„Was mache ich jetzt?“ César Aira im Gespräch
Der argentinische Autor César Aira – der bekanntlich im Jahr 2020 den Literaturnobelpreis erhält – veröffentlicht viel, keiner dürfte den Überblick haben, 80, 90 Titel, vielleicht mehr. Aira ist also produktiv, ohne im landläufigen Sinn ein Vielschreiber zu sein. Drei Seiten am Tag, höchstens, da gibt es in der Weltliteratur ganz andere Kaliber. Aira allerdings schreibt nicht um. Er plottet nicht. Er fängt einfach an und schaut, wohin die Sprache, die Invention, die Fantasie tragen. Seine Bücher sind kurz, jedes für sich ist ein Experiment. Alles ist in ihnen möglich. Sie beugen sich keinen Regeln des Genres, von einem friedlichen Abendessen geht es vielleicht direkt in einen sehr splattrigen Zombie-Roman. Oder das freundliche ältere Paar, das Pizza austrägt, entpuppt sich als kriminell und/oder transgender. Aira liest alles, kreuz und quer, verehrt Kafka, Lautréamont, Borges sowieso, aber auch die Großen der Detektivliteratur. Experimente sind die Bücher nicht zuletzt für ihn selbst. Er lässt die Welt in sie ein und ist als Autor ein durchlässiger Filter. Ein über die Maßen belesener Filter, der aus der Welt in seinen Büchern eine andere macht. Nur von den (auf die eine oder andere Art) gelingenden Experimenten erhält die Leserin durch Veröffentlichung wirklich Kunde. In Deutschland war Aira lange fast unsichtbar. Jetzt hat sich der Verlag Matthes und Seitz an eine Ausgabe wichtiger Werke in deutschen Erstübersetzungen gemacht – die Bibliothek César Aira. In dieser Woche erscheinen der Roman Eine kurze Episode aus dem Leben eines Landschaftsmalers und der Essayband Duchamp in Mexiko. César Aira hat letzte Woche die Rede zur Eröffnung des Internationalen Literaturfestivals Berlin gehalten. Tags darauf haben wir im Garten des Hauses der Berliner Festspiele mit Aira gesprochen. Es ist nicht möglich, die Freundlichkeit und leise Selbstironie des Autors in der schriftlichen Version zu vermitteln. Auf YouTube finden sich ein paar Videogespräche, hier etwa, die den Mann zeigen, mit dem wir sprachen. Wir danken seinem deutschen Verleger Andreas Rötzer dafür, dass er dieses Gespräch möglich gemacht hat. (ek)
Merkur: In Ihrem Eröffnungsvortrag zum Internationalen Literaturfestival erwähnen Sie neben anderen Kriminalromanautoren Lee Child. Ich (EK) muss zugeben, dass ich alle Jack-Reacher-Romane gelesen habe und ein großer Fan des Autors bin. Ich weiß, dass Sie auch viel Genre-Literatur lesen und finde es sehr interessant, dass Lee Child Sie fasziniert. Eine überraschende Nähe zu Ihrem Schreiben liegt darin, dass er nicht im vorhinein plottet, sondern einfach drauflos schreibt und schaut, was passiert.
César Aira: Das ist seltsam, das wusste ich nicht. Für Kriminalliteratur und ihre Plots, hätte ich gedacht, braucht man einen Plan. Aber gut, Lee Child ist ein Genie. Von mir aus wäre ich übrigens nie bei Lee Child gelandet, ein Freund, der gerne Science-Fiction und Detektivromane liest, hat ihn mir empfohlen. Für mich ist Lesen immer mit Freundschaft verbunden. Wenn ich also Lee Child lese, stehe ich in Verbindung zu meinem Freund; lese ihn mit meinen und seinen Augen. Vielleicht ist all unser Lesen auch mit einer Freundschaft verbunden.
M: Es ist interessant, dass, wie Sie sagen, Mysteryautoren ihren Plot vorher festlegen und es aber auch einige gibt, die ohne Plot schreiben. Sie Ihrerseits gehören zu den Autoren, die einfach loslegen. Wie geht das?
CA: Ich fange mit einer Idee, einem Paradox, etwas Borgesianischem an: einer irrationalen Logik oder etwas Seltsamen. Aber das ist natürlich erst ein Anfang und es stellt sich die Frage: Was mache ich jetzt? Denn mit der Idee kann ich etwas Witziges oder etwas Lyrisches machen, aber ich brauche etwas anderes, etwas Persönliches. Wenn ich bloß auf den Witz, auf das intellektuelle Spiel eingehe, habe ich das Gefühl, dass ich ein Kreuzworträtsel mache: ohne eigenes Interesse. Ich brauche also beides: das intellektuelle Spiel und das Persönliche. Es ist ein Ausbalancieren zwischen dem schlichten Kreuzworträtsel und dem Sentimentalen, Pathetischen und Autobiographischen, das ich für sich genommen ja nicht so gerne mag. Und dann beginne ich zu improvisieren, denn ich habe keinen Kriminalfall zu lösen oder ein Programm zu erfüllen: Ich habe alle Freiheiten.
M: Sie fangen also an zu schreiben und haben zum Beispiel nach zehn Seiten das Gefühl: Jetzt bin ich zu weit in die Welt des Kreuzworträtsels geraten und muss etwas dagegen tun. Was passiert dann?
CA: Dann erzähle ich etwas aus meinem Leben. Wenn ich das nicht finde, dann muss es doch etwas sein, das mich persönlich betrifft. Auf jeden Fall brauche ich diesen Kreuzungspunkt, die Mitte zwischen beidem – nur Autobiografie oder nur Witz, das schiene mir das eine wie das andere verkehrt.
M: In vielen Ihrer Bücher reflektieren sie über die Zeit. Ist es das Phänomen der Irreversibilität, das Sie dabei besonders interessiert? Gibt es einen Punkt im Schreiben, ab dem Sie wissen: das ziehe ich jetzt durch. Oder ist es jederzeit möglich, das sie ein laufendes Projekt auch verwerfen?
CA: Ich fühle mich zu nichts verpflichtet. Wir haben ohnehin zu wenig Freiheit in unserem Leben. Aber in der Kunst oder in der Literatur können wir uns diese Freiheit nehmen. Wenn ich mich nicht danach fühle, lasse ich es sein. Und selbst wenn ich ein Buch mit hundert Seiten fertigstelle, kann es passieren, dass ich mich dazu entscheide, es nicht zu veröffentlichen. Darum ziehe ich auch die kurzen Bücher vor. Denn dann kann ich für ein, zwei Monate experimentieren, mich auf das Abenteuer einlassen und am Ende oder zwischendurch dennoch alles verwerfen. Längere Projekte entsprechen mir nicht: Ich will nicht einfach ein ganzes Jahr meines Lebens verlieren; ein oder zwei Monate hingegen, das ist schon in Ordnung. Also lasse ich mich auf das Abenteuer ein und manchmal passiert was, manchmal nicht. Selbst wenn es gelingt, traue ich meinem eigenen Urteilsvermögen nicht. Denn wenn ich ein Projekt beendet habe und ich mir denke, dass es so nicht veröffentlicht werden kann, wird es dennoch veröffentlicht. Das war zum Beispiel bei meinem Buch Eine kurze Episode aus dem Leben eines Landschaftsmalers der Fall. Ich sagte: “Das geht nicht, das ist zu schlecht und wirkt zu sehr wie ein Historienroman – etwas, das ich nie machen wollte.”, aber die drei Frauen des argentinischen Verlags meinten, sie begingen Selbstmord, wenn sie in jenem Jahr kein Buch von mir machten. Also gab ich ihnen die Geschichte, die nun von allen meinen Büchern das meistübersetzte ist.
M: Geben Sie Ihre Texte vor Fertigstellung auch mal an Freunde zum Gegenlesen weiter?
CA: Nein, das habe ich nie gemacht – selbst als ich jung war. Wobei doch: Als ich 18 Jahre alt war, habe ich angefangen zu schreiben und meine ersten Novellen fertig gestellt. Das waren im Lauf der Jahre vielleicht dreißig oder vierzig, irgendwann begann ich sie dann an Verlage zu schicken. Und eines Tages wurde eine davon von einem Verlag in Frankreich zur Veröffentlichung angenommen.
M: Was ist aus den anderen geworden?
CA: Die verstauben bei mir zu Hause und warten auf ihren Max Brod. Nein, ich weiß auch nicht: das waren Übungen. Mein erster veröffentlichter Roman war das Buch eines bereits sehr erfahrenen Autors.
M: Wenn Sie schreiben und improvisieren, die Ideen also entweder kommen oder auch nicht: Haben Sie das Gefühl, den Vorgang des Schreibens kontrollieren zu können?
CA: Das eigentliche Schreiben bereitet mir großes Vergnügen. Ich habe mir angewöhnt, mit Füller zu schreiben. Ich habe eine Sammlung: Mont Blanc, Parker, Louis Vuitton – und ich brauche diese Bewegung beim Schreiben. Ich habe das Gefühl, als ob ich zeichnen würde. Wenn ich schreibe, hat das immer auch eine visuelle Komponente: Ich brauche diese Spur, gutes Papier, guter Füller, gute Tinte. Es gibt viele Typen von Schriftstellern, aber im wesentlichen lässt sich zwischen zwei Schreibtypen unterscheiden: diejenigen, die alles schnell wachsen lassen und im zweiten Schritt korrigieren und diejenigen, die, wie ich, alles so perfekt wie nur möglich zu Papier bringen wollen, als ob sie in der selben Nacht noch sterben würden.
M: Sie schreiben also alles von Hand, mit Füller, mit Spuren. Was passiert danach, kopieren Sie einfach alles auf den Rechner?
CA: Alles, was ich die Nacht zuvor geschrieben habe, halte ich dort fest, ja. Und drucke es sofort aus, denn ich brauche es auf Papier. Umberto Eco sagte, die große Erfindung sei nicht der Computer, sondern der Drucker. Für mich trifft das zu.
M: Machen Sie sich viele Notizen, wenn Sie lesen?
CA: Ich habe eine Kiste mit Notizbüchern. In melancholischen Momenten öffne ich die Kiste und sehe all die Notizbücher und natürlich werde ich sie nicht mit dem Rest meines Lebens befüllen. Dennoch entdecke ich immer wieder gerne neue: Moleskine zum Beispiel ist out, seit dem die Produktion nach China verlegt wurde – also bin ich zu Leuchtturm gewechselt, einer deutschen Firma, die Notizbücher herstellt: Sie sind perfekt, einfach perfekt. Mitunter sind sie so unglaublich schön, das ich nur die Reinschrift in sie eintrage. Letztes Jahr habe ich in Buenos Aires den Kurator Hans Ulrich Obrist getroffen. Er hat auch eine Füller-Sammlung und er wollte mich für den Louis Vuitton gewinnen, denn sie haben welche aus Krokodilleder gemacht.
M: Noch einmal zum Prozess der Invention, der Erfindung selbst. The Seamstress and the Wind liest sich wie ein Roman über das Schreiben. Da gibt es den Ich-Erzähler, den man durchaus mit Ihnen verwechseln könnte. Er lebt in Paris und denkt über den Anfang einer Geschichte nach, wobei ihm die zwei Wörter ‘the seamstress’ und ‘the wind’ einfallen – über die der weitere Roman dann sozusagen fantasiert und seinen Plot bildet. Hat es sich tatsächlich so zugetragen?
CA: Ja, ich war in Paris und deprimiert und hatte die Idee für den Titel, wusste aber nicht was damit anfangen. Es ist also sehr autobiographisch. Die Idee des Buches ist, wie kann man ein Buch ohne die Vorstellung eines Plots oder eines Problems schreiben, nur von einem Titel ausgehend. Das ist die Borgesianische Idee. Eine intellektuelle, spielerische Idee. Also begann ich am Place de Clichy, wo ich wohnte und stieß dann auf dieses Persönliche, eine Kindheitserinnerung. Ich erinnerte mich an die Mutter meines Freundes José, ‘the seamstress’ und an Patagonien, ‘the land of the wind’.
Ich vergesse viel aus meinen Büchern. Ich habe eine Politik des Nicht-Zurückgehens. Wenn ich dem Verleger ein Buch übergebe, dann ist es für mich fertig. Ich möchte nichts mit der Covergestaltung, der Übersetzung, dem Vertrag und so weiter zu tun haben. Ich vergesse so vieles, selbst das, was ich geschrieben habe. Es ist schon vorgekommen, dass ich eine Passage aus früheren Büchern noch einmal geschrieben habe, ohne mich zu erinnern. Da gab es einen ganz konkreten Fall, eine Geschichte aus meiner Kindheit in Pringles, eine Leserin hat mich bei einer Lesung darauf aufmerksam gemacht: Ich habe mich beinahe wörtlich wiederholt.
M: In gewisser Weise macht man bei der Lektüre Ihrer Bücher eine ähnliche Erfahrung. Es fällt wirklich schwer, sich genau an sie zu erinnern. Was erinnern wir an Büchern? Wir können uns an einzelne Szenen erinnern oder an den Plot. Aber in Ihren Büchern gibt es durch die vielen unerwarteten Wendungen keinen zuverlässigen Plot, so dass man eher bestimmte Szenen erinnert: aber auch diese kann man nicht mehr in die ursprüngliche Reihenfolge ordnen. Das ist eine faszinierende Erfahrung, die man woanders so nicht findet.
CA: Meine Eröffnungsrede war auch so ähnlich, fast ein Experiment. Episoden, die keinen wirklichen Zusammenhang haben. Wobei ich sagen muss: Lieber schreibe ich drei Romane als einen solchen Vortrag. Auftragsarbeiten, das funktioniert bei mir überhaupt nicht, nicht einmal, wenn ich mir selbst den Auftrag gebe. Wenn ich etwas schreiben muss, blockiere ich. Andererseits hat es mir einen Berlin-Besuch eingebracht. Ich mag die Stadt sehr, bin schon mehrfach hier gewesen, bin hier sehr gerne unterwegs. Fast kommt es mir vor, als kennte ich Berlin besser als meine Heimatstadt Buenos Aires. Also: Berlin war die Mühe wert, die ich mit dieser Rede hatte.
M: Dennoch gibt es diese Faszination am Narrativen in all ihren Texten. Und es ist eine Faszination, weil es so etwas wie eine kohärente Erzählung gleichzeitig gibt und nicht gibt. Die Faszination für Mystery-Romane hat damit zu tun. Es gibt diese zwei Seiten in Ihrem Werk: die narrative Seite und die andere Seite, auf der alles Unerwartete jederzeit passieren kann.
CA: Das stimmt. In meiner Rede sagte ich, ich sei kein echter Avantgardist trotz meiner Faszination für die Avantgarden, meiner snobistischen Faszination für Cecil Taylor oder Duchamp usw. Aber ich bin kein echter Avantgardist, denn der sollte etwas zerstören, gegen etwas gehen. Und ich will nicht gegen die Freude am Lesen aller, auch der konventionellen, Romane gehen. Ich denke, ich bin eine Mischung aus Avantgarde und altem Erzählen.
M: Denken Sie, Borges war ein Avantgarde-Autor in diesem Sinn? Oder war er nicht auch eher eine Mischung?
CA: Nun, er mochte die alten konventionellen Dinge, aber er war zu intelligent für das Konventionelle. Überall wo ich hingehe, fragt man mich: Was hat es mit Borges auf sich? Was halten die Argentinier von Borges? Wir lieben Borges, ganz einfach. Denn er war ein Licht für uns. Aber er starb, und am Tag seines Todes ging ein Licht von uns und alle Zeitungen schrieben auf der Seite irgendetwas mit „Ohne Borges“. Im Sinne von: Und jetzt, was machen wir jetzt, ohne Borges? Aber jetzt, dreißig Jahre nach Borges‘ Tod ist er noch immer unglaublich gegenwärtig für uns. Für mich und meine Freunde vergeht kein Tag, an dem wir nicht Borges aus irgendeinem Grund erwähnen: ein Zitat, ein Witz, eine Definition oder so. Für uns hat er den Vorteil, eine Linie zu markieren, eine Linie des Anspruchs, der intellektuellen Aufrichtigkeit.
M: Beinahe hätte ich (sel) Sie gefragt, ob der Tod von Borges auch eine Art Befreiung für lateinamerikanische Schriftsteller war. Als Victor Hugo starb, schrieb irgendein französischer Schriftsteller von dem Schock, den der Tod des großen Schriftstellers überall auslöste. Aber genauso war es eine Befreiung, denn man konnte endlich anfangen, etwas Neues zu schreiben. Proust sagte, wenn ich mich richtig erinnere, etwas Ähnliches über Anatol France. Aber deshalb sagte ich beinahe, denn so wie Sie es beschreiben, muss es bei Borges nicht so gewesen sein. Ich halte ihn nicht für diese überwältigende Figur, die anderen nicht erlaubt, was Eigenes zu schreiben.
CA: Genau. Er war nicht überwältigend im Sinne eines Großschriftstellers, und das lag an seiner distanzierenden Ironie. Für mich war Borges unglaublich wichtig. Ich entdeckte ihn, als ich sehr jung war, 14 oder 15. In meiner Stadt, in Pringles, gab es keinen Buchladen und nichts. Aber wir bekamen die Zeitung, La Nación, mit der Kulturbeilage am Sonntag. Und da sah ich immer: Borges, Borges, Borges, Borges. Worauf ich mir sagte: Ich muss diesen Mann lesen! Also schrieb ich einen Brief, ich war fast ein Kind, 13, 14 Jahre – einen Brief an Emecé, den Verlag von Borges in Buenos Aires: „Ich würde gerne Bücher von Herrn Borges kaufen, was muss ich tun?“ Und sie schickten mir einen Brief mit einer Liste aller Bücher von Borges, den Preisen und der Möglichkeit zu bezahlen, mit Scheck oder wie auch immer. Mein Vater war einverstanden und ich bekam ein Paket mit dem ganzen Borges. Ich erinnere mich, wie ich sie auf dem Tisch im Esszimmer ausbreitete, alle seine Bücher: Das Aleph, Fiktionen, Inquisitionen, Borges und Ich, das war das neueste, die Gedichte. Und da fing mein Leben an. Denn ich entdeckte die andere Ebene der Sache. Ich hatte seit meiner frühesten Jugend Salgari und Jules Verne gelesen, all das, aber der Geschichte und der Abenteuer wegen. Aber dann entdeckte ich mit Borges, dass da noch was anderes war, eine Kunst. Für mich ist er der größte, nein, der zweitgrößte, der erste ist Kafka. Kafka ist der größte von allen. Ein deutscher Professor aus Göttingen sagte einmal zu mir: „Das ist die Linie: Kafka – Borges – Aira.“ Vielen Dank!
M: Sie sagten, dass sie in Pringles viel in die Bibliothek gingen. Gab es da keine Bücher von Borges?
CA: Nein, nur ein Buch, die Gedichte. Und das war nicht der echte Borges. Diese öffentliche Bibliothek war mein großer Rückzugsort in meiner Kindheit und Jugend. Denn damals in den 50er-, 60er-Jahren waren die öffentlichen Bibliotheken sehr gut. Es gab noch nicht diese Mode der Bestseller, also alle zehn- oder zwanzigtausend Bücher, die sie hatten, waren gute Literatur. Gut oder nicht so gut, aber immerhin Literatur. Nicht dieses kommerzielle Zeug von heute. Also las ich alles, wahllos. Ein Buch am Tag.
M: Und Kafka entdeckten Sie in dieser Bibliothek in Pringles?
CA: Ja, es gab sehr gute Kafka-Übersetzungen. Borges übersetzte ein paar Geschichten: die Strafkolonie, den Hungerkünstler. Die erste Übersetzung von Kafka mit Ausnahme von Milenas Übersetzung ins Tschechische war „Die Verwandlung“, „La Metamorfósis“ ins Spanische in der Revista de Occidente von Ortega y Gasset in den 20ern. Ach, Kafka! Ich habe die Biographie gelesen von diesem …
M: Stach, Reiner Stach. Ein großartiges Buch!
CA: Ja, wunderbar. Vielleicht die beste Biografie überhaupt. Vor kurzem lernte ich den Mann einer der Leiterinnen des MOMA in New York kennen. Sie stellte ihn mir mit den Worten vor: „Das ist mein Ehemann, ein Picasso-Forscher.“ Ah, Picasso! Also redeten wir über Picasso, da ich ein großer Picasso-Fan bin. Und ich fragte: „Gibt es viele Picasso-Forscher in der Welt?“ „Haha, Tausende!“ Und wir sprachen über die Biografie von John Richardson. Er ist beim dritten Band angelangt und gerade mal in den 40ern. Und Picasso wurde 90 Jahre alt. Es ist sein persönlicher Wettlauf gegen die Zeit, und alle Picasso-Forscher in der Welt drücken die Daumen für die Gesundheit von Herrn Richardson, denn er ist der einzige, der alles weiß. Aber zurück zu Kafka. Letztes Jahr schickte mir ein Freund ein Bild, das er im Internet gefunden hatte, von einem Schachturnier in Prag aus der Zeit des bekannten Schachspielers Capablanca, der dort Simultanschach spielte. Und es gibt davon ein Foto. Und einer der Spieler sieht Kafka ziemlich ähnlich. Und es könnte ja sein. Also schickte ich das Foto an meinen Agenten, Michael Gaeb. Und Gaeb ging mit dem Foto zu Klaus Wagenbach. Und Klaus Wagenbach sagte: „Oh, das könnte eine Entdeckung sein!“ Und sie gingen alle gemeinsam zu Stach. Und der sagte: „Nein, es ist eine Fälschung.“ Er weiß alles.
M: Wie Sie sagten, machen Sie nicht viele Exzerpte beim Lesen. Wenn Sie schreiben, wie sieht das aus? Ist ihr Tisch leer oder haben Sie Bücher um sich?
CA: Ich schreibe nie zu Hause, sondern in Cafés. Jemand fragte mich einmal, wie können Sie sich da konzentrieren, aber ich muss mich gar nicht konzentrieren beim Schreiben, sondern viel eher dekonzentrieren. Ich brauche einen befreiten Geist. Ich könnte nicht encerrado schreiben, eingeschlossen an einem Ort. Ich muss Dinge sehen, Gedanken verändern. Ich mag auch die Konzentration auf das Ich nicht, die Leidenschaft der Autofiktion, fiktionalisiert oder nicht, ein einziges Leben. Vielleicht liegt es am Computer, wo du so schnell schreiben musst, dass dir keine Zeit mehr bleibt zu erfinden, also musst du auf dich selbst zurückkommen, auf deine Meinungen, deine persönlichen Dinge. Daher sind die Romane dieser jungen Leute voll von: „Ich finde Leonard Cohen besser als Lou Reed wegen der Poesie …“ Was kümmert’s mich! Full of themselves.
M: Haben Sie trotzdem versucht, für ein einziges Mal ganz anders zu schreiben?
CA: Durchaus. Früher verdiente ich mein Geld mit Übersetzen, fast bis ich 40 war. Ich übersetzte ausschließlich schlechte Literatur, denn schlechte Literatur ist viel einfacher als gute Literatur und die Bezahlung ist die gleiche. Ich übersetzte also Stephen King, Lawrence Sanders – all diese amerikanischen Bestseller. Und dabei begriff ich, wie sie gemacht waren, und sagte zu mir, warum beweise ich mir nicht, dass ich auch einen eigenen schreiben kann. Das Rezept ist einfach. Du brauchst irgendein historisches oder politisches Ereignis, irgendwas Interessantes, worüber man eine Reportage in einem Magazin schreiben könnte, und dann brichst du es herunter, teilst es in Kapitel ein. Ich dachte, ich wüsste, wie man es macht. Also tat ich es. Ein Roman! Ich wählte ein Thema, das der Kastraten. Die Kastratensänger des 18. Jahrhunderts. Ich entschied mich für ein Datum, 1738. Ich schrieb auf, was alles in diesem Jahr in Europa geschah. Ich erfand einen Kastraten-Superstar an der Oper. Und ich schrieb den Roman, der von einem Verlag für Bestseller veröffentlicht wurde. Aber es war ein totaler Reinfall. Denn was ich nicht berücksichtigt hatte, war die Tatsache, dass Bestseller ganz und gar ehrlich gemeint sein müssen. Der Autor muss sich mit seinen Lesern identifizieren. Sobald nur ein einziger Tropfen Ironie beigemengt wird, funktioniert es nicht. Und natürlich funktionierte es bei mir nicht. Jetzt ist das Buch als ein Kuriosum in meinem Gesamtwerk veröffentlicht, denn es ist 400 Seiten lang und enthält Abenteuer in Europa mit Königen und dem Papst.
M: Was ist der Titel?
CA: Canto castrato. Canto castrato! Es ist meine Schande, aber es wurde auf Französisch bei Gallimard veröffentlicht, in Spanien und anderen Ländern, und in irgendwelchen Buchzirkeln. Es ist fast das kommerzielle Ding. Ein Experiment. Aber ich habe auch andere Dinge versucht und nie veröffentlicht – Erotik, was für mich gar nicht geht. Ich schrieb einen kleinen Science-Fiction-Roman. Keinen Detektivroman. Denn dafür brauchst du einen Plan und so funktioniert mein Kopf nicht. Ich könnte einen Fake-Detektivroman schreiben, einen avantgardistischen Detektivroman, der keiner ist. Aber jetzt will ich noch mehr Experimente machen, meine letzten guten Bücher schreiben. Und ich frage mich, wie kann ich gute Bücher schreiben, keine Witze, sondern echte, ernste Bücher. Eines der schwierigsten Dinge in der heutigen Literatur ist ernst zu sein, ohne dabei in Dummheit zu verfallen, ins Pathetische oder die schweren Themen. Aber ernst zu sein! Einer der wenigen wirklich ernsten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts ist Simenon. Auch da, wo er Humor hat, mit Maigret usw.
M: Bei der gedrängten Lektüre Ihrer Bücher in den letzten Wochen, besonders auch des brillanten Essays über die Schriftstellerin Alexandra Pizarnik, ist mir (sel) ein Motiv aufgefallen, das häufig wiederkehrt: die Idee eines Schreibens nach dem eigenen Tod, eines postmortalen, postumen Schreibens. Können Sie dazu etwas sagen?
CA: Nein. Darüber habe ich nie nachgedacht. Ich liebe freilich Madame Roland, die bei der Französischen Revolution starb. Vor dem Gang zur Guillotine bat sie um Papier und Bleistift, für den Fall, dass sie sich noch etwas notieren wolle, für hinterher.
M: Ich dachte nicht zuletzt an den Fall des Mathematikers Evariste Galois, über den Sie schreiben …
CA: Ja, stimmt, das ist eine sehr schöne Geschichte. Galois hat, da war er zwanzig, in einem Duell tödlich verwundet, in einer Nacht seine Erkenntnisse niedergelegt, die Fundamente der modernen Mathematik. Aber das konnte er nur, weil er Mathematiker war. In der Literatur geht das nicht.
M: Nun, Kafka hat „Das Urteil“ auch in einer Nacht geschrieben.
CA: Hm, ja. Kafka. Dennoch: Das ist ein kategorischer Unterschied: Die Ziffer, die Zahl ist etwas ganz anderes als eine Geschichte, ein Roman. Armer Evariste Galois.
M: Eine letzte Frage: In einem Interview sagen Sie, dass Sie nicht sehr viel Gegenwartsliteratur lesen. Aber gibt es vielleicht doch Autorinnen oder Autoren, die Sie für „ernsthaft“ in dem vorhin erwähnten Sinn halten?
CA: Wenn ich in eine Buchhandlung gehe und die ganzen Neuheiten sehe, sagen wir Elena Ferrante, dann frage ich mich: Warum? Wenn es doch Lautréamont gibt und Balzac, den ich noch einmal lesen kann, und Dickens … Vielleicht eine etwas nihilistische Position, aber dann doch lieber Detektivromane. Schließlich gibt es ja auch eine ganze Reihe von Lee-Child-Romanen, die ich noch nicht kenne.