• In Erz gegossene Gerundien. Monika Rinck beim Internationalen Literaturfestival Berlin

    Ich bewundere die deutsche Lyrikszene aus sicherer Distanz: die Versenkung in jene Sprachverästelungen, an denen sich kaum auf Bäume klettern lässt; das gegenseitige Zuraunen folgenloser Geheimnisse in geschlossenen, schwach beleuchteten Räumen; die Opfergabe höchster Intelligenz an einen Altar ohne Kirche; das Abtasten der Textränder, der Buchstabenbilder, der Tongefälle; die unerschöpfliche Lust am hintersinnigen Zeilen- und Seitensprung. Vor allem bewundere ich die unendliche Natur- und Gerätekenntnis, die aus deutschen Gedichten der Gegenwart spricht. Als ich in meiner Jugend, vergleichsweise spät, begann, mich für Literatur zu interessieren, war mir schnell klar, dass ich niemals ein Dichter werden konnte, da ich die Namen der Blumen nicht kannte. Und später fiel mir auf, dass mir der praktische Sinn für die Hebelwirkungen fehlte, mit denen ein lyrisches Ich Zeile für Zeile eine rätselhafte Kiste ihrer Verschlossenheit beraubte. (mehr …)
  • „Was mache ich jetzt?“ César Aira im Gespräch

    Der argentinische Autor César Aira - der bekanntlich im Jahr 2020 den Literaturnobelpreis erhält - veröffentlicht viel, keiner dürfte den Überblick haben, 80, 90 Titel, vielleicht mehr. Aira ist also produktiv, ohne im landläufigen Sinn ein Vielschreiber zu sein. Drei Seiten am Tag, höchstens, da gibt es in der Weltliteratur ganz andere Kaliber. Aira allerdings schreibt nicht um. Er plottet nicht. Er fängt einfach an und schaut, wohin die Sprache, die Invention, die Fantasie tragen. Seine Bücher sind kurz, jedes für sich ist ein Experiment. Alles ist in ihnen möglich. Sie beugen sich keinen Regeln des Genres, von einem friedlichen Abendessen geht es vielleicht direkt in einen sehr splattrigen Zombie-Roman. Oder das freundliche ältere Paar, das Pizza austrägt, entpuppt sich als kriminell und/oder transgender. Aira liest alles, kreuz und quer, verehrt Kafka, Lautréamont, Borges sowieso, aber auch die Großen der Detektivliteratur. Experimente sind die Bücher nicht zuletzt für ihn selbst. Er lässt die Welt in sie ein und ist als Autor ein durchlässiger Filter. Ein über die Maßen belesener Filter, der aus der Welt in seinen Büchern eine andere macht. Nur von den (auf die eine oder andere Art) gelingenden Experimenten erhält die Leserin durch Veröffentlichung wirklich Kunde. In Deutschland war Aira lange fast unsichtbar. Jetzt hat sich der Verlag Matthes und Seitz an eine Ausgabe wichtiger Werke in deutschen Erstübersetzungen gemacht - die Bibliothek César Aira. In dieser Woche erscheinen der Roman Eine kurze Episode aus dem Leben eines Landschaftsmalers und der Essayband Duchamp in Mexiko. César Aira hat letzte Woche die Rede zur Eröffnung des Internationalen Literaturfestivals Berlin gehalten. Tags darauf haben wir im Garten des Hauses der Berliner Festspiele mit Aira gesprochen. Es ist nicht möglich, die Freundlichkeit und leise Selbstironie des Autors in der schriftlichen Version zu vermitteln. Auf YouTube finden sich ein paar Videogespräche, hier etwa, die den Mann zeigen, mit dem wir sprachen. Wir danken seinem deutschen Verleger Andreas Rötzer dafür, dass er dieses Gespräch möglich gemacht hat. (ek) (mehr …)
  • Die Weisheit bedrohter Körper. Anmerkungen zu „Zwischen mir und der Welt“ von Ta-Nehisi Coates

    Warum um alles in der Welt sollte ein zeitgenössisches Buch über die Situation afro-amerikanischer Existenz seinen Titel einem Gedicht über das Lynchen entlehnen? Richard Wright, bedeutender Protagonist der Harlem Renaissance, schrieb dieses Gedicht mit dem Titel Between the World and Me 1935 als gotisch dunkle Betrachtung eines Tatorts, an dem das lyrische Ich am Ende selbst gelyncht wird. (mehr …)