Überlegungen zu Tschernobyl

Bei Christa Wolf fällt das Weltgeschehen insoweit mit dem Privaten zusammen, als sich das eine im anderen spiegelt. So heißt es in Störfall: »Da du nicht fragen kannst: Die Art Strahlen, lieber Bruder, von denen ich rede, sind gewiß nicht gefährlich. In einer mir unbekannten Weise durchqueren sie die verseuchten Luftschichten, ohne sich anzustecken. Das Fachwort ist: kontaminieren.«1 Die Parallelisierung von Strahlenbehandlung und Kernkraft als Formen ziviler Nutzung der Radioaktivität ergänzt die Ich-Erzählerin in der Folge um eine Gleichsetzung von militärischer Verwendung und Atomenergie: »Nicht unvorbereitet, doch ahnungslos werden wir gewesen sein, ehe wir die Nachricht empfingen. War uns nicht, als würden sie uns wiedererkennen? Ja, habe ich eine Person in mir denken hören, warum immer nur die japanischen Fischer. Warum nicht auch mal wir.«

(Dieser Text ist im Aprilheft 2023, Merkur # 887, erschienen.)

Die Strahlung, die den kranken Bruder heilen wird, ist in allen anderen Fällen tödlich: ein Widerspruch, der den Kern von Wolfs Erzählung bildet. Der titelgebende »Störfall« markiert den Moment, in dem er als solcher ins Bewusstsein dringt und sich dadurch alles verändert. In Wolfs Erzählung wird dies durch den Auftritt eines Experten im Radio illustriert, dem die Ich-Erzählerin zuhört: »Was denn er heute mit seinen Kindern machen würde, gesetzt den Fall, er hätte welche. Er hat welche. Er, hat er gesagt, hat seiner Frau nahegelegt, den Kindern heute keine Frischmilch, keinen Blattspinat und keinen grünen Salat zu geben. Auch nicht in den Park oder in den Sandkasten mit ihnen spielen zu gehn, vorsichtshalber.«

Der Alltag ist durch das Ereignis von Tschernobyl außer Kraft gesetzt worden. Für den Soziologen Ulrich Beck verstärkt sich dieser Eindruck noch dadurch, dass er sich in der Rolle des Propheten wiederfindet. »Vieles«, schreibt er im Vorwort zur zweiten Auflage seines Bestsellers Risikogesellschaft, »das im Schreiben noch argumentativ erkämpft wurde – die Nichtwahrnehmung der Gefahren, ihre Wissensabhängigkeit, ihre Übernationalität, die ›ökologische Enteignung‹, der Umschlag von Normalität in Absurdität usw. – liest sich nach Tschernobyl wie eine platte Beschreibung der Gegenwart.«2 Dieses Vorwort mit dem Titel Aus gegebenem Anlaß ist auf den Mai 1986 datiert, einen Monat nach dem Vorwort der ersten Auflage – die geringe zeitliche Differenz markiert eindrucksvoll den großen Erfolg des Buches. Es endet mit einem Ausruf, der die Bestürzung ausdrückt, etwas geahnt und dadurch mehr als nur einen Nerv getroffen zu haben: »Ach, wäre es eine Beschwörung einer Zukunft geblieben, die es zu verhindern gilt!«

Kurz darauf publiziert Beck den elfseitigen Essay Der anthropologische Schock, der diesem Gefühl Ausdruck verleiht. Bereits der Einstieg postuliert einen totalen Bruch mit dem Vergangenen, der gleichzeitig auf ein altbekanntes Problem zurückverweist: »Die Ausnahme bringt die lange verdrängte Regel zu Bewußtsein: den Alltag im Atomzeitalter. Woran unsere Lebensformen einen historischen Augenblick lang zerschellt sind, soll hier von drei Seiten beleuchtet werden: die Enteignung der Sinne; die Weltendifferenz zwischen Sicherheit und wahrscheinlicher Sicherheit; und die absolute, alle Grenzen und Schutzzonen aufhebende Zugewiesenheit der Gefahr.«3 Der Mensch ist durch das Ereignis in eine neue Situation geraten, in der einstige Gewissheiten keine Bedeutung mehr haben. »Was wäre geschehen, wenn die Wetterdienste versagt, die Massenmedien geschwiegen, die Experten sich nicht gestritten hätten?«, fragt Beck. Die Antwort lautet natürlich: »Niemand von uns hätte etwas bemerkt. Wir sehen, hören weiter, aber die Normalität unserer sinnlichen Wahrnehmung täuscht: Vor dieser Gefahr versagen unsere Sinne.«

 

(…)


Möchten Sie weiterlesen?

Testen Sie 3 Monate MERKUR digital für nur 9,90 €.

Text im Digital-Archiv lesen / downloaden.