Kette der Solidarität. Litauen und Belarus sind in Vergangenheit und Gegenwart eng miteinander verbunden
Von der litauischen Hauptstadt Wilna sind es 172 Kilometer bis ins belarussische Minsk. Auf drei dutzend Kilometern zur EU-Außengrenze haben vor gut einer Woche 50 000 Menschen eine Menschenkette gebildet. Sie erinnerten damit an den Hiter-Stalin-Pakt, der am 23. August 1939 geschlossen wurde und die Teilung Europas in zwei Einflussbereiche festschrieb. Für fünf Jahrzehnte unterbrach der Pakt die Eigenstaatlichkeit der nach dem Ersten Weltkrieg entstandenen Staaten im Baltikum. Der litauische Journalist Andrius Tapinas schlug vor, zur Erinnerung an die von Estland bis Litauen reichenden Baltischen Weg am 23. August 1989, 2020 eine Kette der Freiheit in Richtung Minsk zu bilden. Die ehemaligen Präsidenten Dalia Grybauskaute, Vladas Adamkus und der amtierende Präsident Gintanas Nauseda stehen am Straßenrand in Masken neben Familien mit weiß-rot-weißen Wimpeln. Alle rufen: „Für eine freie Republik Belarus!“
Die weiß-rot-weiße Flagge ist in Wilna seit den gefälschten Wahlen im Nachbarland omnipräsent. An der Fassade des Großfürstenpalais hängt sie zum ersten Mal in Solidarität mit den in Belarus Protestierenden. Im Parlament Seimas hängt sie hinter dem Rednerpult. Ein litauischer Abgeordneter hält zum ersten Mal eine Ansprache auf Belarussisch. Die Stadt Wilna lässt die drei Kreuze oberhalb des Burgbergs weithin sichtbar in weiß-rot-weiß anstrahlen. Vor der Botschaft der Republik Belarus protestieren jeden Tag Belarussen, die in Wilna leben. Neben der historischen Minderheit gibt es eine Szene von im politischen Exil lebenden Aktivisten, Studierenden und Arbeitsmigranten. Das öffentliche Fernsehen sammelt über 200 000 Euro Spenden für Verletzte und Streikende Teilnehmer der Proteste in Minsk und anderen Städten.
Die litauische Diplomatie nutzte die engen Beziehungen zum Nachbarland und wurde so zur führenden Kraft, um in der Europäischen Union eine klare Linie gegenüber Minsk zu entwickeln und zugleich konkrete Unterstützung für die im Exil lebenden Belarussen zu bieten. Die litauische Regierung nahm die geflüchtete Kandidatin Swetlana Tsichanouskaja auf, die jetzt von Wilna aus den Koordinierungsrat für eine friedliche Übergabe der Macht betreibt. In Wilna sind mehrere Dutzend Nichtregierungsorganisationen registriert, die in Belarus verboten sind, darunter ein Haus der Menschenrechte, das die Unterstützung von politischen Gefangenen koordiniert und mit der Europäischen Humanistischen Universität, seit 2006 auch eine Exilhochschule, die zuvor in Minsk geschlossen wurde.
Die Euphorie der Solidarität verweist auf eine gemeinsame Geschichte, die bisher nicht so offen und frei gefeiert wurde. Als historische Wiege gilt in beiden Gesellschaften das Großfürstentum Litauen. Sie teilen das Verschwinden einer eigenen Staatlichkeit im Zuge der Teilungen Polen-Litauens, das 20. Jahrhundert der Extreme mit Besatzung, Verfolgung, Völkermord und dem Aufbruch 1990. Neben der weiß-rot-weißen Flagge war von 1991 bis 1995 das rote Reiter-Wappen Pahonja Hoheitszeichen der Republik Belarus. Es ist fast identisch mit dem Wappen der Republik Litauen. Wegen des Streits um das Erbe des Großfürstentums beäugten sich viele Belarussen und Litauer lange mit einer Prise Vorsicht. Die belarussische Exiluniversität in Wilna stand seit ihrer Neugründung 2006 unter Beobachtung der litauischen Intelligenz, weil man keinen Hort eines neuen belarussischen ethnischen Nationalismus im eigenen Land dulden wollte. Historisch hatten die Begründer der belarussischen Nationalbewegung mit Verweis auf die Geschichte des Großfürstentums Wilna als Hauptstadt auserkoren und der Schlachtruf „Wilnja nascha“ – die litauische Hauptstadt gehört uns – lag noch lange auf der Zunge. Im Gegenzug betrachteten Litauer das historische Erbe etwa der Residenzstadt Grodno als Teil der litauischen Geschichte und blickten auf ihre Nachbarn wie viele in der Bundesrepublik auf die verlorenen Ostprovinzen des Deutschen Reichs.
2020 kam der Durchbruch im angespannten Nachbarschaftsverhältnis, weil das Ausmaß der Gewalt der von Alexander Lukaschenka auf friedliche Demonstranten angesetzten Polizeieinheiten in Litauen einen bedingungslosen Reflex der Solidarität aktivierte. Es ist auch eine Reaktivierung der gesellschaftliche Erinnerung an das eigene Auflehnen gegen die sowjetische Herrschaft, das im März 1990 mit der Erklärung der Unabhängig zum Ende der Sowjetunion beigetragen hatte. Anders als in Berlin liegt Minsk direkt vor der Haustür. Das parallel zu den Protesten mit russischem Brennstoff bestückte belarussische Atomkraftwerk in Astrawietz liegt nur 50 Kilometer von Wilna entfernt und versetzt die litauische Gesellschaft seit Jahren in Habachtstellung.
Entscheidend im Protestsommer für die Überwindung der Vorbehalte ist die neue Einigkeit in Belarus, die weite Bevölkerungsschichten unter der weiß-rot-weißen Flagge im Zeichen des Protests ohne nationalistische Obertöne versammelt. Denn die Mobilisierung neuer zuvor apolitischer Bevölkerungsschichten hat noch einen revolutionären Nebeneffekt: der friedliche Aufbruch gegen die Staatsgewalt vereint eine neue Mehrheit von Belarussen als nicht im engen Sinne ethnisch gedachte Nation. So beteiligte sich die große polnische Minderheit in Grodno prominent an den Protesten und half dort für vier Tage die Herrschaft von Minsk auszusetzen. Die Vorsitzende des in Belarus illegalen Bunds der Polen, Anzelika Borys, brachte es auf dem Leninplatz vor über zehntausend Feiernden auf den Punkt: „Heute sind wir alle Belarussen.“
Die Studierenden der Historischen Fakultät der Universität Wilna rufen zum Beginn dese Akademischen Jahres aus Spaß die Wiederherstellung des Großfürstentums Litauen aus: „Make GDL great again“ lautet der ironische Schlachtruf. Dabei hatte das Internationale Büro der 1579 gegründeten Hochschule noch vor einem Jahr eine Karte von Erasmus-Vereinbarungen, auf denen in ganz Europa nur die Länder fehlten, deren Territorium zum Großfürstentum Litauen gehörte: Belarus und die Ukraine. Nur wenige Geschichtsstudenten lernten Belarusisch, obwohl eine ältere Form die Kanzleisprache des Großfürstentums war. Das wird sich jetzt ändern, denn die Universität Wilna hat nur zwei Wochen nach den Wahlfälschungen ein Stipendienprogramm aufgelegt und der Rektor Rimvydas Petrauskas begrüßt seit neustem Gäste auf Belarusisch. Die Kette der Solidarität hat noch etwas in Litauen verändert. Man munkelt in Wilna, dass Andrius Tapinas, der Initiator der weltweit größten Solidaritätsdemonstration mit den Menschen in Belarus, 2024 als litauischer Präsidentschaftskandidat antreten will.