Tiefe Eindrücke

Charisma ist, ähnlich wie Pornografie, leicht zu erkennen, aber schwer zu definieren. Der (hier verkürzt zitierte) Definitionsversuch von Max Weber grenzt an eine Tautologie: »›Charisma‹ soll eine als außeralltäglich geltende Qualität einer Persönlichkeit heißen, um derentwillen sie als mit übernatürlichen oder übermenschlichen oder mindestens spezifisch außeralltäglichen Kräften oder Eigenschaften begabt gewertet wird.« Die Sozialwissenschaft kam auch später nicht viel weiter – obwohl Karriere-Coaches und Berater von Managern immer noch versuchen, Charisma auf Aspekte herunterzubrechen, die man sich aneignen könnte.

(Dieser Text ist im Maiheft 2023, Merkur # 888, erschienen.)

Charisma entzieht sich jeder Erklärung. Es ist eine Eigenschaft, die wir an anderen Menschen sofort bemerken, aber selten an uns selbst. Es ist weder eine Frage von Intelligenz (obwohl Gewitztheit sicherlich förderlich ist) noch von Kompetenz (die einem charismatischen Auftreten oft eher hinderlich ist). Charisma ist wesentlich erotisch, aber nicht unbedingt sexuell. Das Rätsel um Charisma veranlasste die frühen Griechen, es als eine Gabe der Götter zu betrachten: Charisma sei etwas, das man nicht kultivieren kann, sondern eher verliehen bekommt. Beschreibungen von Charisma greifen unweigerlich auf Lichtmetaphern zurück: Charismatische Menschen sind schillernde Persönlichkeiten, sie haben große Ausstrahlung – oder blenden uns.

In einem Punkt waren sich alle, die Jacob Taubes persönlich kannten, einig: Charisma hatte er. Bei praktisch jeder anderen Aussage über ihn gingen die Meinungen auseinander. Der 1923 in Wien geborene und 1987 in Berlin gestorbene Philosoph und Rabbiner entstammte einer langen Reihe jüdischer Gelehrter. Für Charisma war er nachgerade berühmt, obwohl ich es bei der ersten Begegnung kaum bemerkte. Ich traf ihn 1983 in der Wohnung seiner Frau, der Philosophin Margherita von Brentano, mit der mich die gemeinsamen Interessen für Kant, die Aufklärung und die Kritische Theorie verbanden. Ich sah mich konfrontiert mit der süßen jüdischen Melancholie eines Mannes, den diverse psychische und körperliche Gebrechen weitaus älter aussehen ließen als seine 59 Jahre und der sehr viel harmloser schien als die Gerüchte, die über ihn im Umlauf waren.

Es brauchte nur zehn Minuten seiner Nietzsche-Vorlesungen einige Monate später, da hatte ich es verstanden. Selten war ich so in Bann geschlagen. Es lag nicht an seiner Gelehrsamkeit oder rhetorischen Begabung, obwohl er in sechs Sprachen brillieren konnte. Taubes stellte Fragen, die sonst niemand zu stellen wagte. Diejenigen, die Nietzsche lasen, taten dies damals mit den Augen Walter Kaufmanns, der behauptet hatte, der arme Nietzsche sei verhunzt worden, seine Schriften habe seine Nazi-Schwester verfälscht, als er schon von Syphilis und Wahnsinn gezeichnet war. Taubes liebte Nietzsche sehr. Und doch brachte er es zustande, in einem Berliner Auditorium zu stehen, Himmler zu zitieren, die antisemitischsten Passagen aus Nietzsches Die fröhliche Wissenschaft vorzulesen und dann zu fragen, worin wohl ihr Bezug zu den Gaskammern bestehe. Zwischendurch erzählte er die besten jüdischen Witze, die ich je gehört habe. Bot er Antworten auf die Fragen an, die er aufwarf? Nicht in einer Form, dass ich mich an sie erinnern könnte. Aber seine Ausführungen waren auf eine Weise tiefgründig, die den Gebrauch des Wortes »tiefgründig« oberflächlich wirken lässt, und mutig auf eine Weise, die die Verzagtheit des üblichen Denkens umso deutlicher sichtbar werden ließ.

 

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