Wie der (west)deutsche Film jung wurde

Im Januar 1960 kam Fritz Lang nach Berlin. Er war zu dem Zeitpunkt siebzig Jahre alt und längst eine Legende, als einer der großen Regisseure der Weimarer Jahre, der Deutschland wegen der Nazis verlassen und in Hollywood reüssiert hatte. Allerdings war er dort zu dem Zeitpunkt seit einigen Jahren nicht mehr besonders gefragt. Darum hatte er Artur Brauners Angebot angenommen, für dessen Produktionsfirma in den CCC-Studios in Spandau noch einmal Abenteuerfilme zu drehen.

(Dieser Text ist im Maiheft 2023, Merkur # 888, erschienen.)

So waren Das indische Grabmal und Der Tiger von Eschnapur entstanden, wurden von der etablierten Kritik in Deutschland eher verlacht, von der jungen Garde in Frankreich dagegen gefeiert; Fritz Lang selbst sprach vom »kindischen Grabmal«, war aber stolz, für das gute Geld handwerklich solide Arbeit geliefert zu haben.

Nun hatte er das Angebot, mit Die 1000 Augen des Dr. Mabuse einen weiteren Film für Brauner zu drehen. Volker Schlöndorff hatte durch Vermittlung Lotte Eisners Lang in Paris kennengelernt, wo der junge Deutsche, noch lange nicht selbst Regisseur, in der Cinemathèque unter anderem als Simultandolmetscher bei Vorführungen deutscher Filme agierte. Darauf berief er sich nun bei der Begegnung in Berlin, in seinem Tagebuch notiert er Langs wenig begeisterte Eindrücke von der Filmszene Deutschlands: »Er sprach vom kulturellen Tod des einstigen Berlin. Nicht einmal ein avantgardistisches Kino gäbe es. Die Produzenten seien genauso borniert wie das Publikum […] Nun habe er in seinem Alter ein halbes oder ein ganzes Jahr verloren. Das Erste, was in Deutschland getan werden müsse, sei die Gründung einer Cinemathek, um wenigstens die Filmschaffenden über das zu informieren, was er und andere in den zwanziger Jahren hier schon einmal erfunden hatten. Die heutigen Kameraleute, Aufnahmeleiter, Requisiteure und auch Autoren seien schlecht.«1

Mit der Ansicht stand Fritz Lang nicht allein. Die sechziger Jahre sollten sich als Inkubationszeit des später so genannten Neuen Deutschen Films erweisen, der in den Siebzigern und frühen Achtzigern dem Kino des Landes erstmals wieder weltweite Aufmerksamkeit verschaffte: mit Preisen bei den großen Festivals, dann dem Oscar für Volker Schlöndorffs Blechtrommel. Damit dieser neue Anfang möglich wurde, hatte man jedoch erst den Tod des Vergangenen zu diagnostizieren. Das war genau das, was vielfach passierte. So veröffentlichte 1961 der später vor allem als Autor eines Western-Lexikons bekannte Filmkritiker und -historiker Joe Hembus, 1933 geboren, also im Jahr, in dem Lang Das Testament des Dr. Mabuse, seinen letzten Vorkriegsfilm in Deutschland, gedreht hatte, ein vielbeachtetes Pamphlet mit dem tief ironischen Titel Der deutsche Film kann gar nicht besser sein, in dem er über den deutschen Nachkriegsfilm sagte, was viele unter den Jüngeren genauso empfanden: »Er ist schlecht. Es geht ihm schlecht. Er macht uns schlecht. Er wird schlecht behandelt. Er will auch weiterhin schlecht bleiben.«2 Seine Gegenüberstellungen von Weimar und dem Nachkriegskino waren polemisch, der Blick bewusst ungerecht und verzerrt, nicht erst heute wird man vieles in deutlich milderem Licht sehen. Gerade die Reduktion des deutschen Kinos der fünfziger Jahre auf den Heimatfilm, und dessen Reduktion auf seine schlichtesten Exemplare, wird heute seinerseits eher als schlechter, wenn auch vielleicht nötiger Mythos betrachtet.3

 

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