Die Weisheit bedrohter Körper. Anmerkungen zu „Zwischen mir und der Welt“ von Ta-Nehisi Coates

Warum um alles in der Welt sollte ein zeitgenössisches Buch über die Situation afro-amerikanischer Existenz seinen Titel einem Gedicht über das Lynchen entlehnen? Richard Wright, bedeutender Protagonist der Harlem Renaissance, schrieb dieses Gedicht mit dem Titel Between the World and Me 1935 als gotisch dunkle Betrachtung eines Tatorts, an dem das lyrische Ich am Ende selbst gelyncht wird.

Und eines Morgens unterwegs in den Wäldern stieß ich auf
       einmal darauf,
Stieß darauf in einer grasbewachsenen Lichtung, umstellt von
       Ulmen und Eichen mit tiefrissiger Borke.
Und die rußige Szene erstand vor mir bis ins Kleinste und
       schob sich zwischen mich und die Welt

Between the World and Me heißt auch das rund 80 Jahre später entstandene Buch von Ta-Nehisi Coates, das heute in deutscher Übersetzung mit dem Titel Zwischen mir und der Welt erscheint. Coates ist Redakteur und Reporter beim Atlantic, wuchs in West Baltimore auf, wovon wir uns dank The Wire ein gewisses Bild machen können, studierte in Washington, lebte in Chicago, New York und, seit einigen Jahren, immer mal wieder auch in Paris.

Die intertextuelle Projektion der aktuellen Lage auf die Lynchindustrie, die im frühen 20. Jahrhundert in den US-amerikanischen Südstaaten boomte, gibt schon den Tonfall vor, mit dem hier argumentiert wird: wenig versöhnlich. Coates kodiert seine Argumentation in einen Brief an seinen 15-jährigen Sohn. Die Sorge und Angst um dessen Körper, der auf den Straßen der Vereinigten Staaten der bewaffneten Unerfahrenheit junger Polizisten ausgesetzt ist, ist der narrative Motor des Buches. Coates beginnt mit einer für ihn exemplarischen Erfahrung. In einem Fernseh-Interview mit einer weißen Journalistin kommt die Sprache schließlich auf Ferguson:

Am Ende zauberte die Moderatorin ein populäres Foto von einem elfjährigen schwarzen Jungen auf den Schirm, der tränenreich einen weißen Polizisten umarmt. Dann fragte sie mich, wie es denn mit der „Hoffnung“ stehe. Und da wusste ich, dass ich versagt hatte. Und erinnerte mich daran, dass ich nichts anderes erwartet hatte. (17-8)

Coates scheitert, weil es ihm nicht gelingt, nicht gelingen darf, sein Argument hörbar zu machen. Das Argument lautet im Kern, dass es in Ferguson, stellvertretend für die gesamte afro-amerikanische Situation, nicht um Bilder geht, sondern um Körper. Es waren konkrete Körper, die 1619 zum ersten Mal nach Virginia verschleppt, Körper, die zu Tausenden in Schiffsbäuche gepfercht von Westafrika an die Ostküste geschifft, Körper, die vergewaltigt und gefoltert, Körper, die examiniert, betastet, gehandelt, gekauft und wiederverkauft wurden. Und es sind konkrete Körper, die heute in den Straßen der USA getötet werden, weil sie in einem Convenience Store Zigaretten kaufen oder einen ausgebeulten Hoodie und Baggies tragen.

Coates verweigert sich jeglicher Metaphysik, sowohl der apokalyptischen als auch der anagogischen Variante. Sein Materialismus wendet sich gegen die großen Gesten der Versöhnung, gegen den allzu einfachen Ruf nach Dialog, gegen die eugenischen Phantasiegebilde der großen Rassendurchmischung:

Ich habe keine Zeit darauf verwendet, das Problem der „Rasse“ zu ergründen – „Rasse“ ist lediglich eine Umformulierung und Verkürzung des Problems. Das sieht man immer dann, wenn wieder mal irgendein Esel – der sich in der Regel für weiß hält – meint, der Weg führe über eine große Orgie von Schwarz und Weiß und ende erst, wenn wir alle beige seien, also Angehörige derselben »Rasse«. Nur ist ein großer Teil der »Schwarzen« bereits beige. (116)

Rasse ist nicht das Problem. Nicht einmal Rassismus. Das Problem ist, dass große Teile der amerikanischen Gesellschaft nicht bereit sind, die Ursachen der aktuellen Probleme in der eigenen Geschichte zu suchen. Und die Handlungsmöglichkeiten für heute daraus abzuleiten. Eine durchaus universelle Konstellation. Auf die kollektive Verdrängungsleistung der amerikanischen Mehrheitsgesellschaft, reagiert Coates mit Verweigerung. Es ist ein Buch, das nicht auf Erlösungsformeln, nicht einmal auf „Kritik“, sondern vielmehr auf die Kraft der Negativität vertraut. Diese Negativität richtet sich in aller Härte gegen den großen Erfolgsmythos der amerikanischen Zivilisation: den American Dream.

Unser Medienvokabular brummt vor big ideas und hochtrabenden Theorien zu allem und jedem. Ich habe jeglichem Wunderwerk allerdings schon vor langer Zeit entsagt, und diese Entsagung ist ein Geschenk deiner Großeltern, die mich nie mit dem Jenseits zu trösten versuchten und Amerikas ruhmreiche Bestimmung hinterfragten. Indem ich sowohl das Chaos der Geschichte als auch die Tatsache meines endgültigen Endes akzeptierte, war ich frei genug, mich grundsätzlich zu fragen, wie ich leben will – insbesondere, wie ich als freier Mensch in diesem schwarzen Körper leben will. Die Frage ist wesentlich, denn Amerika versteht sich als Gottes Werk, doch der schwarze Körper ist der deutlichste Beweis dafür, dass Amerika von Menschen gemacht ist. (19-20)

Wie hier leitet auch Coates an anderen Stellen seine spezifische Sicht auf die Welt immer wieder aus seiner Kindheit her. Das passt gut zum pädagogischen Motiv, mit dem das Buch als Brief an seinen Sohn verfasst ist. Coates‘ Kindheit in West Baltimore war geprägt von der allgegenwärtigen Gewalt auf den Straßen und der Unfähigkeit der Schulen, dem irgendetwas entgegenzusetzen. Seine Reaktion auch hier wieder Verweigerung, Rückzug, Musik hören, Lesen. Der erste Kontakt mit Rappern, die den Zeitnerv stilistisch versiert in ihre Songs transplantieren: Nas, Eric B. and Rakim (Lyrics of Fury wäre ein anderer denkbarer Titel für Between the World and Me), Ice Cube. Already I was scribbling down bad poetry and bad rap lyrics. Und schließlich die unausweichliche Sogwirkung von Malcolm X, der für einen dritten Weg beyond the schools and the streets steht:

Ich liebte Malcolm, weil Malcolm niemals log, im Gegensatz zu den Schulen mit ihren moralischen Fassaden, zu den Straßen mit ihren Maulhelden, zu der Welt der Trümmer. Ich liebte ihn, weil er geradeheraus war, nie mystisch oder esoterisch, weil seine Wissenschaft nicht den Taten von Geistern und Göttern entsprang, sondern dem Wirken der dinglichen Welt. Malcolm war der erste politische Pragmatiker, den ich kannte, der erste aufrichtige Mensch, den ich je gehört hatte. Wenn er wütend war, sprach er es aus. Wenn er Hass empfand, so empfand er ihn, weil der Hass des Sklaven auf den Sklavenhalter so menschlich war wie Prometheus’ Hass auf die Vögel. Er hielt für dich nicht die andere Wange hin. (42)

Coates‘ Talent und Neugier bringt ihn an die Washingtoner Howard University. Name in der afro-amerikanischen Community: The Mecca. Berühmte Absolventen: die große Romanschriftstellerin Zora Neale Hurston, die Nobelpreisträgerin Toni Morisson, der Dichter Amiri Baraka, die Opernsängerin Jessye Norman u.v.m.

Ich schlug die Bücher auf, las und füllte dabei meine Kladden mit Notizen zu meiner Lektüre, und füllte dabei meine Kladden mit Notizen zu meiner Lektüre, neuem Vokabular und eigenen Sitzen. Ich traf morgens ein und forderte, drei Bestellscheine auf einmal, die Werke aller Autoren an, die mir in den Kursen oder auf dem Campus unterkamen: Larry Neal, Eric Williams, George Padmore, Sonia Sanchez, Stanley Crouch, Harold Cruse, Manning Marable, Addison Gayle, Carolyn Rodgers, Etheridge Knight, Sterling Brown. Damals glaubte ich, der Schlüssel zum Leben liege darin, den präzisen Unterschied zwischen der „schwarzen Ästhetik“ und „Negritude“ herauszuarbeiten. Wie genau hatte Europa Afrika unterentwickelt? Das musste ich herausfinden. Und wären die Pharaonen der achtzehnten Dynastie heute am Leben, würden sie in Harlem wohnen? Ich musste alle Buchseiten aufsaugen. (52)

I had to inhale all the pages. Coates gewinnt der Lektüre eine existenzielle Dimension ab, in der sich der Körper seiner eigenen Vitalität versichert. Auch das wird gegen den American Dream in Stellung gebracht, der nicht nur auf ökonomischer Ausbeutung beruht, sondern auch hermeneutisch und ästhetisch zu falschen Ergebnissen führt. So heißt es im Zusammenhang mit Malcolm X:

Dies waren Anstöße zum Schreiben und somit auch zum Denken. Der Traum gedeiht, wenn wir verallgemeinern, die Anzahl möglicher Fragen beschränken, naheliegende Antworten vorziehen. Der Traum ist der Feind der Kunst, des mutigen Denkens, des aufrichtigen Schreibens. (55)

Es ist kein Zufall, wie in der zuvor zitierten Passage neben vielen anderen des Buches Name auf Name folgt. Zum langen Weg der Selbstermächtigung gehört zunächst die Eroberung eines Archivs, die Errichtung eines Gegen-Kanons: Schriftsteller, Intellektuelle, Aktivisten, Musiker, Wissenschaftler. Aber auch persönliche Vorbilder aus der eigenen Familie, Freunde, Nachbarn. In der etablierten Kultur sind Inventurleistungen normalerweise der apokalyptischen Angst vor dem drohenden Verschwinden des Katalogisierten geschuldet; man denke etwa an die Obsession, mit der Eugène Atget das alte Paris dokumentiert hat, bevor es dem Hausmann-Plan weichen musste. Coates‘ Kataloge sind nicht gegen das Verschwinden gerichtet, sondern schaffen überhaupt erst Sichtbarkeit. Gegen die Brutalität der Straßen und die Künstlichkeit der Schulen ist der Kanon eine hervorragende Möglichkeit, sich seine eigene Geschichte und mit ihr den eigenen Körper zurückzuerobern.

Diese lange und schwierige Errungenschaft aber, und darin liegt eine weitere Verweigerungsleistung des Textes, führt keineswegs zur triumphierenden Unverwundbarkeit. Coates erinnert sich an eine Szene, in der eine weiße Amerikanerin seinen noch jungen Sohn aus dem Kino schiebt, weil er ihr nicht schnell genug läuft. Coates rastet aus, die Frau ist empört, die Menge richtet sich gegen ihn. Das Gefühl danach: Traurigkeit, nicht Reue. Nicht das Bedauern seiner überzogenen Reaktion dominiert sein Gemüt, sondern die Einsicht in die Unmöglichkeit, seinen Sohn überzeugender schützen zu können. Das klingt zunächst ein wenig nach hysterischem Alarmismus. Aber Coates geht es nicht darum, der weißen Mehrheitsgesellschaft ununterscheidbar Alltagsrassismus vorzuwerfen. Vielmehr entspringt der kurzen Erinnerung eine weitere Negativitätsleistung: die Verweigerung, den Männlichkeitsmodellen zu entsprechen, mit denen ein afro-amerikanischer Jugendlicher aus Pop-Kultur und Gesellschaft beschossen wird. Stattdessen die Akzeptanz der eigenen Schwäche, der Schutzlosigkeit, der Ohnmacht. Aber die Akzeptanz dieser Schwäche ohne männliche Scham.

Es tut mir leid, dass ich es nicht gutmachen kann. Es tut mir leid, dass ich dich nicht retten kann – aber so sehr auch wieder nicht. Denn andererseits glaube ich, dass es gerade deine Verwundbarkeit ist, die dich dem Sinn des Lebens näherbringt, so wie das Bestreben, sich für weiß zu halten, die anderen davon entfernt. Schließlich ist ihr Leben all ihren Träumen zum Trotz auch nicht unantastbar. (109)

Der gelebten Akzeptanz prinzipieller Schutzlosigkeit gibt Coates einen eigenartigen Namen: wisdom. Nicht gerade ein prominenter Begriff in den Diskursen eines Linksradikalen, als den die konservative amerikanische Presse Coates permanent denunziert. Aber aus Coates‘ perspektivischen Erfahrung heraus vielleicht der wichtigste Begriff überhaupt. Weisheit wird dabei nicht als afro-amerikanisches Privileg fetischisiert, hier das Zitat für den Sound einmal im Original:

but I think it has special meaning to those of us burn out of mass rape, whose ancestors were carried off and divided up into policies and stocks. I have raised you to respect every human being as singular, and you must extend that same respect into the past. Slavery is not an indefinable mass of flesh. It is a particular, specific enslaved woman, whose mind is active as your own, whose range of feeling is as vast as your own; who prefers the way the light falls in one particular spot in the woods, who enjoys fishing where the water eddies in a nearby stream, who loves her mother in her own complicated way, thinks her sister talks too loud, has a favorite cousin, a favorite season, who excels at dressmaking and knows, inside herself, that she is as intelligent and capable as anyone.

Aus Perspektive gewonnene Weisheit – das ist vielleicht der Kern dessen, was die rätselhafte Universalität des Textes ausmacht, von der in den überwiegend positiven Reaktionen in den USA häufig die Rede ist. Worin äußert sich diese Universalität? Zum einen in der bereits erwähnten Zerstörung der Grundsubstanz des amerikanischen Traums, seiner falschen Vorstellung des gesellschaftlichen Zusammenlebens, seiner destruktiven Illusion absoluter Sicherheit, seiner bigotten Vergöttlichung der eigenen Werte, seiner auf schlechte Harmonie abzielende Anti-Ästhetik. Zum andern in der ebenfalls beschriebenen Beschränkung der Perspektive auf konkrete Körper und historisch gewachsene materieller Verhältnisse, die am Ende nicht zu einer psychologisierenden, sondern vielmehr einer breiteren und analytischeren Sicht auf die Dinge führt. Im Triumph des atheistischen Zugriffs, der nicht in Nihilismus verfällt, sondern pragmatische Lösungsansätze ermöglicht, wie etwa den der Reparationszahlungen, die Coates in seinem prämierten Atlantic-Artikel von 2014, The Case for Reparations, ausführlich behandelt hat. (Der Text ist im Band der deutschen Ausgabe enthalten.)

Die Universalität des Textes hat auch mit seiner Kürze zu tun, die nur oberflächlich in seiner Briefform begründet ist. Es ist vor allem die Verweigerung Coates, eine endgültige Antwort darauf zu geben, was afro-amerikanisches Leben heute bedeutet. Dafür stehen nicht zuletzt die unzähligen Namen, die den Text bevölkern. Between the World and Me enthält in seiner Kürze und Perspektivität die Aufforderung weiterzulesen und weiterzuhören: die Zeugnisse von Frederick Douglass und Sojourner Truth; die Essays von DuBois; die Literatur der Harlem Renaissance; die Romane von Zora Neale Hurston, Toni Morisson, James Baldwin und Ralph Ellison; die Reden von King und Malcolm; die Live-Konzerte von Mingus und Parker; die Alben von Nas, KRS-One und Kendrick Lamar; die Debatten um Black Lives Matter und Reparationszahlungen.

Trotz seiner unbestreitbar universellen Dimension sollte man Between the World and Me in seinem Sinn lesen – als Zwischenergebnis eines denkenden Körpers, nicht als Allheilmittel gegen alle möglichen problematischen Konstellationen, die auf ursprünglicher Gewalt und historisch gewachsener Ungleichheit beruhen. Die Universalität des Buches liegt nicht darin, dass es für jedes im weitesten Sinn vergleichbare Problem eine vorgefertigte Antwort liefert (etwa auf die europäische Kolonialgeschichte und ihre Folgen). Sie liegt in der Vermittlung einer Haltung, mit der jeder, der eine spezifische politische, historische und kulturelle Situation verstehen und beurteilen will, an die Sache herangehen sollte: mit Neugier und mit Sorgfalt. Ohne vorschnelle Generalisierungen und die Suche nach Erlösungsformeln. Mit der Bereitschaft, die betreffende Kultur nicht als homogene Masse, sondern als von konkreten Körpern hervorgebrachtes Feld aus Lebensweisen, Stilen, Praktiken, Diskursen und v.a. aus Widersprüchen zu verstehen. Mit der Akzeptanz der eigenen Perspektivität und der eigenen Schwäche und der Einsicht, dass diese Schwäche nichts ist, wofür man sich schämen muss. Mit Weisheit.

Ta-Nehisi Coates, Zwischen mir und der Welt. Übersetzt von Miriam Mandelkow. Hanser Berlin 2016.