Das Kursbuch der Deutschen Bundesbahn

Ich sitze im Walhalla mit David beim Bier. Ich will schon lange über das Bundesbahn-Kursbuch schreiben, habe aber keinen Aufhänger. Bloß darstellen, wie kurios diese Fahrpläne früher aussahen? Da erwähne ich, dass es noch bis in die 1980er Jahre hinein selbst auf Hauptstrecken mehrstündige Löcher im Fahrplan gegeben hat. Zwei bis drei Stunden kein Schnell- oder Eilzug, sechs Stunden kein Nahverkehrszug, durchaus normal. Das ist ihm neu. Und plötzlich weiß ich, wie ich es angehen kann – und warum!

(Dieser Text ist im Maiheft 2023, Merkur # 888, erschienen.)

Warum über das Kursbuch schreiben? Weil es als Indiz einer vergangenen Moderne gelesen werden kann, einer anderen Taktung des Lebens, vor der Erfindung des angeblichen Menschenrechts auf Mobilität. Das Kursbuch zeigt, wie es auch gegangen ist. Verweist es etwa auf die Zukunft?

Fahr lieber mit der Bundesbahn (Kursbuch, Sommer 1978)

Ich setze mich vor das Kursbuch und versuche noch einmal eine Fahrt zu planen, so wie ich es früher getan habe, früher, als es noch keine privaten Desktop-Computer, kein Internet, keine Mobiltelefone gab. Heute werden solche Fahrpläne gar nicht mehr gedruckt, sondern sind bloß noch als PDF-Dateien im Netz zu finden. »Wofür braucht man Kursbücher«, sagt unser Sohn, »warum muss man es sich schwer machen?« Stimmt ja auch, schauen Sie sich einmal so eine Tabelle an: Da kann es vorkommen, dass fünfmal derselbe Zug nebeneinander steht, jeder mit einer kleinen Schlängellinie und einer Ziffer versehen, die in der Fußnote erklärt: »nicht 25. Dez, 1. Jan, 15., 18. Apr, 26. Mai, 6., 16. Jun, 3. Okt«, beim nächsten »auch 25. Dez, 1. Jan, 6. Jun«, der dritte fährt in Mittelstadt – aber nur samstags – zwei Minuten eher ab, der vierte hat eine abweichende Zugnummer und verkehrt bloß mittwochs vom 10. Oktober bis 31. Dezember, beim fünften gibt man auf. Doch nein, da steht es: Am 3. März, und nur dann, durcheilt er Mittelstadt ohne Halt, vielleicht wegen einer Baustelle. Kein Alltagsreisender sucht sich auf diese Weise noch seine Verbindungen zusammen. Die App ist schneller und zeigt gleich auch – dank der bahneigenen Fehlerquote – alle aktuellen Defekte im Netz unzuverlässig an.

Also, ich probiere es. Zuerst eine leichte Übung, eine hübsche, exotische Fernverbindung im Sommer 1952, Tafel G »Balkan-Würzburg-Hamburg-Oslo /Stockholm«: Ab Istanbul 8.20 Uhr mit dem Orient-Simplon-Expreß. Abends Umstieg in Belgrad in den Tauern-Expreß nach München, dort Anschluss an D 363, den man nachts in Würzburg wieder verlässt, um auf D 385 zu wechseln, der in Hannover zum Frühstück Anschluss an den Italien-Skandinavien-Expreß hat, Ankunft in Stockholm nach weiteren 24 Stunden. Das steht alles auf einer Seite, kein Blättern nötig. Etwas schwerer, weil man drei Tafeln benötigt: der Rheingold von London Richtung Italien im selben Jahr. Tafel E verkündet, dass der Zug nach »Basel-Roma siehe F, K« fährt, aber in der Fortsetzungstafel F verschwindet er hinter Luzern einfach im Verweis »Erstfeld an 22.44«! Wo ist das denn? Tafel K bekräftigt die Information, gibt aber an, dass man um 1.06 Uhr weiterkäme, mit einem erneuten Umstieg in Chiasso. Der Rheingold fährt nicht durch? Oder verbirgt sich irgendwo ein Kurswagen, den mein nicht mehr ganz geübtes Auge übersehen hat? Ich finde nichts.

 

(…)


Möchten Sie weiterlesen?

Testen Sie 3 Monate MERKUR digital für nur 9,90 €.

Text im Digital-Archiv lesen / downloaden.