Klagenfurt – So geht es nicht

Im Juli 2005 fängt alles an. Ich befinde mich gerade auf La Palma und begehe mit 50 Astronomen den zehnten Jahrestag der Entdeckung der ersten Braunen Zwerge, in einem Luxushotel inmitten von Lavawüste und Bananenplantagen mit absurd vielen azurblauen Pools im Hotelgarten und ebenso absurd vielen Badewannen pro Hotelzimmer. Oppenheimer ist da, Nakajima, Rebolo, Jayawardhana, alle großen Namen in der Braune-Zwerg-Branche, eine Woche der großen Gesten, der großen Torten, der großen Besäufnisse und der Saunen mit Seeblick. „Do you fancy a beer?“ fragt mich Simon wieder und wieder, während nebenan über Deuteriumbrennen und Molekülwolkenkollaps diskutiert wird. Gliese 229B, der legendäre erste Braune Zwerg, ist nur wenige Lichtjahre entfernt, und damit viel näher als Klagenfurt. Aus diesem durchweg heiterem Himmel erreicht mich die Nachricht von einem „Tex Rubinowitz“, der mir vorschlägt, nächstes Jahr am Ingeborg-Bachmann-Wettlesen teilzunehmen. Ich überlege keine einzige Sekunde und antwortete: „Guter Scherz, schöne Grüße, Aleks.“

Zwei Wochen später an einem regnerischen Abend Strategiefrühstück in Berlin mit Kathrin Passig und Sascha Lobo. Klagenfurt sollte kein Problem darstellen, schließlich hatte ich vor kurzem noch gemeinsam mit Sascha unter dem Pseudonym „Jünga di Zepplino“ in wenigen Minuten drei Texte zusammengehauen, denen Internet-Literatur-Experten Bachmanntauglichkeit zusprachen. Vermutlich im Scherz, wie im Nachhinein klar wird. Es scheint ganz einfach zu sein, zwei drei Stunden phrasendreschen und schlechte Metaphern zerbröseln, fertig. Jetzt aber lerne ich, daß Klagenfurt nur Autoren einlädt, oder solche, die diesen Status glaubhaft vortäuschen können, und nicht irgendeinen x-beliebigen Jünga. Schreiben müsse ich, so sagen die Fachleute, für Literaturmagazine, bis mir die Hand blutet, egal was es ist und wo es erscheint. Aber, so beruhigt man mein Entsetzen, diese Dreckszeitschriften drucken sowieso jeden Scheiß, so verzweifelt sei die Lage in der deutschen Literatur. Ich nehme das so hin.

Zurück in Toronto lege ich eine „Roadmap to Klagenfurt“ an. Systematik hat mir bisher in fast jeder Lebenslage weitergeholfen. Die Durchsicht der in Frage kommenden Magazine zur Vortäuschung meines Literatendaseins jedoch deprimiert zutiefst. So schlecht würde ich nie schreiben können, beschwere ich mich bei meinen Hinterleuten, die mir jedoch bestätigen, dass das so sein müsse. Offenbar liegt der Ursprung des Lebens doch im Schlamm. Folgsam lösche ich drei, vier verwertbare Texte aus dem Internet-Forum der “Höflichen Paparazzi”, einen über Heuschrecken, einen über Terry Pratchett, ein paar über Chile, einen übers Wattwandern, entferne die Prominenten aus ihnen, schreibe noch zwei, drei neue Werke über Geld und Arbeit, und ordne dieses Ramschsammelsurium in Gehalt und Sinn den Zeitschriften aus der Literaturhohlwelt zu. Insgesamt etwa zehn Punkte enthält mein Klafu-Strategieplan, der letzte lautet schlicht „November bis Februar: Text schreiben“.

Ende August 2005 blutet mir tatsächlich die Hand. Heuschrecken und Wattwandern einerseits, aber andererseits schreibe ich zur selben Zeit, oft sogar gleichzeitig, ungefähr 50 Seiten Publikationen über rotierende Sterne, Akkretionsscheiben und zähflüssige Substanzen plus ungefähr 30 Beiträge für die neugegründete “Riesenmaschine”. Es ist überraschenderweise nicht schwer, dies alles auseinanderzuhalten, einen Satz über die Kühle des Abendwindes dort, einen über Sternflecken hier und einen dritten über Schiffshebewerke da drüben. Es ist sehr heiß, sehr feucht, kein Wind regt sich und das Gehirn hat seine Ruhe.

An dieser Stelle taucht das Problem der Vorlaufzeiten auf. Literaturzeitschriften, so lerne ich, funktionieren noch langsamer als die Plattentektonik, sie brauchen Jahre, um drei schlechte Texte zusammenzubringen, vermutlich weil schlechte Texte sich abstoßen wie gleichartige Enden von Permanentmagneten. Es erscheint unmöglich, bis Februar – Deadline für Klagenfurt – genügend Publikationen vorweisen zu können, um als Literat zu gelten, und nicht als Astronom. In meiner Beunruhigung konsultiere ich abermals die Experten in Deutschland, die mir Mut zusprechen, das tun sie sehr zuverlässig und effektiv, in dem Sinne, daß es nur Klagenfurt interessiert, wer ich bin, aber nicht die Juroren. Ich müsse zwar Autor sein, aber erst hinterher, im Juni, wenn man auf den Büchertischen von Klagenfurt meine Werke inspiziert, und nicht vorher, dies entnehme ich den Worten meiner Berater. Bis Februar kann ich also offenbar das bleiben, was ich bin. Zum ersten Mal taucht der Name „Frau Monschein“ auf, offenbar wichtiger als Jury und Bachmann. „Frau Monschein“ war ab Anfang September die Instanz, für die ich arbeite.

An dieser Stelle muss ein technischer Exkurs folgen. Man kann Texte an andere schicken, in dem man sie hinten an E-Mails heranhängt, wobei „hinten“ eher so sinnbildlich zu verstehen ist, wie alles in der Literatur eben. Es tut mir leid, wenn dies jetzt etwas peinlich wird. Mein Mailprogramm „pine“ verwende ich seit zehn Jahren, aber noch nie hatte ich darüber nachgedacht, was passiert, wenn man Mails mit schon angehängtem Attachment weiterleitet, und zwar mit einem neuen Attachment. Was passiert, ist nämlich folgendes: Versendet wird das alte Attachment, und nicht etwa das neue, das wird einfach ignoriert. Dieser Zusammenhang mag etwas abstrakt klingen, hat aber zur Folge, daß man an eine Literaturzeitschrift zum Thema „Geld“ einen Text über Heuschrecken schickt, an eine Ausschreibung zum Thema „Arbeit“ einen über einen dicken Engländer, den man mal fast mit dem Fahrrad umgefahren hat, und an ein Magazin zum Thema „Räume“ einen Text über Heuschrecken. Heuschreckentexte landen überhaupt in ziemlich vielen Redaktionen, überflutet wird die Literaturwelt von einer Heuschreckenplage, und zwar einfach weil Heuschrecken das erste waren, was ich versendete, und wie Blutegel und gar nicht wie Heuschrecken kleben die Heuschrecken in den Folgewochen an jeder E-Mail, die ich zu ganz anderen Themen verschicke. Überhaupt nie versendet wurde versehentlich der brandneue Geldtext, den ich mir mühsam in den Wochen zuvor unter Bereinigung mehrerer Kindheitstraumata abgerungen hatte.

Ungefähr im Oktober tritt Jürgen Brömmer ins Klagenfurt-Spiel ein, allerdings vollkommen ohne sein Wissen. Über Dritte und Vierte wird mir mitgeteilt, dass er an einem Text über Vorgärten von mir interessiert ist, und Vorgärten, ich meine, damit habe ich mich praktisch mein Leben lang befasst. Mittlerweile hatte ich die erste offizielle Absage von einer dieser Textverbrechermagazine erhalten, und zwar weil das Magazin pleite war, und mittlerweile wurde mir auch allmählich klar, daß alle anderen auch absagen würden, beziehungsweise nicht mal das, weil sie von der eigenwilligen thematischen Umsortierung (siehe oben, der Attachment-Lapsus) überfordert waren. Brömmer erscheint als letzte Rettung, die Vorgärten-Anthologie als Point of Entry in mein Leben als Autor. Ohne jedes Problem fege ich ein paar Textbrocken zu einem Vorgartenepos zusammen, und sende es, diesmal sorgsam und technisch korrekt, zum Herausgeber. Dieses Mal geht also alles nach Plan, jedoch mein Werk versickert aus ungeklärten Gründen in irgendeiner Welt. Ich höre nie wieder von ihm. Es ist ein unerwartet trockener Oktober mit einem eiskalten Eriesee, gleichzeitig mein erster Indian Summer und der Monat, in dem ich zu verstärkten Dosen halluzinogener Drogen greife. Es bleibt nichts anderes übrig.

Mittlerweile ist also klar, daß ich nicht als Autor nach Klagenfurt vordringen kann, sondern nur als ein Niemand. Nicht sehr schön, aber so geht es bestimmt auch. Als nächstes steht auf dem Plan der eigentliche Wettbewerbstext, und er kostet mich einen langen, verwirrten Winter. Weil ich keine Geschichten erfinden kann, vermische ich einfach mein Leben mit dem meines ehemaligen Studienkollegen Schielmann, füge meinen ehemaligen verhassten Theorieprofessor Rückl hinzu, verwandele alle drei in Witzfiguren und fertig die Laube. Es fängt großartig an, der erste Absatz, erstellt irgendwann Anfang November, strahlt in seinem Enthusiasmus wie der todeskranke Heine und schillert wie Kafka nach dem Bade in einem Ölsee. Allerdings komme ich danach nicht weiter, kein Stück, jedes Wort war ein Fehlschlag. Ich beschließe, den Anfang mit nach Chile zu nehmen, und den Rest des Novembers dort weiterzuschreiben. Vermutlich ist es in Kanada einfach zu kalt zum Schreiben.

Der November in Chile dagegen ist brutal heiß. Zehn Tage muss ich auf einem Berg ausharren, in einer Wüste. Mir gehört ein altmodisches Zweimeterteleskop ganz am Ende eines Berggrats, ausgestattet mit hervorragenden Sonnenuntergängen, phantastisch klaren Nächten und einem mürrischen Nachtassistenten namens Don Fernando, der kein Englisch kann. Büsche rollen über die Straßen, Esel grasen am Wegesrand. Einsam und dunkel ist die Arbeitszeit, langweilig auch. Mein Spezialgebiet sind Veränderungen am Himmel, und leider sind Veränderungen immer mit Warten auf Veränderungen verbunden. Die Räume zwischen den Veränderungen sind es, die dazu führen, daß die Beschäftigung mit Veränderungen oft ermüdend ist. In regelmäßigen kleinen Kreisen fahre ich mit dem großen Rohr durch die Gegend, aufmerksam lauernd, jedenfalls am Anfang der Nacht, am Ende befasse ich mich mit Kugelsternhaufen. Alle drei Stunden ruft Don Fernando „Estrella, estrella brillante!“ dazwischen. Währenddessen feiern die Kollegen in Berlin die offizielle Eröffnung der Riesenmaschine.

Jeden Tag am frühen Nachmittag stolpere ich übermüdet ans Tageslicht. Nirgendwo kann der Unterschied zwischen Dunkelheit und Helligkeit größer sein als in der Atacama, man braucht zwei Stunden, bevor man morgens, also mittags, die Augen aufkriegt. Direkt neben meinem Teleskop ragt aus dem Schutt der Wüste ein großer Block, oben flach und eben, etwa so breit und tief wie ich, und mit phantastischem Blick über die braungrauen Verwicklungen der Umgebung, die so ähnlich aussehen wie Hirn von innen. Ein Schreibstein! Ein großartiger Schreibstein! Sehr großartig! So denke ich mir und tatsächlich geht es dort plötzlich von ganz alleine, entspannt und flüssig. Seite um Seite im gelben Oktavheft werden mit unleserlichem Gekrakel gefüllt, in einem atemberaubenden Tempo, also etwa zwei pro Tag. Nachts, beim Warten auf Veränderungen, schreibe ich den ganzen Quatsch dann sorgsam in den Computer.

Bis ich nach zwei Tagen merke, dass der Schreibstein nicht mir gehörte. Sondern einem seltsamen hinterleibsverdickten Insekt, etwa so groß wie ein Nachtfalter, aber eher ein Käfer, flach, rostrotgefärbt und von der Form wie ein Stealthbomber. Er kann unfassbar schnell krabbeln, vorwärts und rückwärts (wenn er sich umdreht), und vermutlich auch fliegen, aber das ist unbewiesen. Am dritten Tage taucht er wieder auf und macht immer unmissverständlicher klar, dass er mit meiner Anwesenheit nicht einverstanden ist. Seine Kreise um meine Sitzfläche werden immer enger, er droht offen mit den Fühlern und macht keinen Hehl daraus, dass er nicht in friedlicher Absicht unterwegs ist. Wenn ich nervös bin, kann ich nicht schreiben, nichtmal über ein Irrenhaus. Leb wohl, schöner Schreibstein. Am vierten Tag, nach quälendem Suchen nach einem eigenen, neuen Schreibstein, ziehe ich um. Zu einem kantigen, winzigen Felsbrocken, staubbedeckt, viel zu klein für meine Beine, total unbequem, kaum zu gebrauchen daher, die Aussicht verstellt durch die zum Teleskop gehörende Antenne, aber immerhin tierlos. Abgesehen von einer vergleichsweise kleinen Spinne, die ich gerade so noch tolerieren kann. Seltsamerweise auch mit verdicktem Hinterleib.

Natürlich leidet der Klagenfurttext unter dem Schreibsteinwechsel, genauso wie mein Hintern. Trotzdem gelingt es mir, in den zehn Tagen auf dem Berg immerhin gut die Hälfte der 30 Seiten zu schreiben, notdürftig zwar, aber immerhin. Als ich den Berg verlasse, bin ich zuversichtlich und optimistisch. Was folgt, sind zehn Tage Herumirren im Süden Chiles. Weil jeden Tag neue Geschicke gelenkt werden müssen, vergesse ich den halbfertigen Schielmanntext und konzentriere mich aufs Verirren, Herumtreiben und Herumlungern. Erst am letzten Tag, am windigen Strand von Mehuin, einem kleinen Fischerdorf am Pazifik, wo Nichtsnutze herumstehen und Leinen festhalten, deren anderes Ende im Meer liegt (welche Fische sind SO blöd?), ergreift mich ein unermesslicher Schreibdrang, ein Schwall aus Wörtern, lustig und herzzerreißend, ergießt sich aus meinem Kopf, und wenn ich nicht so müde und zermürbt gewesen wäre, hätte ich hier den Bachmannpreis verdient. So bleibt es bei Rudimenten. „Rudimente“ wäre auch ein guter Titel für einen Bachmanntext.

Ich weiß nicht mehr, wie der Text schließlich fast fertig wurde, bevor ich kurz vor Weihnachten nach Deutschland fliege. Irgendwie hatte Sascha damit zu tun, der unbedingt noch mehr Tiefenpsychologie wollte, oder vielleicht hatte ich ihn auch missverstanden. Mit etwa 25 Seiten steige ich ins Flugzeug. Mittlerweile hatte Kathrin angekündigt, auch bei Bachmann teilzunehmen, aber ich nahm das nicht so ernst, vermutlich wollte sie mir nur Feuer unter den Hintern oderso. Obwohl es schon irgendwie lustig wäre, wenn sie auch, zusammen mit mir, beziehungsweise. gegeneinander, man hätte sich gegenseitig beschimpfen und belauern können, am Ende hätten wir ingesamt 40000 Euro abgeräumt und überhaupt stelle ich mir das sehr unterhaltsam vor. Aber Literatur kann sie ja gar nicht, im Gegensatz zu mir natürlich. Ein halbes Jahr Beschäftigung mit Klagenfurt führt, wie man sieht, zu vollkommener Verblendung und Größenwahn, eine schreckliche Krankheit. Aber es geht auch wieder vorbei.

Anyway, am 26. Dezember steige ich in Stuttgart in einen Zug, der, wie ich drinnen feststelle, nach Klagenfurt fährt. Und obwohl ich schon in München wieder aussteigen sollte, überfällt mich in diesem Zug endlich der Schluss, irgendein machbarer Schluss meine ich, und die Geschichte ist fertig. Die Tage danach verlaufe ich mich mit Kathrin mehrere Tage lang im Schnee in Tschechien, und noch ahne ich nicht die Perfidie, die hinter diesem sogenannten Urlaub steckte. „Anne“ ist übrigens ein Mann, und Kathrin war schon immer scharf auf meine winddichte, wasserabweisende Outdoorjacke. Das ist mein voller Ernst.

Ich komme nicht um in Tschechien, aber ich werde krank. In einem dampfrohrgeheizten Pensionszimmer in Cheb, eine Stadt, von der uns abgeraten wurde, weil es dort nur Puffs gäbe (gar nicht wahr), überfallen mich Schüttelfrost und Fieber oder vielleicht auch beides. Die einzige Erinnerung an den nächsten Tag, den 30. Dezember 2005, in Berlin findet die letzte der legendären Bunnylectures statt, sind großartige, leergeräumte Braunkohlelandschaften auf der Südseite des Erzgebirges, von einem altmodischen Zug aus betrachtet, und die lauwarme Heizung des Bahnhofs Decin, wo wir stundenlang auf den Anschluss warten. Zittern und Beben begleiten mich weit fürsorglicher, als mir lieb ist. Das Jahr endet für mich zerschlagen und deliriös im Bett.

Gut in Erinnerung dagegen die ersten Stunden des Jahres 2006, wo die Freunde stundenlang, vermutlich betrunken, eindringlich auf mich einreden. Das Fieber kehrt allmählich zurück, während jeder einzelne Juror durchgenommen wird, Stärken und Schwächen analysiert, gute Ratschläge, Geschichten undsoweiter. Spinnen wäre zwar gut, hat aber gerade gewonnen, dagegen wäre eigentlich Nüchtern dran, Strigl ist super, wird aber nicht gewinnen, Radisch liest sowieso nichts, auch bei Ebel ist Einreichen zwecklos, irgendwie so. (Die Namen könnten auch ganz anders gewesen sein.) Ernst reden sie auf mich ein, sehr ernst, nicht ahnend, dass ich innerlich gerade eine Horde tschechischer Viren mit rigorosen Brandrodungen bekämpfe, und daher nichts anderes verstehe als „Blut muß spritzen meterweit“ oder etwas Sinnverwandtes. Die zukünftige Bachmannpreisträgerin Kathrin sitzt schweigend und still daneben. Noch hat niemand die Geschichte gesehen, abgesehen von Pathosschleuder Sascha. Pathos schleudern, das kann ich eigentlich alleine ausreichend gut. „Blut muss spritzen meterweit“, Neujahr 2006, Fieberwahn, Klagenfurt der Endspurt.

Wenn man genauer darüber nachdenkt, und das kommt jetzt vielleicht überraschend, passiert danach fast gar nichts Interessantes mehr. Abermals zurück in Toronto wurde der verwirrte Text zu Ende poliert und an alle Juroren verschickt, denn schaden kann es zumindest nicht. Zur selben Zeit jedoch, als der Text seine Reise nach Europa antritt, ergreift mich eine seltsame Depression. So ähnlich muss man sich fühlen, wenn man endlich den Mount Everest oder irgendeinen noch höheren Berg bestiegen hat, Leere auf dem Gipfel, you are lonely at the top, die Strapazen vorbei und der Sinn verloren. Eine komische Ironie des Schicksals will es, dass ich in diesen tieftraurigen Wochen abermals in Chile herumsitzen muss, Chile, ein Land der großen Amplituden. Wäre Kleist je in Chile gewesen, was hätte aus der deutschen Nachkriegsliteratur werden können.

Das ist das Ende meiner Klagenfurtambitionen. Ich höre nie wieder von Schielmann, der mittlerweile zudem Thielmann hieß, weil Herrndorf sich über zuviele „sprechende Namen“ im Text beschwert hatte, keine Ahnung, wie er darauf kommt. Das Epos jedenfalls verschwindet wie ein verdrecktes Handtuch in der Waschmaschine, und kommt auch nie wieder daraus hervor. Schlechte Metaphern, das jedenfalls kann ich jetzt.

Doch, halt, ganz stimmt das gar nicht. Anfang April meldet sich aufgeregt mein Agent („mein Agent“, hurra!), eine Frau Radisch hätte sich bei ihm gemeldet und wollte mich gern nach Klagenfurt einladen. Jedoch wäre ich ihr total unbekannt, was mich nicht wundert, und hätte zudem überhaupt kein vorzeigbares „Werk“, so wie Goethe oder Schiller etwa. Ausführlich erkläre ich ihr per E-Mail die Umstände, während ich mit Kollegen die Zukunft der Erforschung des Weltalls besprach. In Harvard übrigens, wo man keine Ahnung von der Existenz von Klagenfurt hat, und stattdessen den sauteuren Rasen kurzhält. Frau Radisch jedenfalls will nochmal nachdenken, und mir nach Abschluss ihrer Überlegungen Bescheid geben.

Drei Monate später gewinne ich dann das Internationale Bachmannschwimmen, das zufällig auch in Klagenfurt stattfindet. Die Sonne scheint auf meinen Bauch und lässt mich seitdem nie wieder in Ruhe. Schielmann übrigens, der von all dem nichts ahnt, ist trotzdem früh ergraut.

Der Text ist ursprünglich bei den Höflichen Paparazzi erschienen und wurde im Oktober 2006 in der Print-Ausgabe der Süddeutschen Zeitung veröffentlicht.