Die Überwindung der Maskenphobie

Im Blick auf die Ansteckungsraten mit Covid19 erlaubt der Vergleich zwischen Ländern, die wie selbstverständlich auf das Tragen von Masken setzten und solchen, die gar nicht oder erst viel später dazu verpflichteten, den ersteren eine größere Kompetenz bei der Infektionseindämmung zuzusprechen. Wenn es die Statistik auch nicht einfach erlaubt, das Tragen von Masken als Ursache der großen Unterschiede in der Ausbreitung des Virus namhaft zu machen, so wird man trotzdem auf den Vorteil von Verhaltensmustern schließen dürfen, die mit dem Tragen von Masken einhergehen. Was also, wenn der Erfolg Singapurs, Südkoreas, Japans oder, wenn man den Zahlen glaubt, Chinas, auf entsprechende Verhaltensweisen zurückgehen, noch vor dem Social Tracking – oder möglicherweise in Verbindung mit diesem?

Angesichts der in deutschen Leitmedien lange gepflegten Skepsis, der bei unseren Politikern immer noch deutlichen Abwehr und der ziemlich spät geäußerten positiven Haltung des Robert-Koch-Instituts wurden Stimmen laut, die das offenkundige Desinteresse an einer Maskenpflicht für den Nachhall eines zivilisatorischen Überlegenheitsgefühls des Westens gegenüber Asien halten. Die anderen haben Gesichter wie Masken, wir würden das nicht ertragen. Wenn die Maske einst die Person war, die Per-sona, durch die es tönte wie durch einen Mundschutz, so sind wir jetzt Individuen und können auf die Vergewisserung unserer Gesichtszüge nicht verzichten. Die Notwendigkeit einer Eindämmung des Virus wird in Europa dementsprechend über die Botschaft vermittelt, man möge zu Hause bleiben und im Freien auf mindestens zwei Meter Abstand achten. Wer in seiner Wohnung bleibt, der schützt sich und andere. Gegen dieses ins Existenzielle gewendete liberale Credo – jeder denke zuerst an sich, dann gehe es allen gut, und alles Unglück des Menschen beginne damit, dass er nicht alleine in seinem Zimmer bleiben könne – wenden sich in verschiedenen Ländern linke, aber auch konservative Stimmen.

Sie weisen darauf hin, dass es gemeinsame emotionale Momente der Sozialisierung geben müsse, oder sie bringen gar die eschatologische Dimension des Geschehens ins Bild und zur Sprache, wie jüngst in den Kommentaren zum vorgezogenen Urbi-et-orbi-Segen des Papstes auf dem leeren Petersplatz. Der von seiner Bevölkerung verlassene, archäologisch nackte Stadtraum Roms wurde im Westen zur Ikone der Coronavirus-Verwüstung und simuliert die Utopie einer Welt ohne Menschen. Die Heimsuchung durch das Virus stellt sich abwechselnd als Privatangelegenheit und als apokalyptisches Menetekel dar, oder als beides zugleich, als eine Apokalypse, die aber jeder mit sich selbst abmachen muß. „Im Augenblick ist nur Abstand Ausdruck von Fürsorge“, so der Wortlaut der Kanzlerin bei der dramatischsten Ansprache ihres Lebens. Ist auch das Gegenteil denkbar: Eine Form der Fürsorge für die anderen wäre der Ausdruck der richtigen Abstandnahme von sich selbst? Dieser Möglichkeit sollten wir nachgehen, solange die Krise noch nicht ausgestanden ist.

Maskentragen scheint gleich mehrere Schwierigkeiten aufzuwerfen. In Deutschland ging es in den letzten Wochen vor allem um die mögliche Knappheit echter medizinischer Schutzmasken, und damit wurde vorausgesetzt, dass es darum ginge, den Einzelnen durch eine Maske so zu schützen, dass er gegen die Viren der anderen geschützt würde. Dabei weist das Wort „Atemschutzmaske“ eine Doppeldeutigkeit auf, die keinen Kommentare auf sich zog. „Atemschutz“ kann bedeuten, den eigenen Atem zu schützen, aber auch die anderen vor dem eigenen Atem, oder beides. Tausende von Leuten liefen und laufen in Deutschland und anderswo mit unterdrücktem Husten und Schniefen durch die Gegend, mit der diffusen Symptomatik, die sie im Unklaren ließ und lässt, ob sie ansteckend seien, und ohne zum Test vorgelassen zu werden. Diese Leute griffen zum einzigen „Atemschutz“, der ihnen blieb: den eigenen Atem zu bezwingen, um in der Öffentlichkeit nicht zu keuchen, zu husten oder in ein Niesen auszubrechen. Lauter unterdrückte Explosionen und erzwungene Abbrüche. Wir können davon ausgehen, dass dies eine körperliche und körpertechnische Erfahrung gewesen ist, die wir alle massenhaft und trotzdem jede/r für sich durchgemacht haben, mit eingezogenem Atem und dem festen Willen, im Notfall die Armbeuge zu bemühen. Was wissen wir über die anderen, die einen Schritt weiter gingen?

Wenn sie einen Mundschutz trugen, machten sie die unangenehme Erfahrung, dass sie an den Blicken der anderen merkten, dass man sie für Gefährder hielt, oder für Kranke einer höheren Gefährdungsstufe  und damit für Betroffene jener unklaren Kategorisierung, in der sich die Mehrdeutigkeit zwischen Gefährdeten und Gefährdern entfaltet. Wenn wir einen Mundschutz trugen, machten wir die unangenehme Erfahrung, dass wir an den Blicken der anderen merkten, dass sie uns für gefährlicher und gefährdeter hielten als sich. Einen Mundschutz zu tragen, war in jedem Fall eine Entscheidung, ein Ereignis, und ein kleines Abenteuer – eine Bewegung aus der Selbstverständlichkeit heraus. Warum eigentlich? Und worin besteht die Selbstverständlichkeit der ostasiatischen Gesellschaften, den Mundschutz zu verallgemeinern? Die westliche Prämisse scheint immer noch zu lauten: Schütze dich selbst, so schützt Du andere, denn dann wirst Du nicht zum Ansteckungsherd.

Daher scheint das Argument so entscheidend gewesen zu sein, daß der Mundschutz den Träger gar nicht wirksam vor der Ansteckung schützen kann und ihn oder sie womöglich in falsche Sicherheit schicken würde. Da schien es sicherer, ihn oder sie vor dieser Illusion zu bewahren und ohne Schutz nach draußen zu schicken. Bekanntlich geht die ostasiatische Maskierung von einer anderen Prämisse aus, die da lautet: Schütze andere, so bleibst auch Du geschützt. Die Maske bewahrt den anderen und die anderen durchaus wirksam vor der eigenen Virenlast, zumindest wenn man sie täglich wechselt oder regelmäßig wäscht und trocknet. Aber auch der Gedanke an dieses Waschen und Trocknen scheint unangenehme Empfindungen heraufzubeschwören, schließlich käme man dann womöglich mit den eigenen Erregern in Berührung, und schon die Thematisierung tut dies durch Worte.

Allem Anschein nach geht es hier um tiefsitzende Unterschiede dessen, was für uns und andere und für uns alle in der Welt Zivilisiertheit und Schutzbedürfnis ausmacht. In den Zeitungen lässt sich nachlesen, dass die ersten Mundschutz-Träger in der westlichen Coronakrise Aggressionen auslösten, bis zur physischen Gewalt. Die ersten Bilder maskentragender Menschen waren die von Chinesen, teilweise auch in Europa. Manche Beobachter wollten darin einen Hochmut erkennen, dergestalt, dass der Gesichtsschutz suggerierte, Asiaten wollten sich nicht anstecken, während er tatsächlich das reflexive Bewusstsein unterstrich, in den Augen der anderen die Verantwortung für die anderen zu übernehmen. Als Covid19 Wuhan heimsuchte, wurden der Atemschutz zur Pflicht und Menschen ohne Atemschutz verdächtig. Im Westen fiel diese Auffassung ins Leere, denn es gab keine Routine, auf die eine solche Auffassung zurückgreifen konnte.

Die medizinisch Maskierten der Tage vor der Coronakrise waren Schwerkranke, die sich vor Infektionen schützen mussten, oder es waren dem Verdacht nach verrückte Einzelgänger, oder es waren Leute, die Gefahr signalisierten. Schließlich wurde schon Jahrzehnte über Vermummungsverbote diskutiert, bis sie in den letzten Jahren Einzug in die Gesetzgebung hielten. Auch eine medizinische Maskierung bedeutete im Alltag erst einmal einen Gesichtsverlust, weil sie die offene Frage, wer hier wen gefährdet, in den Raum platzen ließ. Der Hinweis, man sei gefährlich, gehört bei uns zu liminalen Festen wie dem Klausentreiben oder dem Karneval und bedarf strenger sozialer Regulierung. Ansonsten ist der Gefährder selbst im höchsten Maß gefährdet und sollte lieber in seinen eigenen oder institutionellen vier Wänden bleiben. Eine Gesellschaft, die ihren solidarischen Zusammenhalt im Gefahrfall ganz reflexiv, nämlich als gemeinsame Anerkennung, dass sie aus Gefährdern besteht, ausdrückt, scheint uns zunächst undenkbar.

Demgegenüber scheint das Anlegen der Maske in Asien zur elementaren Zivilisierung der Krise beizutragen, ja, aus dieser Perspektive ist unser Bestehen auf einem unmarkierten Zustand vielleicht das untrügliche Zeichen für unseren Gesichtsverlust – und das nicht nur, weil es in den Augen ostasiatischer Gesellschaften so erscheinen muss, sondern auch, weil unsere Borniertheit ganz materielle Folgen hat, die wir bei der Endabrechnung nicht mehr leugnen können. Damit soll die zutiefst problematische Kombination von Mundschutz und Daten-Tracking nicht verschwiegen oder legitimiert werden. Respekt und Verantwortung können genauso zur Maske drängen wie zur Datenfreigabe, um das Social Tracking, die Nachverfolgung von potenziell gefährlichen Kontakten zu ermöglichen. Auch diese elektronischen Daten gehören dann zur Überwältigung durch eine soziale Maskierung, die sich hier wie dort zur institutionellen Gewaltausübung durch einen Polizeistaat gesteigert hat. Das Zurücktreten des individuellen Gesichts hinter einem allgemeinen Rücksichtsgebot kann dann als Anerkennung einer totalisierten Gesellschaft, die den Einzelnen allererst ermöglicht, verstanden werden. Die Konsequenzen können, müssen aber nicht so rabiat ausfallen wie in Wuhan, wo man von anderen namhaft gemachte Gefährder, die sich selbst auszuweisen weigerten, in ihren Wohnungen quasi einmauerte.

Was ermöglicht nun den Paradigmenwechsel zwischen dem in einigen asiatischen und dem in vielen europäischen Gesellschaften angetroffenen Verhalten in punkto Maskierung? Die zivilisationstheoretischen Einteilungen bröckeln und am Ende stimmen sie dann eben doch nicht, gibt es doch seit kurzem auch europäische Länder, die auf Covid19 mit einer Atemschutzpflicht reagiert haben – wenngleich stets im Kontext allgemeiner Ausgangssperren und damit auf dem Höhepunkt epidemiologischer Maßnahmen. Italien, aber auch Tschechien und die Slowakei wären hier zu nennen, und Österreich befindet sich allem Anschein nach in einer experimentellen Erkundung. Über die italienische Disziplin, die das geduldige Schlangestehen vor Supermärkten, das geflissentliche Einräumen von Abständen und eben auch das Tragen von Atemschutzmasken angeht, wurde erstaunt berichtet.

Italienexperten werden gegen dieses Staunen wiederum einwenden, dass Italien aus einer großenteils segmentär agierenden Gesellschaft besteht, in der klassischerweise das Anciennitätsprinzip gilt: Wer etwas von anderen will, muss sich verbindlich in eine Ordnung einreihen und hinten anstellen. Durch dieses Prinzip, das für augenblickliche wie für lebenslange Situationen gilt, organisiert sich eine öffentliche Ordnung auf die Schnelle selbst; und sie wird nur dort unterbrochen, wo auf einmal ganze Gruppen auftauchen, die einen agonalen Anspruch in das eingespielte Geschehen bringen. Solange das nicht geschieht, bleiben Gesichtswahrung und das Einhalten guter Manieren eng aufeinander abgestimmt. Außerdem behandeln sich Italiener in solchen Momenten als Fremde auf dem Sprung zur wechselseitigen Gastfreundschaft, weil sie sich nicht nur in der gemeinsamen Situation, sondern auch in der ad hoc geschaffenen Ordnung wiedererkennen.

Es scheint daher gar nicht so schwer zu sein, auch westliche und europäische Länder zu überzeugen, vom Modell des unzureichenden Schutzes eigenen Wohlergehens auf das Modell der Fürsorge für den anderen umzuschalten. Dementsprechend schreibt die Neue Züricher Zeitung: „Überzeugender wäre es auch, die Erfahrungen der asiatischen Gesellschaften ernst zu nehmen. Dort wird das Tragen von Gesichtsmasken von Personen mit Infekten primär als Massnahme verstanden, die anderen Menschen vor einer Ansteckung zu schützen. Es ist ein eindrückliches Zeichen von Respekt und Verantwortung gegenüber der Gesellschaft. Davon können wir im Westen nur lernen.“ Trotzdem bleibt hier eine grundsätzliche Lücke, und wir müssen abwarten, wie sie übersprungen werden kann. Unsere Angst, von anderen angesteckt zu werden, ist einfach grösser als die, andere anzustecken.

Wie Claude Lévi-Strauss einmal anhand amerindianischer Erziehungsmethoden ausgeführt hat, kann man die Kindererziehung, aber auch die Erziehung von Erwachsenen auf zwei entgegengesetzte Weisen begründen. Und man wird kaum leugnen können, dass es sich bei der Einführung einer Maskenpflicht um eine Form der Erziehung handelt, die zumindest beim nächsten Auftreten dieser oder einer anderen Pandemie greifen sollte oder am Widerstand der Schwererziehbaren scheitern wird. Lévi-Strauss stellte für die indianischen Gesellschaften (aber nicht, um ihnen ein Monopol in dieser Angelegenheit zuzubilligen) fest, sie gingen nicht von Sartres bekanntem Diktum aus: “Die Hölle, das sind die anderen”, sondern von der entgegengesetzten Prämisse: “Die Hölle, das sind wir selbst.” In jedem Kind, aber auch in jedem Heranwachsenden und Erwachsenen lauern Kräfte, die sich mit der Außenwelt verbünden könnten, um nicht nur die Welt, sondern auch den Kosmos in Unordnung zu bringen. Daher ist gutes Benehmen und ein Leben nach den Regeln der Etikette so wichtig, nicht um den Einzelnen vor dem Andrang der Welt zu schützen, sondern um ihm oder ihr zu helfen, die eigenen Kräfte richtig einzuschätzen, um ihn oder sie vor sich selbst zu schützen. Lévi-Strauss schreibt:

„Wenn man heute … Eltern fragte, warum sie ihren Kindern verbieten, Wein zu trinken, würden wohl alle in gleicher Weise antworten: der Wein ist ein zu starkes Getränk; und man darf ihn nicht ohne Gefahren schwachen Organismen verabreichen, die nur Nahrungsmittel vertragen, deren Zartheit der ihren entspricht. Doch nichts ist jüngeren Datums als diese Erklärung, denn vom Altertum bis zur Renaissance und selbst darüber hinaus verbot man den Kindern den Wein aus genau den entgegengesetzten Gründen: indem man sich nicht auf die Verletzbarkeit eines jungen Organismus durch eine äußere Aggression berief, sondern auf die Heftigkeit, mit der die Lebenserscheinungen sich darin kundtun: daher die Gefahr, explosive Kräfte miteinander zu verbinden, die beide eher ein mäßigendes Mittel erfordern. Statt also den Wein für zu stark für das Kind zu erklären, erklärte man das Kind für zu stark für den Wein, oder zumindest für ebenso stark wie er“ – und damit für zu stark für eine Multiplikation, die darauf hinausliefe, den Organismus so sehr zu beschleunigen, dass er vor der Zeit wie in einem Zeitraffer alterte und andere in Mitleidenschaft zöge.

Wenn Lévi-Strauss recht hat, dann haben auch die europäischen und westlichen Gesellschaften eine Zeit hinter sich, in der sie ganz im ostasiatischen Sinne auf das gute Benehmen des einzelnen achteten, damit dieser nicht zum Kontaminationsherd für beschleunigten Verfall würde, um die anderen zu verschonen und vor dem Übermut des spontanen Riisikos abzuschirmen. Dieses kulturelle Modell gilt es daher nur, aus der Vergessenheit zu holen, und vielleicht wäre das auch gut für all die denkbaren und sinnvollen institutionellen und gesellschaftlichen Reformen, die nach der Krise notwendig werden. Das Tragen von Atemschutzmasken zum Schutz der anderen vor dem eigenen Atem wäre eine gute Übung auf dem Weg zur Zivilisierung unserer Umgangsformen – mit den apokryphen Worten, die Mohandas Ghandi posthum zugeschrieben wurden: „Western Civilisation? It would be a good idea.“