Günther Anders‘ Breslau 1915/1966, Wrocław 2020

Ich bin dem Schriftsteller, Philosophen und Dichter Günther Anders (1902-1992) in kurzer Zeit dreimal hintereinander begegnet: Anders war in der Umwelt-, und Friedens- und Antiatomkraftbewegung aktiv, und in erster Ehe mit Hannah Arendt verheiratet, deren Werk im Deutschen Historischen Museum gerade eine umfangreiche Schau gewidmet wurde. Während der Vorbereitung eines Aufenthalts in Wrocław stellte ich außerdem fest, dass er ein Tagebuch seiner Rückkehr in die Stadt geführt hatte. Anders hatte Wrocław fünfzig Jahre zuvor verlassen, um mit seinen Eltern, den deutsch-jüdischen Psychologen Clara und William Stern, nach Hamburg zu ziehen und war seitdem nicht zurückgekehrt.

Im Herbst 1966 erschienen im C.H. Beck Verlag unter dem Titel Die Schrift an der Wand seine Tagebuchaufzeichnungen. Den Teil der Rückkehr nach Wrocław, wohin er mit seiner dritten Frau, der Pianistin Charlotte Zelka reiste, veröffentlichte der Merkur bereits im August desselben Jahres in leicht veränderter Form. [1. Günther Anders, Fahrt in den Hades. In: Merkur, Heft 233, Klett-Cotta 1966, S. 748-763. Im Merkur erschienen zwischen 1952 und 1980 über 30 Texte, Tagebuchnotizen und Gedichte, Beträge zu Technik- und Medienphilosophie und geschichtskritische Betrachtungen; Günther Anders, Die Schrift an der Wand. Tagebücher 1941-1966. C.H. Beck 1966.]

Ab Poznań rollt mein Zug wegen einer Baustelle nur langsam Richtung Wrocław. Am Bahndamm blüht der Sauerampfer, in der Entfernung sind auf einem Feld stehengebliebene, mit Müll angefüllte Gewächshäuser zu sehen, die wegen der anhaltend milden Temperaturen, die der Klimawandel mit sich bringt, vielleicht gar nicht mehr gebraucht werden.

Ich lese in den Aufzeichnungen, dass Anders und Zelka auf dem Weg nach Wrocław am Straßenrand eine Rast einlegten und unvermittelt von einem gestikulierenden, Polnisch sprechenden Lkw-Fahrer auf ein übersehenes Schild aufmerksam gemacht wurden: Sie hatten sich am Wegrand auf noch nicht entminter Erde niedergelassen.

In Wrocław angekommen, suche ich lange Zeit ohne Erfolg nach dem Haus, in dem sich meine Unterkunft befinden soll. Ich bin bereits mehrfach auf der stark befahrenen Straße, der Zachodina, an einer Kirche vorbeigegangen, deren Architektur ungewöhnlich ist: von außen betrachtet scheint sie keinen Mittelpunkt, kein Kirchenschiff zu haben. Ein zerklüfteter Bau, der sich aus mehreren Gebäudeteilen zusammensetzt. Auf der Spitze eines jeden Dachs erhebt sich ein Kreuz. Irgendwann stehe ich inmitten von langgestreckten Plattenbauten und der Verkehrslärm der Zachodina rauscht hinter mir.

Ich frage eine ältere Dame, die sich in einem Hauseingang mit einem Nachbarn unterhält, nach der Adresse. Mit meinen paar Brocken Polnisch komme ich nicht weit. Ein paar Sätze später und fortwährenden Nicken meinerseits, habe ich sie davon überzeugt, dass ich nach einem Geschäft, sklep, suche. Sie tippt energisch auf ihr Handgelenk mit einer imaginären Uhr, dass ich mich beeilen solle. Es ist kurz nach sieben.

Ich suche weiter, in der einzigen, weiter entfernten Ecke, in der ich noch nicht gewesen bin, denn sie scheint mir am unwahrscheinlichsten, nicht zur eigentlichen Straße, der Zachodina, zugehörig. Doch dort finde ich das Haus endlich. Es ist der einzige Altbau neben einem neueren Haus selber Höhe, in einem Halbrund, das keinen Zweck mehr erfüllt. Im Asphalt befinden sich noch aufgelassene Trambahnschienen, alle anderen Altbauten, die es hier einmal gegeben haben muss, sind vom Straßenrand verschwunden.

Oben angekommen, begrüßt mich die Gastgeberin, eine ältere Dame, Kosmetikerin von Beruf, die drei Zimmer bewohnt. Auch in der Wohnung legt sie Schicht für Schicht über die Vergangenheit, PVC im großzügigen Schachbrettmuster aufs Parkett, im Bad eine blaue Tapete an der Wand, die alten Rohrleitungen und die Badewanne hat sie blau gestrichen, offenbar passend zu den alten, abgetretenen Fliesen, die noch aus der Vergangenheit der Vorbesitzer stammen müssen.

Auf meinem Zimmer vergleiche ich am Abend Stadtpläne von 1925, 1938 und heute. Die Zachodina mit den langgestreckten Plattenbauten und der zerklüfteten Kirche, hieß früher Westend, wie die gleichnamige Ausfallfallstraße in Berlin.

Von meinem Fenster im dritten Stock aus hätte ich einstmals auf die Nikolaikirche geschaut. 800 Jahre hatte dort eine Kirche gestanden, ehe sie im Zweiten Weltkrieg zerstört worden war. Sie muss das Zentrum des ganzen Stadtviertels gewesen sein. Der einen guten Kilometer entfernte Bahnhof, an dem auch Fernzüge halten, heißt noch immer nach ihr: Mikołajów. Alte Postkarten zeigen sie auf einer Anhöhe befindlich, ihre Türme hoch nach oben strebend. Jetzt geht der Blick aus dem Fenster auf die zwei Schornsteine des Kraftwerks Siechnice, aus denen Tag und Nacht weißer Rauch quillt.

Von wem zwischen Januar und Mai 1945 im damaligen Breslau was zerstört wurde, nachdem die Stadt von Gauleiter Karl Hanke zur „Festung“ erklärt wurde, weiß bis heute niemand genau. Vermutlich ließe es sich auch nicht mehr rekonstruieren. Ganze Straßenzüge wurden für den Häuserkampf und das irre, letzte Vorhaben eines Flugfelds auf der Kaiserstraße gesprengt. Am Ostermontag folgten schwere Bombenangriffe, dann wurde die Stadt von der Roten Armee eingenommen. Von 30.000 Gebäuden standen nur noch 8.000. Auf YouTube schaue ich Filme, die historische Aufnahmen und den gegenwärtigen Zustand vergleichen, immer im Zweier-Loop, vorher – jetzt – vorher – jetzt. Es sind Sequenzen, auf denen ich manchmal Übereinstimmungen entdecke, manchmal Nichts mehr im Jetzt auf das Vorher hinweist.

Es ist ein Gefühl der Orientierungslosigkeit, das mich immer noch beschleicht, dass Dinge nicht richtig an ihrem Platz sind, dass sie fehlen, überschrieben sind, weil sie sich so grundlegend verändert haben. Ich befinde mich in einer ständigen Suchbewegung, der ich mich nicht entziehen kann.

Am nächsten Morgen auf dem Marktplatz erinnere ich mich wieder an das Vorhaben, in den Süden der Stadt zu fahren und das Haus in Augenschein zu nehmen, im dem die Schriftstellerin und Literaturnobelpreisträgerin Olga Tokarczuk künftig eine Stiftung einrichten will. Ich nehme eine Straßenbahn, die die Powstańców Śląskich hinunterfährt, die vorher Straße der SA und ganz früher Kaiser-Wilhelm-Straße hieß.

Das Haus, in dem der Dichter und Dramatiker Tymoteusz Karpowicz bis zu seinem Tod 2005 lebte, soll in den nächsten Jahren ein Begegnungsort für Literat*innen aus der ganzen Welt werden. Heute ist es noch unspektakulär und verlassen, ausgestattet mit großzügigen, schmiedeeisernen Balkonen und einer Alarmanlage, die nachträglich an der Fassade angebracht wurde. Im Vorgarten ein toter Baum inmitten von gesunden, eine Schaukel im rückwärtigen Garten, ein paar Kirschbäume, ein von toten Ästen umranktes, stehengelassenes Spalier. Es gibt noch nichts zu sehen, als ein großzügiges Haus, das auf eine neue Geschichte wartet.

Später stelle ich fest, dass Günther Anders bis zu seinem 16. Lebensjahr in eben dieser Gegend aufgewachsen ist. Im Juli 1966 schreibt er darüber:

Für ein paar Minuten wieder nichts zu erkennen, zwar weiß ich, dass mein Ford Anglia die ‚Sudecka‘ hinunterrollt, und daß ‚Sudecka‘ für die ehemalige SA-Allee steht, und ‚SA-Allee‘ für die ehemalige Hohenzollernstraße, und daß wir, ehe wir 1915 nach Hamburg zogen, drei Jahre lang in der Hohenzollernstraße gewohnt hatten, und vor 1912 (und sogar seit der Erschaffung der Welt) nur ein paar Häuser von der Hohenzollernstraße entfernt, und mit Blick auf dasselbe klägliche, ‚Hohenzollernplatz‘ genannte grüne Dreieck in der Brandenburger Straße  – kurz: daß der Kreis meines Lebens sich sofort schließen wird, daß ich sofort zuhause sein muss  – es sei denn, ich fände die Kühnheit, oder ich brächte die Feigheit auf, an der nächsten Straßenecke im letzten Augenblick doch noch nach links oder rechts auszuweichen und ohne einen Blick in den Orkus geworfen zu haben, sofort ins Heute zurückdesertiere – oder sollte das alles vielleicht doch nicht wahr sein? Denn um der Behauptung, dass daß hier die Hohenzollernstraße sein soll, Glauben zu schenken, dazu gehört wahrhaftig mehr als alltägliches Gottvertrauen. Schließlich hatte sich die Straße damals aus gutbürgerlichen, zum großen Teile sogar aus hoch- und höchstherrschaftlichen fünf- und sechsstöckigen Häusern zusammengesetzt, Stil Berlin-Kurfürstendamm, aus Häusern mit schweren schmiede-eisernen und pneumatischen Haustoren, die wir Kinder, wenn wir aus der Schule kamen, nur dadurch öffnen konnten, daß wir, die Ranzen als Puffer benutzend, unsere Körper mit ganzem Gewicht gegen sie anwarfen.

Interessant ist auch, die Merkur-Version mit der kurz darauf erschienenen Buchversion zu vergleichen. Die Textabschnitte sind bei beiden in die gleichen Abschnitte gegliedert und mit kurzen Überschriften versehen. Der erste Eintrag nach seiner Ankunft lautet in der Merkur-Fassung: „Breslau, im Juli. Erste Exkursion“, in der späteren Buchfassung heißt es jedoch: „Erste Exkursion nach Hause“. In der Merkur-Fassung ist das nüchtern formuliert – eine Exkursion eben, aber die nachträgliche Einfügung gibt der Überschrift einen melancholisch-schwermütiger Ton, denn es handelt sich ja um eine Exkursion in nach Hause, das es nicht mehr gibt. Außerdem ergänzt er in der Buchfassung Absätze mit nachträglicher Lektüre, die er bei der Arbeit am Manuskript in Wien eingefügt hat. Auch eine „Ansprache an Ch.“, in der er über Dissonanzen und Auseinanderstreben ihrer Beziehung während des Aufenthalts mit seiner Frau Charlotte berichtet, eine Mischung aus Erklärung, Entschuldigung und schlechtem Gewissen angesichts der Wucht der Erinnerung, die ihn überkommt, weil er nicht vermochte, sie an seiner Seite wahrzunehmen.

Ich kann Anders‘ Strecke vom Zentrum in den Süden der Stadt nicht ganz nachvollziehen und schlage in den Stadtplänen nach. Die Sudecka verläuft 2020 erst ab dem Powstańców-Śląskich-Platzes, und aus der Hohenzollernstraße wurde nicht die Sudecka, wie er schrieb, sondern die Zaporoska. Doch beide führen zum ehemaligen Hohenzollernplatz, von da ab Anders nur noch die Erinnerung an die Brandenburger Straße 54 bleibt:

Wo ich mich 1915 mit dem Ranzen gegen das pneumatische Eisentor geworfen hatte, da bücke ich mich nun nach zwei Mohnblumen, um diese als Botinnen von vorgestern Ch. zu überreichen, die als Botin von übermorgen geduldig im Wagen auf mich wartet. Aber selbst das mißglückt, die Blüten haben Vergänglichkeit noch gründlicher gelernt als die Dinge, aus deren Schutt sie ihre Schönheit gezogen haben: denn im Augenblicke, da ich versuche, Ch. die zwei roten Kelche zu überreichen, hält meine Hand nichts anderes mehr als zwei leere Stiele.“

Seiner Frau Charlotte kann er nicht vermitteln, wie es ihm angesichts des Vorgefundenen, das er versucht zu begreifen, geht. Manchmal teilt er seine Erinnerungen mit ihr, meistens ergänzt er in den Aufzeichnungen, was ihm sinnlos scheint, mit ihr zu teilen, etwa eine Blickachse, die seine Mutter ihm einmal gezeigt hat und nicht mehr existiert. Er erinnert sich an das Schlittschuhlaufen im Südpark mit seiner zwei Jahre älteren Schwester Hilde Marchwitza, der späteren Übersetzerin und Widerstandskämpferin und ist erst erstaunt, dass angesichts der Zerstörung ausgerechnet das Israelitische Krankenhaus überdauert hat.

Vielleicht ist die Rückkehr nach Wrocław auch eine Bestätigung dessen, was er in seinen Schriften ausgearbeitet hat. Alles, was er wiedersieht und emotional mit Kindheitserinnerungen belegt ist, bestätigt ihm es. Die Zerstörung der Humanität, die Unvollkommenheit des Menschen und zugleich die Möglichkeit, Dinge zu produzieren und perfektionieren, die eine unendliche Zerstörung anrichten können, der Holocaust, der Abwurf der Atombomben über Hiroshima und Nagasaki.

Anders lebte ab 1950 als freier Schriftsteller in Wien. Er lehnte zwei Rufe ab, eine an die Universität Halle-Wittenberg und einige Jahre später an die Freie Universität Berlin. Vielleicht ähnlich wie bei Hannah Arendt sind auch Anders‘ Schriften übergreifend, politisch und nicht eindeutig einer Disziplin zurechenbar. Er gab zur Auskunft, er litte unter einer Allergie gegen stereotype philosophische Schulausdrücke. [2. http://anders-verlag.de/ueber-guenther-anders/]

Der Powstańców-Śląskich-Platz ist heute ein Umsteigeort im öffentlichen Nahverkehr. Ein Ort im urbanen Nichts, Kreuzungspunkt für 16 Trambahnlinien, der Name der Station lautet „Rondo“. Bodentief verglasten Fensterfronten von Bürobauten ringsherum, der Blick nach Norden bleibt an einem Hochhaus, der sogenannte Sky Tower, hängen, der von den Architekten effektvoll am Ende lippenstiftartig abgeschrägt ist.

Am Ende seines Aufenthalts fragt Günther Anders sich, welches Verhältnis er nun zu dieser Stadt hat, die früher seine Heimat gewesen ist.

 Immer wieder frage ich mich, wenn ich so durch die Straßen schlendere, ob es mir denn wirklich nichts ausmache, ob ich nicht doch in irgendeinem verborgenen Winkel meiner Seele darüber empört bin, daß diese Stadt nun eine polnische Stadt ist, nicht nur Wrocław heißt, sondern Wrocław wirklich ist. Schließlich habe ich hier Sprechen gelernt, Deutschsprechen, und mit dieser Sprache habe ich ja mein Leben lang eine, von mir aus jedenfalls, beinahe stur-monogame Liebesbeziehung unterhalten, eine so enge, dass es mir unmöglich gewesen wäre, meine Empörung über das, was in Deutschland vor sich ging, und was man uns und Anderen und sich selbst antat, anders als auf deutsch herauszuschreien – selbst verstummen kann ich vermutlich nur auf deutsch. (…) Nein. Nicht im mindesten. Höchstens voll Schmerz. Voll Schmerz darüber, daß ich nicht beleidigt bin, und darüber, daß ich nicht darunter leide. Ich weiß, manche meiner deutschen Freunde wird mir das, wenn ich zurück bin, verübeln. (…) Oder darf man vielleicht von jemandem, der es ausschließlich dem Zufall verdankt, daß er nicht, wie die meisten seinesgleichen, über die Brücke von Oppeln den Öfen von Auschwitz entgegengedonnert ist, und nicht wie diese als Rauch in den Himmel von Oberschlesien aufgestiegen ist – darf man vielleicht von einem solchen Menschen, und gar heute noch, vaterländische Gefühle erwarten?

Nachdem die deutsche Bevölkerung aus Breslau vertrieben worden war, entstand eine neue Stadt, aber sie blieb immer eine, in welcher sich die Narben der Geschichte des 20. Jahrhunderts besonders abbildeten. Den Wiederaufbau übernahmen selbst Vertriebene, die meisten von ihnen aus Lemberg und Galizien, sowie Menschen, die sich entschlossen hatten, im Osten Europas künftig nicht unter russischer Herrschaft leben zu wollen. Dziki zachód nannten sie die Stadt und das umliegende Schlesien, „wilder Westen“. Sie brachten wertvolle Bücher und Schriften mit, die heute in der Sammlung des Ossolineums lagern, und ganze Denkmäler wie das Panorama von Racławice und das des Dichters Aleksander Fredro am Großen Ring.

Am letzten Abend vor der Abreise stellte Anders fest, dass er das Taschenmesser seines Vaters in der Stadt verloren hatte, das er seit seinem Tod im amerikanischen Exil 1938 in Durham mit sich getragen hatte: „Ich habe die Hosentaschen untersucht. Kein Loch. Unsere Handkoffer und Taschen durchstöbert, Nichts. Wäre ich abergläubisch, ich würde behaupten, das Stück wolle hier bleiben. Und wäre ich ein Psychoanalytiker, ich hätte mich wohl im stärksten Verdacht, es unwissentlich, aber doch sehr willentlich, fortgeworfen zu haben, als ein Opfer: nämlich um mir die Gewißheit zu erkaufen, daß ich selber – was ja noch immer nicht feststeht – aus dem Hades heil fortkommen werde.“