Indessen: Dubito. Jean Améry im Merkur

Heute hätte Jean Améry seinen 100. Geburtstag gefeiert. Von 1965 bis zu seinem Tod im Jahr 1978 war er einer der prägenden Autoren des Merkur, mit mehr als 60 Artikeln, darunter zahlreichen großen Essays. Dem Ernst Klett Verlag (später Klett-Cotta) war er auch als Buchautor verbunden – seit diesem Jahr liegt nun auch eine formidable Werkausgabe vor. Aus Anlass des Jubiläums: Ein Blick ins Archiv, ein Überblick über Amérys wichtigste im Merkur erschienene Texte. Mit Links ins (kostenpflichtige) digitale Volltextarchiv. Freigeschaltet haben wir den großen Essay Zugang zu Proust, der 1971 zum 100. Geburtstag des Autors erschien.

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Unter einem  Text von Karl Heinz Bohrer zu Kleists Selbstmord ist Hans Paeschkes Nachruf auf Jean Améry – unter dem Titel Interruption – in letzter Minute, der Druck wurde gestoppt, eingefügt. Novemberheft 1978, es ist übrigens das vorletzte Heft unter Paeschkes Herausgeberschaft. Am 17. Oktober hat Jean Améry in Salzburg Hand an sich gelegt (Hand an sich legen – das war der bewusst altmodische Titel seines im Merkur vorabgedruckten Auszugs aus dem gleichnamigen Buch über den Suizid). Paeschke hält fest: „Jean Améry stand nach 13 Jahren Mitarbeit mit der Zahl seiner Beiträge an der Spitze der Merkur-Autoren und mir selber unter den Freunden am nächsten.“ Ein Nachruf im strengen Sinn ist es nicht – ein solcher wird ein Heft später folgen, Horst Krüger hat ihn verfasst –, abgedruckt werden vor allem zwei Briefe, einer von Paeschke an Améry und dessen Antwort, es geht um den Suizid-Essay. Améry ist erschrocken über Paeschkes Vorwurf des „Solipsismus“: „Du sagst, ich käme immer wieder auf das ‚Ich‘ zurück. Aber nicht ich rekurriere auf dieses (zugleich empirische und transzendentale) Ich, sondern es ist die ontologische Grundkondition des Menschen, die uns alle in diese Sackgasse treibt … Doch, die Liebe gibt es. Aber sie hat ganz geringe Chancen, und tatsächlich kann nur ein Mystiker sich einreden, es stürbe in ihr, die Spiegelfechterei des Ich mit sich selber, des Ich mit dem Anderen ist, der ‚dunkele Despot‘. Le contraire est vrai: à relire chez Proust. – Und dann der ’süße Tod‘, mein Gott: es ging ja meine ganze Bemühung dahin, ihn als den verkehrt geschauten ‚Bruder des Schlafes‘ zu demaskieren. Ach nein, da ist keine Süße – ‚Was sag‘ ich? Wir vergehen wie Rauch vor starken Winden.‘ Und ‚Freund Hein‘: aber das ist eine Beschwörungsformel, so wie man dem Teufel harmlose Namen gab, ihn zu besänftigen.“ Besänftigung, das war in der Tat das letzte, wofür Améry zu haben war.

Die Tortur, das Debüt im Merkur im Juli 1965 (Nr. 208), war ein Donnerschlag, vielleicht Jean Amérys – jedenfalls im Zusammenhang des 1966 erschienenen Buches Jenseits von Gut und Böse – bis heute am stärksten wirkender Text. (Der Merkur hat ihn sogar noch einmal abgedruckt, im Juni 1996, Nr. 567). Helmut Heissenbüttel hatte den Essay im Mai im Radio gesendet, Adorno macht ihn, tief beeindruckt, bereits in seiner Vorlesung Metaphysik und Tod nach Auschwitz am 15. Juli zum zentralen Gegenstand. Es ist ein verblüffender Auftritt auf der Szene der Nachkriegskultur, kaum einer kannte den zweiundfünfzigjährigen Autor, der in Belgien lebte (und bis zu seinem Suizid in Salzburg auch leben würde) und als Kulturjournalist für deutschsprachige Zeitungen der Schweiz tätig war. Mit diesem einen Text war einer der großen Essayisten deutscher Sprache geboren. Es ist singulär, wie Améry hier eine Erfahrung – seine Erfahrung der Folter im KZ Fort Breendonk – analysiert, ohne sie in der Analyse auf Distanz zu bringen. Das ist nämlich gerade der zentrale Punkt der Analyse: Niemand, der sie nicht am eigenen Leib erfahren hat, kann nachvollziehen, was die Erfahrung der Folter ist; vor allem aber ist die Folter untilgbar, sie zerstört ein für allemal den Bezug zur Welt, der das Leben in seiner alltäglichen Selbstverständlichkeit möglich macht: „Wer gefoltert wurde, bleibt gefoltert. Unauslöschlich ist die Folter in ihn eingebrannt…“ Und zwar vom ersten Schlag an, zu dem es keine Gegenwehr gibt: „Die Grenzen meines Körpers sind die Grenzen meines Ichs. Die Hautoberfläche schließt mich ab gegen die fremde Welt: auf ihr darf ich, wenn ich Vertrauen haben soll, nur zu spüren bekommen, was ich spüren will. Mit dem ersten Schlag aber bricht dieses Weltvertrauen zusammen. Der Andere, gegen den ich physisch in der Welt bin und mit dem ich nur solange sein kann, wie er meine Hautoberfläche als Grenze nicht tangiert, zwingt mir mit dem Schlag seine eigene Körperlichkeit auf. Es ist wie eine Vergewaltigung, ein Sexualakt ohne das Einverständnis des einen der beiden Partner.“

Philosophische Interventionen

Bei aller Vielfalt der Interessen lassen sich doch zentrale Themen bzw. Gegenstandsfelder in Amérys Merkur-Essays bestimmen. Am prägnantesten sind sicher die philosophischen Interventionen, die von Amérys ungewöhnlicher Doppelprägung zeugen. Sein frühester philosophischer Einfluss war der Wiener Positivismus, Moritz von Schlick und Rudolf Carnap, auch Karl Popper werden Richtgrößen bleiben. Später jedoch tritt Jean-Paul Sartre hinzu, dessen Philosophie Améry bei aller Skepsis gegen die politische Entwicklung Sartres bis zuletzt treu bleiben wird – vor allem im Blick auf die beiden Studien, die Améry für die Hauptwerke hält: Kritik der dialektischen Vernunft und die große Flaubert-Biografie Der Idiot der Familie (Amérys Rezension, Dezember 1971, Nr. 284) . Letztere wird nicht nur für Amérys eigenes Flaubert-Buch Charles Bovary, Landarzt bedeutend, wenngleich der übermächtige Eindruck auf Abstand gehalten werden muss: „Was vielleicht erreicht werden kann, ist nicht mehr als dies: Sartres Gedankengebirge nur noch aus weiter Ferne zu sehen, so daß am geistigen Himmel bloß Konturen sich abzeichnen, und vermeiden, sich im Berggetürm zu verlieren.“ (So im essayistischen Einschub Die Wirklichkeit Gustave Flauberts zu Charles Bovary, Landarzt, der in Nr. 363 des Merkur vorabgedruckt ist.) Noch in Amérys großer und sehr kritischer Auseinandersetzung mit Michel Foucault und dem Strukturalismus wird Sartres Idiot der Familie als positives Gegenbeispiel ins Feld geführt werden.

In einem philosophischen Koordinatensystem, das seinen Wissenschaftsbegriff cum grano salis vom Positivismus und sein antimetaphysisches Humanitätspathos von Sartre bezog, war für die Strukturalisten (und erst recht die Poststrukturalisten) kein Platz, die er besser als viele ihrer eher vom Ressentiment getriebenen deutschen Gegner gut kannte, aber als „Begriffs-Dichter“ und  Antihumanisten begriff und ablehnte: „Eine Gedankendichtung, wie etwa Sartres Flaubert-Werk, kann, auch wenn sie ihrerseits nicht wissenschaftlich und nicht verifizierbar ist, unbekannte Räume der gelebten Wirklichkeit aufschließen: wir wissen oder ahnen zumindest mehr von der Wirklichkeit Flauberts und des Frankreich im 19. Jahrhundert, wenn wir Sartres hochspekulativen, aber immer im phänomenalen und historischen Existenzbereich sich bewegenden Interpretationen Flauberts folgen. Wir wissen nichts vom Mythos – ja, es entleert sich der Mythos auf mysteriöse Weise und wird zum abstrakten, inhaltsleeren Modell seiner selbst –, wenn wir Lévi-Strauss lesen. Nichts Neues wird uns zugebracht über die Epoche des 16. Jahrhunderts bis zum 19. Jahrhundert, wenn wir Foucaults Exerzitien über die verschiedenen epistemologischen Felder mitmachen. Keinen Einblick in den Prozeß der literarischen Kreationen und keine Überschau über deren Wirkung wird uns ermöglicht durch Roland Barthes‘ berühmt-berüchtigte Arbeit über Racine. Die ‚Begriffsdichtungen‘ sind Kathedralen von erkältender geistiger Ödnis. In einer Folge terroristischer Gewaltakte werden die Begriffe aus dem sie determinierenden Anschauungsmaterial herausgebrochen – und damit entleert.“ (Wider den Strukturalismus. Das Beispiel des Michel Foucault im April 1973, Nr. 300)

Auch das Verhältnis zu Sartre bleibt, wie gesagt, nicht ungebrochen. Der Titel des großen Essays Sartre: Größe und Scheitern (Dezember 1974, Heft 319) verweist auf die Ambivalenz, die eine Nachbemerkung herausstreicht: „Während ich diesen Beitrag beende, kommt mir zu, es habe Jean-Paul Sartre bei den deutschen Justizbehörden angesucht, mit dem Häftling der Baader-Meinhof-Gruppe, Andreas Baader, über Probleme der Revolution diskutieren zu dürfen. Der Normal-Intellektuelle fragt sich, nicht ohne Konsternation, was Sartre wohl hoffen mag, von Baader zu erfahren. Wie Revolutionen nicht gemacht werden, nicht gemacht werden können in einem Land, dessen Demokratie immerhin noch funktioniert? Falsches Bewußtsein auch hier.“

Eine weitere sehr grundsätzliche – und weitgehend kritische – philosophische Intervention richtet sich gegen das, was er in (ironischer) Anlehnung an Adornos Auseinandersetzung mit Heidegger den Jargon der Dialektik nennt (November 1967, Heft Nr. 236). Ausgangspunkt ist hier ein Satz des Adorno-Schülers Hermann Schweppenhäuser, der Amérys Empörung auf sich ziehen musste. Er lautet: „Die Quäler sind jene Opfer, die dadurch weniger leiden, daß die Gesellschaft sie im Gequälten sich objektivieren läßt.“ In dergleichen sieht Améry, der die Differenz von Opfer und Täter am eigenen Leib erfahren hatte, nicht mehr als „verbaldialektische Tricks“ – und in diesen einen Verstoß gegen die intellektuelle Redlichkeit. In grundsätzlicher Übereinstimmung mit Popper und den Positivisten sieht er für das Denken vor allem eine Gefährdung: dass es den Boden unter den Füßen verliert: „Wer ausschreitet, kann sich verlaufen und auf Holzwege geraten; wer höherklimmt, kann sich versteigen, wie der Kletterer im Fels, und das Wort Verstiegenheit für leicht närrisches Denken oder Verhalten ist eine der geistreichsten von der Alltagssprache produzierten Metaphern. Der Raum des philosophischen Denkens ist ein unwirtlicher. Es gibt keine Disziplin, die so dem tödlichen Eindringen von Unsinn ausgesetzt wäre wie die Philosophie.“ Améry steht hier stets auf der Seite der Klarheit und scheut sich programmatisch (und durchaus listig) niemals, im Namen von Wahrheit und Wirklichkeit auf übertriebene Subtilitäten zu verzichten: „Der Jargon stößt ab, entmutigt. Er ist nicht nur den inkurablen geistigen Vernunftbanausen ein Verdruß, auch allen jenen dialektisch geschulten Lesern, die sich gleichwohl nicht davon abbringen lassen wollen, daß es das Wahre und das Falsche gibt, das Gute und das Böse, und daß unter Umständen sehr wohl, was wahr und gut ist, sich aufs souveränste in Sätzen sagen läßt, die den allzu Gewitzten, allzu Gespitzten als banal erscheinen.“ (Der in diesem Aufsatz unter anderen angegriffene Ulrich Sonnemann hat im April 1968 unter dem Titel Kleine Abfertigung einer Retourkutsche repliziert, worauf Améry dann noch einmal geantwortet hat.)

Literatur und Filme

Neben der Philosophie sind die Literatur und später auch der Film wichtige Gegenstände von Jean Amérys Merkur-Essays und -Rezensionen. Zwei Romanciers des 20. Jahrhunderts hat er große Aufsätze zu ihrem jeweils 100. Geburtstag gewidmet. Der eine, und für Améry der wichtigere von beiden (und sogar der wichtigste überhaupt), war Thomas Mann, dem er in Bergwanderung als seltenste Eigenschaften „Weichheit und Majestät“ bescheinigt – und als Mittel, das Leben erträglich zu machen, nicht so sehr wie (üblicherweise) Ironie, sondern Humor, und zwar in einem ganz und gar nicht biedermeierlichen Sinn: „Ein von Verzweiflung, von erotischen Konflikten, vom ‚Abgrund‘ bedrohtes Leben wird, ohne daß die genuine Tragik abgeleugnet oder eskamotiert würde, humoristisch abgefangen. Hierin ist der Dichter durchaus Realist – nicht bürgerlicher und schon gar nicht sozialistischer, einfach Realist schlechtweg; denn er verfährt auf höchster Ebene, ähnlich wie wir alle in unserem Alltag.“ Auch hier bleibt Platz für die Spitze gegen einen eher ungeliebten Denker: „Thomas Mann war noch gegen Adorno ein schwacher Denker, und dennoch nimmt dieser mit all seinem dialektischen Zugriff neben ihm sich aus wie das ‚Schwätzerchen‘ Naphta neben dem keinen Satz zu gutem Ende bringenden Peeperkorn.“

Daneben Proust, zu dem gerade seiner größeren Ambivalenz wegen Jean Amérys Verhältnis ein besonderes war. Er hat dessen Werk fast weniger für ein Gelingen geschätzt als dafür, dass Proust sein ästhetisches Programm in letzter Instanz nicht umsetzen konnte – und dadurch der Wirklichkeit treu blieb. Das große Unternehmen einer Wiedergewinnung der Zeit musste scheitern, worin für Améry aber ein letzter, wenn auch für den Autor selbst nicht einzugestehender Triumph der „Erkenntnis der Unerkennbarkeit“ lag. Proust, so Améry in für ihn ungewohnt paradoxer Formulierung, „war zu tief vorgedrungen in die Wirklichkeit, als daß er Wirklichkeit noch hätte formen können.“ (Der komplette Essay Zugang zu Proust ist als Hintergrundtext im November frei zugänglich.)

Zwei kleinere Texte zur Literatur, die bis heute höchst lesenswert sind (und das ist nur eine Auswahl): Amérys Bericht einer Ernüchterung von der Buchmesse 1968 unter dem Titel Weder Autor noch Linker (November 1968, Nr. 247) und auch seine in großer Freiheit durch die Jahrzehnte streifende und bis weit in die Zukunft reichende Erinnerung Begegnungen mit Elias Canetti (Januar 1973, Nr. 299). Er hatte den Autor bereits Mitte der dreißiger Jahre bei einer Lesung aus dem da noch nicht veröffentlichten Roman Die Blendung erlebt (der zu dem Zeitpunkt noch den Titel tragen sollte, den Améry präferiert hätte, nämlich: Kant fängt Feuer). Die Antwort auf die Frage, mit der der gar nicht lange Text schließt, kann allerdings niemand anderes geben als wir: „Ich hasse den Tod nicht und habe wenig Lust, noch lange zu leben. Aber ich bin neugierig. Gerne würde ich wissen wollen, wie in vierzig Jahren der Zeitgeist über einen von mir so verehrten Autor urteilen wird.“

Wenngleich Jean Améry bereits zuvor gelegentlich über neue Filme geschrieben hatte – etwa über Luchino Viscontis Verfilmung von Tod in Venedig (August 1971, Nr. 280) –, kam die Filmkolumne, die er im Juni 1977 (Nr. 349) unter der Überschrift Cinéma begann, für viele Leser sicher überraschend.  In einer Folge, die sich mit dem von ihm sehr verehrten Alain Resnais befasst (September 1977, Nr. 352), bezeichnet Améry sich selbst als „filmbesessen“ – liest man die vier Filmtagebücher, die folgten, wird auch der, der mit seinen Ansichten und Haltungen zum Kino nicht übereinstimmt, feststellen müssen: mit Recht. Eine grundsätzliche Auseinandersetzung mit einem der Meister des jüngeren Kinos hatte im übrigen zuvor bereits stattgefunden, im März 1968 (Nr. 239), in einem längeren Essay des Titels Jean-Luc Godard oder Das Mißverständnis der künstlerischen Freiheit. Man lernt darin wohl ebenso viel über Godard wie über Améry, der den Regisseur eines zwar virtuosen, aber auch recht leeren Formalismus zeiht. Ein Mangel an Durcharbeitung des Gegenwartsmaterials ist dabei Stärke wie Schwäche zugleich: „Jedoch, bei Godard hat man vielfach den Eindruck, als seien die Fakten eines verwandelten Welt und Kunstgefühls nicht eigentlich assimiliert. Es wird uns einfach das Vokabular der Epoche geboten, mit zahllosen optischen oder auch ausgesprochenen Anspielungen auf moderne Literatur, Philosophie, Soziologie. Das gleiche gilt für die Thematik seiner Filme. Auf eine fast schon fatale Weise ist dieser Autor immer aktuell.“

Antisemitismus und Revolte

So sehr Améry ein Meister des Großessays war, so sehr blieb er, anders als viele andere solcher „Meister“, in den großen wie in den kleineren Texten in Ton und Stil unverquast und direkt wie kaum einer. Besonders eindrucksvoll ist das in den genuin politischen Texten, von denen die abgedruckte Rede Der ehrbare Antisemitismus in vielem beeindruckt, nicht zuletzt darin, dass eigentlich mutatis mutandis jedes Wort heute noch gilt. Bei aller Kritik an Israel, die atheistische Linke Améry sich erlaubt, ist doch die Empörung über eine sozialistische Linke  so klar wie gerecht, bei der der Antizionismus von Antisemitismus kaum zu unterscheiden ist: „Die Linke hält den Mund. Und sofern sie redet, ist ihr Vokabular im eigentlichen Wortsinne ver-rückt. Die Gewaltregime Syriens und Iraks, wo gelegentlich auch Kommunisten in den Kerker geworfen werden, nennt sie hartnäckig ‚progressistisch‘. Israel aber, kein Musterstaat, gewiß nicht, aber doch ein Gemeinwesen, wo Opposition, auch anti-nationale, sich regen darf, ist in der linken Mythologie ein ‚reaktionäres‘ Land. Dies ist schlimmer als die unheimliche Dialektik, vermittels deren jeder und jedes sich rechtfertigen läßt. Es ist das politische Hexeneinmaleins. Es ist die totale Verwirrung der Begriffe, der definitive Verlust moralisch-politischer Maßstäbe.“

Zu den wichtigsten Zeugnissen aus dem Jahr der Revolte 1968 zählen schließlich Jean Amérys genau datierte Aufzeichnungen Reise ans Ende der Revolution. Notizen von einer Frankreichfahrt (Juli 1968, Nr. 243). Sie beginnen mit dem Datum 5. Juni, den Stichworten „Ratlosigkeit, Desorientierung, Konsternation“ und der Frage: „Wo aber ist die Revolution?“ Sie ist vorbei, hat nicht stattgefunden, die revolutionäre Linke ist in Lager zersplittert, „die Lévi-Strauss, Althusser, Michel Foucault, Jacques Lacan schweigen, betäubt vom Ereignis“. An die Mythen von der Einheit der Studenten, der kommunistischen Partei und der streikenden Arbeiter glaubt Améry keine Sekunde, die „neoliberale Soziologie, wie sie in Frankreich vor allem durch Raymond Aron repräsentiert wird“, begreift die Rebellion als nicht mehr denn eine „Reizwucherung der industriellen Wachstumskrise Frankreichs“. Recht ausführlich stellt Améry, der nicht versteht, der aber doch verstehen will, diese Deutungsoption dar, konstatiert jedoch im nächsten Atemzug: „Möge es so sein. Indessen: Dubito.“ Er schließt, scheint zu schließen: „Ich bin am Ziel meiner Reise ans Ende der Revolution angelangt. Vor mir liegt nicht mehr die Landschaft der Dordogne mit ihren grausteinernen Bauernhäusern, ihren Corot-Hirten, nur die kahle, zum Verzweifeln öde Szenerie einer Welt des Produktionsfetischismus, ohne Freiheit, ohne Gleichheit und ganz und gar ohne Brüderlichkeit.“ So endet der Eintrag zum 17. Juni. Das letzte Wort ist es nicht, der vom 18. beginnt mit den Worten „Natürlich kann ich mich irren…“

Letzte Worte hat Jean Améry in Wahrheit nicht gesprochen. Ohne jeden Jargon der Dialektik war sein Denken ein Denken in Bewegung. Solange er atmet, so Améry, feilscht auch der zum Suizid entschlossene Mensch trotz Todesneigung um Leben: „Aber die Würfel sind ja noch nicht gefallen. Vielleicht noch zehn Minuten, die man sich zumißt. Noch ließen sie sich ausdehnen in eine täuschende Ewigkeit hinein. Die süße Lockung des Lebens und seiner Logik umbrandet den schon zum Freitod Entschlossenen bis zur allerletzten Sekunde. Die nekrophile Zärtlichkeit zum Todeskörper läßt leicht sich konvertieren in den erlösenden Entschluß, das Unternehmen abzusagen, so daß Weltzärtlichkeit werde, wo Ekel war und Todesneigung.“