Ahornböden und Fichtendecken

Der Weg zum Violinunterricht führt an den ebenerdigen Fenstern eines Geigenbauers vorbei. Entweder hobelt er kleine Späne von Fichtendecken und Ahornböden, oder er schnitzt an einer Schnecke.

Im Sommer weht ein festlicher Duft von frischem Holz und Lack aus dem Haus. In kalten Wintern wachsen Eisblumen an den Fenstern, dicht wie Vorhänge.

(Dieser Text ist im Aprilheft 2023, Merkur # 887, erschienen.)

Woche für Woche sah ich in des Geigenbauers Fenster, sah Berge von Holzlocken auf dem Boden. Meine Hände hatten Woche für Woche Lust, in das Gewölk hineinzufahren.

Mich selbst hatte ich zunächst auf großen Bühnen gesehen, als eine mit Blumensträußen beworfene Virtuosin.

Die Geigenlehrerin meinte jedoch, die Schülerin habe zu spät mit der Violine angefangen. Irgendwann sei es einfach zu spät – zu spät – und überhaupt –

Ich hatte den oft wiederholten Sermon satt. Hatte aus dem Fenster auf den See geschaut, in den eine interessante Wolkenverschiebung blaues Licht gegossen hatte. Bäume schienen kopfüber ins Wasser gekippt.

»Also werde ich Geigenbauerin!«, hatte ich, die Lehrerin unterbrechend, gesagt, ohne vorher von dem Plan gewusst zu haben.

»Ach! Das ist doch ein reiner Männerberuf!«, empörte sie sich, rief die Mutter, meinte der Direktor der Geigenbauschule, ein entschlossener, robuster Mann. Vor allem wolle er keinesfalls, dass mit den Schülern geflirtet würde. Er sagte flirten mit I.

Die Leute sollten anderen Leuten, die bei Widerstand zu Hochform auflaufen, nicht abraten – Schachtelteufel sind die.

Eines Tages durfte ich eine Probezeit antreten, scharf beobachtet von Lehrern und Schülern. Damals hatte es nur drei Frauen in Europa gegeben, die Geigenbauer waren. Bei den meisten Berufen wurde noch kein »in« angehängt wie bei »Lehrerin«. Eine reine Männersache war der Bau von Streichinstrumenten, eine Bastion.

 

(…)


Möchten Sie weiterlesen?

Testen Sie 3 Monate MERKUR digital für nur 9,90 €.

Text im Digital-Archiv lesen / downloaden.