Versagen der Vorstellungskraft. Der Kampf gegen das iranische Regime

Als iranische Gerichte Mitte November vergangenen Jahres erstmals einen der Demonstranten zum Tode verurteilten, waren mutmaßlich bereits 326 Menschen bei der gewalttätigen Niederschlagung der Proteste getötet worden – ein weiterer Beleg für die Brutalität und den moralischen Bankrott der Islamischen Republik. Aber auch ein Indiz für die Ratlosigkeit eines Regimes, das zunehmend den Bezug zu den Wünschen seiner Bevölkerung verliert.

(Dieser Text ist im Februarheft 2023, Merkur # 885, erschienen.)

Der moderne Iran hat eine ganze Reihe von Revolutionen erlebt, soziale, ökonomische und politische. Er wird oft als so anfällig für Revolutionen wie politisch unbeweglich beschrieben. Das eine schließt das andere keineswegs vollkommen aus. Fehlende Veränderung kann zum Katalysator für revolutionäre Umtriebe werden, wenn der Druck auf einen reaktionären Staat wächst. Es ist aber auch wahr, dass lange Perioden der Erstarrung – das Klischee des »veränderungsunwilligen Ostens« verstärkend – zu politischer, aber auch analytischer Unbeweglichkeit führen: Regime werden selbstzufrieden, die Expertinnen beginnen sich zu langweilen. Genau in einer solchen Situation ist Argwohn angebracht.

Die Revolutionen von 1906 und 1979

Die beiden Revolutionen, die den Iran im 20. Jahrhundert umgewälzt haben, bieten dafür hervorragende, wenn auch sehr unterschiedliche Beispiele. Im Jahr 1906 hat die Konstitutionelle Revolution den Iran transformiert, in deren Zug, wie der Name schon sagt, eine Verfassung, die Begrenzung der Macht des Monarchen, ein Parlament, die Prinzipien des Rechtsstaats und der Gewaltenteilung etabliert worden sind. Die britischen Beamten, die über die Ereignisse berichteten, waren verblüfft und nicht wenig erfreut über die Veränderungen, die dabei verankert wurden.

In seinem Bericht über das Jahr 1905 hatte sich der damals gerade scheidende British Minister to Persia wenig enthusiastisch über die im Dezember ausgebrochenen, eher moderaten Proteste geäußert. Er schrieb viel ausführlicher über die Beziehungen zu Russland, Kredite und darüber, wie man politische Veränderungen ermutigen könnte, auch wenn er in dieser Hinsicht kaum Hoffnungen hatte. Da sich im vorangegangenen Jahrzehnt nicht viel getan hatte, gab es für seine Einschätzung durchaus Gründe, aber sein Unvermögen, den kommenden Sturm zu erkennen, war von Vorurteilen geprägt und seiner Unfähigkeit, zu sehen, was vor seinen Augen geschah. Die diplomatische wie wirtschaftliche Präsenz Großbritanniens im Iran war beispiellos. Die Informationsquellen waren vielfältig, und doch war nicht ansatzweise zu ahnen, was nur Wochen, nachdem der Bericht nach London geschickt worden war, losbrechen würde. Man konnte nichts sehen, und man wollte nichts sehen.

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