Der Autor ist anwesend – Ein Abschlussbericht zu Christian Krachts Frankfurter Poetikvorlesungen

Es war abzusehen, dass das Erregungsniveau der ersten Vorlesung nicht zu halten sein würde. Zeitungen, Fernsehen und Radio hatten sich auf Christian Krachts Missbrauchserzählung geradezu gestürzt. Offen blieb: Welche Rahmung würde Kracht in seinen weiteren zwei Vorlesungen anbieten?

Nach der ernst-gespannten Stimmung der ersten Veranstaltung waren die beiden folgenden Auftritte des Autors deutlich gelöster. Noch vor Beginn seiner zweiten Poetikvorlesung gab Kracht Autogramme und plauderte mit angereisten Bekannten. Christian Kracht und Clemens Setz umarmten sich in strahlendem Sonnenschein vor dem Hörsaalgebäude. Krachts Vorlesungen hatten am Pfingstwochenende eine Art Pilgerfahrt in Gang gesetzt, die Frankfurt für einen kurzen Moment zum Zentrum des literarischen Lebens zu machen schien. So viele bekannte Gesichter aus Literatur, Betrieb und Wissenschaft kann man hier sonst nur auf der Frankfurter Buchmesse sehen.

Kracht bestätigte diese Verschiebung von Zentrum und Peripherie, indem er seine zweite Vorlesung mit einer grotesken Anekdote begann. Seine Ausführungen über die steuerlichen Unterschiede verschiedener Formen des gehenden oder (im Rollstuhl) fahrenden Würstchenverkaufs auf dem Alexanderplatz mündeten in ein Berlin-Bashing, wie man es von ihm schon öfter hören konnte. Mit diesem Einstieg begab sich Kracht nicht nur zurück in einen Redemodus, der mit ironischen Übertreibungen arbeitet (habe ihm die Situation der Würstchenverkäufer doch “schlaflose Nächte” bereitet und sei in nuce der Grund für seine Emigration), sondern nutzte die Anekdote auch im Sinne einer captatio benevolentiae dem Frankfurter Publikum gegenüber; könne er doch über Frankfurt und seine Bewohner nur Gutes sagen.

Dabei war der Anteil an Nicht-Frankfurtern diesmal noch einmal deutlich höher als bei der ersten Vorlesung, denn Kracht hatte nicht nur mit dem Inhalt, sondern auch mit den restriktiven Rahmenbedingungen seiner Poetikvorlesung die Anreise nach Frankfurt provoziert. Wie schon bei der ersten handelte es sich auch bei den letzten beiden Poetikvorlesungen um exklusive Live-Events. Wer nicht in Frankfurt dabei war, hatte keine Chance, das Ereignis zu verfolgen. Weder einem Mitschnitt noch einem Livestream hatte der Autor zugestimmt. Auf einer Projektion an der Wand des Hörsaals war zu lesen: “Auf Wunsch des Autors bitten wir darum, die Handys auszuschalten”, worauf auch mündlich zu Beginn jeder Vorlesung noch einmal hingewiesen wurde. Da unseres Wissens tatsächlich keine Mitschnitte aufgetaucht sind und auch nur sehr sparsam getwittert wurde, geriet der Hörsaal zu einer analogen Blackbox. Ohne in zurecht ungeliebte kulturkritische Hörner stoßen zu wollen: Das Kalkül der Verknappung ging auf. Ob die Stimmung ohne die Smartphone-Restriktionen über den gesamten Zeitraum so konzentriert gewesen wäre, darf bezweifelt werden. Was für Konzerte und Fankurven gilt, bewährte sich auch in der Poetikvorlesung: Bleibt das Handy in der Tasche, wird das Ereignis von allen Beteiligten intensiver erlebt. Mit Blick auf alle drei Vorlesungen und ihre Berichterstattung wird außerdem deutlich, dass das Handyverbot natürlich auch ein poetologisches Statement darstellt. So selten wie Kracht in der Öffentlichkeit erscheint, so sehr verknappt er die Zeichenproduktion. Die Poetikvorlesungen überleben nicht im Wortlaut, sondern nur perspektivisch durch Veranstaltungsberichte wie diesen gebrochen (von denen es, das ist darum auch nicht erstaunlich, viel mehr gibt als sonst bei Poetikvorlesungen üblich).

Das Kernelement von Krachts zweiter Vorlesung war die Parodie. Im kanadischen Internat sei er mit diesem Verfahren in Berührung gekommen. Dort hatte der regelmäßig vorbeifahrende Bücherbus nicht nur J.R.R. Tolkien und Ursula K. Le Guin als “eskapistisches Angebot” im Sortiment. Auch Parodien auf den Herrn der Ringe (“Bored of the Rings”) wolle der elfjährige Kracht im “bookmobile” erworben haben. Damals habe er die Parodie als Verfahren nicht verstanden. Doch heute wisse er, “dass die Parodie eine Heilung für den Missbrauch sein kann”. Eine erleichternde Distanzierung von der ersten Vorlesung bot der Autor seinem Publikum damit an.

Nicht weniger gespannt und aufmerksam lauscht es Kracht, der mit tiefer, elegischer Stimme Gedichte seines literarischen Großhelden vortrug: T.S. Eliot. Mit 17 habe er ihn auf seinem “Zauberberg”, der vermeintlichen Elitenschmiede von Schloss Salem entdeckt. Die beeindruckenden Rezitationen von The Love Song of J. Alfred Prufrock und einem knappen Drittel von The Waste Land dürften nicht nur Clemens Setz gerührt haben. Zusätzlich zum Original kam aber auch eine Eliot-Parodie auf The Waste Land zum Vortrag, veröffentlicht von dem britischen Kolonialbeamten Victor Purcell unter dem Pseudonym Myra Buttle.

Die Parodie zeigt dabei vor allem die erreichte Klassizität des Prätextes an. Denn: “Alles, was sich selbst zu ernst nimmt, ist reif für die Parodie – selbst diese Vorlesungsreihe.” Spätestens damit ist allen drei Poetikvorlesungen wieder ein doppelter Boden eingezogen: Der Wert der wuchtigen Erzählung erlebter Realität wird dabei keineswegs zurückgenommen, aber in ein literarisches Bezugssystem eingefügt. Nicht nur handelt es sich um ästhetisch sehr dicht gearbeitete Texte, Kracht gibt sich auch noch stärker als in seiner ersten Vorlesung als genauer Kenner der Gattungstraditionen zu erkennen. Wie man es von einem Poetikdozenten erwartet, gibt er Einblicke in literarische Initiationserlebnisse, singt ein Loblied auf die Macht der Kunst und fundiert seine literarischen Texte innerhalb seines Erfahrungshorizontes. Denn bei alldem bildet die autobiografische Kindheitserzählung weiterhin den Kern der Vorlesungsreihe. Neben Erzählungen aus dem Elternhaus, bei dem er deutlich an die Rede zur Verleihung des Raabepreises anknüpft, kommt Kracht immer wieder auf sein kanadisches Internatsleben zurück. Er präsentiert dabei sowohl die perfide Methode Keith Gleeds, das Vertrauen der Jungen zu gewinnen (er fungiert als Elternersatz), als auch weitere Details von Demütigungen durch Mitschüler. Werk und Lebenserzählung werden dabei weiterhin konsequent aufeinander bezogen. Zu jedem biografischen Element hat Kracht die passende Romanstelle bereit, die er jeweils vorträgt.

“Nicht ungern” erinnere er sich an den wöchentlichen Empfang der Heiligen Kommunion im kanadischen Internat zurück. Kracht erhielt das Sakrament dabei ausgerechnet von Pastor Keith Gleed. Krachts “Erfahrung der Transzendenz”, wie er es nannte, tat dies jedoch keinen Abbruch. Bis heute seien seine religiösen Gefühle stark ausgeprägt und er fühle sich besonders von der anglikanischen Kirche angezogen, zu der er “hoffentlich bald bereit” sei zu konvertieren. Damit stellte sich Kracht in eine Tradition mit seinem literarischen Vorbild. Auch T.S. Eliot konvertierte zur anglikanischen Kirche. In dessen Windschatten hofft sich anscheinend nun auch Kracht in den literarischen Kanon einzuschreiben. Der Autor ist ohnehin dafür bekannt, seinen Weg dorthin zu steuern und zu überwachen wie wenige andere. Literaturwissenschaftler berichten, von Kracht ungefragt Feedback auf ihre Artikel und weitere Lektürehinweise erhalten zu haben. Kracht begleitet und beeinflusst seine Erforschung mit Selbstreferenzen, -kommentaren und -deutungen. Das wirkt wie eine Einladung an Philologen und ist eine hermeneutische Falle zugleich. Denn allzu verlockend erscheint es, lediglich die Verweise zu entschlüsseln, die Kracht in seinen überdeterminierten Texten ausgelegt hat. Kaum verwunderlich also, dass Krachts Fanclub unter Germanisten beachtlich ist. Wenige Autoren der Gegenwart erfüllen das forschungseigene Bedürfnis nach Komplexität, Ambivalenz und Kontroverse so wie er. Passend dazu sind in kurzer Folge gerade drei Sammelbände zu Kracht erschienen, knapp 1200 Seiten Kracht-Exegese.

Seine Frankfurter Vorträge sind im Zusammenhang betrachtet also vor allem eines: ein weiterer, wenn auch besonders prominent platzierter Text in Krachts großangelegter Werkpolitik – aber auch eine ebenso gattungsadäquate wie überraschende und damit letztlich richtig gute Poetikvorlesung.