Ziviler Ungehorsam. Von Martin Luther King zur „Letzten Generation“?

Seit geraumer Zeit halten die Aktionen der »Letzten Generation« die deutsche Öffentlichkeit in Atem, ja, im Grunde bereits seit dem Wahlkampf zur Bundestagswahl 2021, als einige Initiatoren in den Hungerstreik traten und damit versuchten, Gespräche mit den Spitzenkandidaten der wesentlichen Parteien zum Thema Klimaschutz zu erzwingen. Seitdem hat sich das Repertoire an Aktionsformen erweitert: allen voran die Sitzblockaden auf zentralen Straßen und die Interventionen in Kunstmuseen oder anderen Kultureinrichtungen oder auch am Hauptstadtflughafen BER.

(Dieser Text ist im Februarheft 2023, Merkur # 885, erschienen.)

Einmal mehr erscheint damit das Phänomen des »zivilen Ungehorsams« auf der politischen Bühne, und mit ihm nicht nur klangvolle Namen wie Thoreau, Gandhi und King, sondern auch altbekannte Muster des Umgangs mit dieser Protestform. Das betrifft vor allem auch die Kritik an den Aktivistinnen. Eine lautstarke und aktivistische Minderheit klinke sich aus dem regulären demokratischen Prozess aus, indem sie sich über Recht und Gesetz stelle. Mit Hilfe illegaler Aktionen versuche sie, der Mehrheit ihren Willen aufzuzwingen, und geriere sich als moralisch überlegene Instanz. Um dessen Herr zu werden, bedürfe es der »harten Hand« des Rechtsstaats, im Zweifelsfall auch einer Verschärfung der zu verhängenden Strafen. Seit es das Phänomen des zivilen Ungehorsams in modernen Demokratien gibt, ist dies eine immer wiederkehrende Reaktion, für die Jürgen Habermas schon im Heißen Herbst 1983 die schöne Bezeichnung eines »autoritären Legalismus« gefunden hat. Es ist die typische Law-and-Order-Reaktion, die die Aktivistinnen als Unruhestifter bezeichnet und mit Kriminellen auf eine Stufe stellt.

Dabei trifft die Bezeichnung »Unruhestifter« im Kern genau das, worum es den Protestierenden geht, nämlich: Unruhe zu stiften. In seinem berühmten Letter from Birmingham City Jail wandte sich Martin Luther King Jr. 1963 an eine Reihe weißer Geistlicher, die seine Ziele zwar unterstützten, seine Methoden aber kritisierten. King und seine Mitstreiter hätten doch lieber den Verhandlungsweg wählen sollen. Kings Antwort: »Sie haben ganz recht damit, auf den Verhandlungsweg hinzuweisen. Gerade das ist ja der Zweck der gewaltlosen direct action: Sie will eine Krise herbeiführen, eine schöpferische Spannung erzeugen, um damit eine Stadt, die sich bisher hartnäckig gegen Verhandlungen gesträubt hat, zu zwingen, sich mit den Problemen auseinanderzusetzen. Sie will diese Probleme so dramatisieren, daß man nicht mehr an ihnen vorbei kann.« Genau dieses Ziel verfolgten im Bereich der Klimapolitik bereits die Protestierenden von »Fridays for Future«, die »Letzte Generation« hebt diese Dramatisierung nun auf die nächste Eskalationsstufe.

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