fällt in die Gattung „true crime“ – es handelt von dem Prozess, den die Öffentlichkeit dem Staat machte.

Wusste sie, was sie tat? Die Frage des Vorsatzes bleibt bei Koselleck zweideutig. Der Prozessberichterstatter wiederholt nicht einfach die Anklage der gegenrevolutionären Pamphletistik, dass die Philosophen es von vornherein auf den Ruin von Staat und Kirche abgesehen gehabt hätten. Eher zeigt er die Aufklärer als Gefangene ihrer Rollenbilder und der Automatismen eines von Rollenzuschreibungen bestimmten kommunikativen Schlagabtauschs. Der Vorwurf der Fahrlässigkeit wiegt womöglich schwerer als ein verschwörerischer Plan, wenn von Schriftstellern und Gelehrten die Rede ist, also von Personen, die aus der Bewirtschaftung des Wissens und der Optimierung der Selbsterkenntnis einen Beruf gemacht haben.

Koselleck malt ein Szenario der dialektischen Eskalation aus: Die Kritik, die den Regierungen zunächst die politische Sphäre überließ und das freie Urteil, das sich nicht durch Zwang, sondern durch Gründe bestimmen lässt, nur an den Künsten und Wissenschaften demonstrierte, setzte sich selbst der Kritik aus, weil aus dieser Zurschaustellung souveräner Unparteilichkeit der Ehrgeiz indirekter Gewaltausübung herausgelesen werden konnte. Gerade der unpolitische Ansatz der bürgerlichen Moral, die von Macht partout nichts wissen wollte, wurde zur politischen Herausforderung. Der Kritiker behielt sich das Urteil über die Staatsverfassung vor – und machte sich dadurch verdächtig. Die Aufklärer wurden in den von ihnen angestrengten Prozess gegen die herrschenden Mächte hineingezogen und ihrerseits der Herrschsucht bezichtigt – wie in der Ereignisgeschichte der Französischen Revolution die Anstifter des Strafprozesses gegen den König selbst auf der Guillotine landeten.

„Kritik und Krise“: Der ungemein griffige Titel hat gewiss das Seine zur Wirkung des Buches beigetragen. Er provoziert – Kritik. Suggeriert der Stabreim, die etymologische Verwandtschaft der beiden Leitbegriffe, nicht eine Überdeterminiertheit des im Buch geschilderten Geschehens, eine zwangsläufige Verschlingung von Ideengeschichte und Realgeschichte?

Der Titel ist allerdings nicht als simple Schuldzuweisung zu verstehen: Hier die Täterin, die Kritik, da die Tatfolgen, die Krise. Bevor der Staat der Kritik verfällt, ist die Kritik selbst in die Krise geraten. Ihr Existenzmodus ist krisenhaft: die fortschreitende Revision der eigenen Urteile. Ein Modell der Eigendynamik historischer Prozesse, der zentralen Größe seiner Untersuchungen zum modernen Geschichtsbegriff, hat Koselleck erstmals an der Geschichte der Kritik im technischen Sinne entwickelt, der Textkritik und Bibelkritik.

Wie sieht es nun beim Historiker der Krise aus mit seiner Verstrickung in die Geschichte, die er auseinanderlegt? Vernunft und Offenbarung, Freiheit und Despotie, Natur und Zivilisation, Handel und Krieg: Diese Begriffspaare stehen für eine „dualistische ‚Denkform‘“, in deren Vorherrschaft sich nach Koselleck „die Heraufkunft der bürgerlichen Welt“ ankündigt. Durch die „dualistische Denkstruktur“ habe „die neue Elite das ihr eigentümliche Selbstbewusstsein“ eingeübt: „Gesetzte Begriffe setzten ihre Gegenbegriffe, die im selben Vollzuge abgewertet und meist auf diese Weise ‚kritisiert‘ wurden.“ Ist aber das Buch, das den Gegensatz von Geistesrepublik und Staatsgeheimnis pointierend dramatisiert, nicht selbst ein Denkmal der dualistischen Denkform?

Eine Schwäche des bürgerlichen Politikverständnisses sieht Koselleck darin, dass die Bürger ihren Ausschluss von der Macht durch die Gründung eines moralischen Gegenreiches kompensierten. Das verborgene Handeln der Regierungen wurde mittels einer Hermeneutik des Verdachts gedeutet und auf die schlimmsten Motive reduziert. Sind dann aber nicht auch die antiphilosophischen Verschwörungstheorien der Gegenrevolutionäre, die eine Allmacht des bösen Willens unterstellen, ungeachtet der sozialen Herkunft der einzelnen Autoren typisch bürgerliche Phantasieprodukte? Indem Koselleck den Freimaurerlogen, die den Arcana imperii ihr eigenes Geheimnis entgegensetzen, eine Schlüsselrolle in seinem Schema gibt, präpariert er sozusagen den Wahrheitskern dieser Theorien heraus.

Er zitiert eine metaphorische Beschreibung der kritischen Arbeit durch Pierre Bayle, den Autor des gewaltigen Dictionnaire historique et critique: Demnach verfährt der Kritiker abwechselnd als Vertreter der Anklage und Anwalt der Verteidigung. Das kann man auf Kosellecks Vorgehen übertragen, nur dass nicht in jedem Moment klar ist, welches seiner beiden Mandate er gerade wahrnimmt.

Im Vorwort stattet er Carl Schmitt seinen Dank ab, bei dem er im außeruniversitären Privatissimum studierte. Seit der Rezension von Jürgen Habermas wird Kritik und Krise eine polemische Stoßrichtung gegen die Verselbständigung der moralischen Argumentation in der demokratischen Öffentlichkeit zugeschrieben. Man kann Kosellecks Kritik der Kritik aber auch grundsätzlicher verstehen, als Bilanzierung der Kosten unpolitischer Intellektualität.

Die ersten Gegenstände der Kritik waren Artefakte, in der Hauptsache Texte, und wie sie es mit der Kunst zu tun hat, so ist sie selbst eine Kunst, in Kosellecks Definition: „eine Kunst des Urteils, ihre Tätigkeit besteht darin, einen vorgegebenen Sachverhalt auf seine Echtheit oder Wahrheit, seine Richtigkeit oder Schönheit hin zu befragen, um aus der gewonnenen Erkenntnis heraus ein Urteil zu fällen […]. Im Zuge der Kritik scheidet sich also das Echte vom Unechten, das Wahre vom Falschen, das Schöne vom Hässlichen, das Rechte vom Unrechten.“ Insofern die Kritik laut Koselleck schon aufgrund ihres Begriffs in Zusammenhang mit dem dualistischen Weltbild steht, zeichnet sich hier eine kritische Urgeschichte der Politikverachtung des bürgerlichen Ästhetizismus ab.

Noch einmal grundsätzlicher angesehen, betrifft die Analyse aber auch ihre eigenen institutionellen Voraussetzungen. Die Kritik kommt aus der Philologie, sie ist das, was man an Universitäten gelehrt und gelernt hat. Eine Studie zur Pathogenese, zur Entstehung des Leidens, der bürgerlichen Welt wollte Koselleck mit seiner Dissertation vorlegen; der Untertitel des Buches knüpft an die medizinische Herkunft des Terminus „Krise“ an. Die bürgerliche Welt leidet an sich selbst, an dem Geist, der sie hervorgebracht hat. Ein Ergebnis der Arbeit ist so gesehen die historische Unvermeidlichkeit von Kulturkritik.

Diese Doktorarbeit aus den fünfziger Jahren geht nicht ins Gericht mit der Universität, aber sie macht doch eine Art Gegenrechnung auf, indem sie die pathologischen Züge einer Kultur freilegt, deren Bewegungsprinzip die fortwährende Verfeinerung kleiner Unterscheidungen ist, die immer einen Unterschied ums große Ganze ausmachen sollen.

Naturgemäß hat sich die wissenschaftliche Kritik des Buches von Koselleck bemächtigt. Hier ist nicht der Ort für eine Auseinandersetzung mit dieser kritischen Auseinandersetzung, und ich bin dafür auch gar nicht zuständig. Ich habe über dieses gelehrte Werk als einen unwahrscheinlichen Klassiker gesprochen, ein höchst individuelles und darin idealerweise dann doch typisches Endprodukt eines akademischen Studiums: ein Buch, das einem ganz unabhängig vom Forschungsstand zu den dort untersuchten Sachfragen aus gegebenem Anlass ganz plötzlich in den Sinn kommt, das man wieder zur Hand nimmt in der Hoffnung, mit seiner Hilfe etwas Unverständliches an der geschehenden Geschichte zu verstehen.

So erging es mir in der vergangenen Woche, als das sogenannte Interview verbreitet wurde, in dem sich Hans-Georg Maaßen, der Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz, in der Bild-Zeitung zur Diskussion um die Vorgänge in Chemnitz äußerte. Wir wissen heute, dass es gar kein Interview war, sondern dass der Geheimdienstchef einzelne wohlbedachte Sätze publiziert sehen wollte und die Bild-Zeitung für den richtigen Ort dafür hielt. Maaßens Mitteilung erzeugte in der Tat öffentliches Aufsehen, am meisten dieser Satz: „Es liegen keine Belege dafür vor, dass das im Internet kursierende Video zu diesem angeblichen Vorfall authentisch ist.“

Überraschend war im Lichte früherer Indizien für Maaßens Amtsauffassung nicht, dass der Verfassungsschutzpräsident überhaupt öffentlich zur Kontroverse über die Einordnung der Ereignisse von Chemnitz Stellung nahm. Überraschend war, dass er sein Fähnchen auf dem Feld der Kritik pflanzte. In einer Frage des kritischen Kerngeschäfts, der Echtheitskritik, forderte er die Chefin seines Dienstherrn, die Bundeskanzlerin, und die Journalisten heraus, die von Hetzjagden in Chemnitz geredet hatten. Im Sinne der dualistischen Denkform sprechend, die noch immer manchen Methodenstreit in den Literaturwissenschaften regiert, möchte ich sagen: Was Maaßen unter Berufung auf seinen Informationsstand als Behördenchef bot, war Kritik – und nicht Interpretation.

Er nahm nicht etwa eine Einordnung der Bilder vor, vergleichend oder chronologisch, sagte beispielsweise nichts dazu, ob die kurze Szene nach Kenntnis seiner Behörde vielleicht ein Ausschnitt aus einem längeren Geschehen war, das sich im Zusammenhang betrachtet womöglich anders darstellte. Stattdessen äußerte er Zweifel an der Echtheit der Quelle. Es liegen keine Belege vor, dass das Video authentisch ist. Andersherum gewendet: Es gibt Grund zu der Vermutung, dass das Video nicht authentisch ist, nicht echt, sondern gefälscht oder manipuliert, an einem anderen Tag oder einem anderen Ort aufgenommen, ummontiert oder nachbearbeitet. So wurde Maaßens Aussage allgemein verstanden, und das war der natürliche Sinn seiner Worte.

Es zeigte sich, dass die Kritik immer noch das Zeug hat, eine Krise auszulösen oder zu verstärken. Die Regierung, so musste man ihren für die Sicherheit der Staatsordnung zuständigen Spitzenbeamten verstehen, hatte womöglich fahrlässig ein böses Gerücht verbreitet, eine Legende von Staatsversagen und Zivilisationsbruch mitten in einer deutschen Großstadt.

In der öffentlichen Diskussion über Maaßens Intervention bemühten seine Verteidiger das Argument der Autorität des Sprechers, das in der Gelehrtenrepublik keinen Ort hat, wo die Orientierung am Ansehen eines Kritikers nie die Prüfung von dessen Argumenten ersetzen kann. So verlautbarte der Oberbürgermeister von Tübingen, Boris Palmer, er glaube lieber dem Präsidenten des Verfassungsschutzes als den virtuellen Partisanen mit dem Decknamen Antifa Zeckenbiss. Man sieht daran, wie sich aus absolutistischer Zeit die Aura des Staatsgeheimnisses und der Glaube an dessen professionelle Verwaltung erhalten haben.

Palmer und andere nahmen zu Maaßens Gunsten erstens an, dass ihm Informationen über die Herstellung und Verbreitung des Videos vorliegen müssten, die er gemäß den Maßgaben des Geheimschutzes nicht öffentlich machen dürfe. Und zweitens, dass er gute Gründe gehabt haben werde, das habituelle Schweigen des Geheimdienstlers zu brechen. Gerade der Umstand, dass Maaßens Einlassung in der Boulevardpresse den bürokratischen Üblichkeiten widersprach, war nach dieser Logik ein Grund, ihm zu vertrauen.

Maaßens Akt der Kritik setzte einen Aktionismus der Meta-Kritik in Gang, ein eifriges Abklopfen seiner Worte. Wie er die Authentizität des Videos bewertet hatte, so musste er erleben, dass seine Glaubwürdigkeit auf den Prüfstand kam. Denn wie Koselleck anmerkt, kann sich das Urteil der Kritik „nach Ausweis des Wortgebrauchs auch auf Personen erstrecken“.

Auf Anweisung seines Dienstherrn, des Bundesinnenministers Horst Seehofer, legte Maaßen einen Bericht vor, in dem er die von ihm der Bild-Zeitung diktierten Sätze erläuterte. Dieser Selbstkommentar im Umfang von vier Seiten überbot noch einmal den Überraschungsfaktor des Originaldokuments. Es stellte sich heraus: Es lagen dem Bundesamt für Verfassungsschutz deshalb keine Belege dafür vor, dass das Video authentisch ist, weil dem Amt überhaupt keine Informationen über das Video vorliegen.

Mit einer Beweislastregel wollte Maaßen erklären, dass er sich in der Echtheitsfrage trotzdem skeptisch eingelassen hatte: Der Urheber des Videos sei in der Pflicht, die Authentizität zu belegen. Damit vollzog Maaßen die entscheidende strategische Operation der radikalen Bibelkritik nach: Nicht die Unwahrheit, sondern die Wahrheit der heiligen Schriften muss bewiesen werden. Allerdings behauptete Maaßen jetzt, er habe die Echtheit des Films gar nicht in Zweifel gezogen. Seine Kritik habe sich nur auf einen Paratext bezogen, die von Antifa Zeckenbiss gewählte Überschrift „Menschenjagd in Chemnitz“, betraf demnach sozusagen nur die redaktionelle Einrichtung der Quelle.

Dieser nachgereichte Verständnishinweis war allerdings nicht geeignet, Maaßens ursprüngliche kritische Stellungnahme zu entschärfen. Im Gegenteil: Der Verfassungsschutzpräsident hatte sich noch viel weiter exponiert als gedacht. Bild hatte ihn mit dem Satz zitiert: „Nach meiner vorsichtigen Bewertung sprechen gute Gründe dafür, dass es sich um eine gezielte Falschinformation handelt, um möglicherweise die Öffentlichkeit von dem Mord in Chemnitz abzulenken.“ Die Vorsicht ist die erste Tugend des Kritikers. Mag die Kühnheit der Konjekturen ihm seinen Ruhm verschaffen, so muss sie doch von der Vorsicht geleitet sein.

Den alarmierenden Satz, dass die Öffentlichkeit möglicherweise Opfer einer Fehlinformation wurde, welche die Gespräche über Chemnitz in eine andere Richtung lenken sollte, muss man mit dem heutigen Wissen als unvorsichtig bewerten. Denn er bezog sich nicht auf eine aus Indizien erschlossene Manipulation des Filmmaterials, sondern lediglich auf die Überschrift, die in Maaßens Augen eine verfälschende Übertreibung war, aber nach dem Urteil vieler anderer Betrachter das im Film festgehaltene Geschehen ziemlich genau trifft. Der große Irrtum, dem Maaßens Apologeten erlegen waren, war die Annahme, er schöpfe aus dem privilegierten Wissen des Geheimdienstchefs. Offenbar wurde, dass er gar kein Wissen besaß, dass er sich einfach seine Meinung gebildet hatte wie jeder andere Zeitungsleser und Internetnutzer auch.

In den Grundlinien der Darstellung, nicht in den Schattierungen der Beurteilung folgt Kritik und Krise der Erzählung Carl Schmitts von der Zersetzung der Substanz der Staatlichkeit im permanenten Meinungsstreit. Die Selbstvergessenheit des Staates erreicht eine neue Qualität, wenn ein leitender Beamter sich von der persönlichen Meinung hinreißen lässt – und dafür von seinem Dienstherrn ausdrücklich in Schutz genommen wird. Zwischenzeitlich entschuldigte Innenminister Seehofers die ungedeckten Behauptungen des Verfassungsschützers damit, dass Maaßen von seiner Meinungsfreiheit Gebrauch gemacht habe – als hätte dieser sich gegenüber der Bild-Zeitung nicht in seiner amtlichen Eigenschaft geäußert.

Die Hermeneutik des Verdachts hat wieder von großen Teilen der Öffentlichkeit Besitz ergriffen. Es gibt eine Legitimationskrise der Regierungen, denen eine signifikante Minderheit zynisches Desinteresse an der Volksmeinung unterstellt, eine kleine, aber lautstarke Minderheit sogar ein Komplott, Planungen für eine Revolution von innen. Die Anhänger der AfD beschreiben die Lage des Landes so, als hätten die Staatsfeinde der Aufklärungszeit, die Ideologen der Humanität und der reinen Moralität, den Staat gekapert.

Mit der Gegenöffentlichkeit ihrer Internetmedien erneuern die Rechten freilich selbst die Attacke einer absolut gesetzten Kritik auf den zum Monster stilisierten Staat, der schon wieder als Ancien Régime beschrieben wird. Es steht also Bürgertum gegen Bürgertum, und wenigstens insoweit zeichnet sich eine Rückkehr des Bürgerkriegs ab, der laut Koselleck im bürgerlichen Zeitalter in die Gelehrtenstreitigkeiten ausgewandert war. Auch im Habitus trägt die rechte Protestbewegung sehr wohl bürgerliche Züge, und wenn man Koselleck gelesen hat, erkennt man auch in der Maßlosigkeit einen solchen Zug. Pures achtzehntes Jahrhundert ist die unter den angeblichen Verteidigern des Abendlands grassierende Religionskritik.

Das Bemerkenswerte am Fall Maaßen ist, dass man es hier mit einem hohen Staatsfunktionär zu tun hat, der die Diagnose einer feindlichen Übernahme des Staatsapparats offenbar teilt und sich deshalb wie ein Doppelagent verhielt. Die in seinen Augen einseitige Informationspolitik der Regierung konterte er mit Gegenpropaganda, verkleidet als Kritik.

Lange wurde Maaßen von vielen Seiten seine juristische Fachkompetenz zugutegehalten. Umso mehr überraschte es, dass er über einen antifaschistischen Versuch der Ablenkung von einem Mord spekulierte, während die Staatsanwaltschaft wegen Totschlags ermittelte. Vor dem Innenausschuss des Bundestags erklärte Maaßen seine Wortwahl: Er habe bewusst von Mord gesprochen, weil in der Bevölkerung der Verdacht bestehe, dass Straftaten heruntergespielt würden. Dass eine Verurteilung wegen Totschlags nach einer solchen Äußerung des Verfassungsschutzpräsidenten dann den Verdacht wecken müsste, die Richter wollten die Straftat nicht nur herunterspielen, sondern das Strafmaß tatsächlich herunterdrücken, nahm er in Kauf. Ein Beamter setzt seine Privatvorstellungen von den Rechtsbegriffen an die Stelle der amtlichen Definitionen: Das ist der Inbegriff einer von allen objektiven Maßstäben losgelösten Kritik, die geeignet ist, den Staat in die Krise zu stürzen.