Brief aus Wien (II). In der Kirche

Emmanuel Carrère sitzt in einem Bergdorf im Wallis und guckt Internetpornos. In seinem Buch Das Reich Gottes beschreibt Carrère dann weiter, wie er ein Lesezeichen für ein Video anlegt, das er wahnsinnig heiß findet, weil die darin gezeigt Brünette, die sich selbst befriedigt, „sexuell gesehen die Quintessenz ‚meines [seines] Typs’“ ist. Ich dagegen lege ein Lesezeichen für eine Abbildung von Rogier van der Weydens Gemälde an, das zeigt, wie der heilige Lukas die Muttergottes malt. Es gibt zu dem Gemälde viel zu sagen, allerdings nicht von mir, ich bin bloß Fan dieses seltsamen Raums und der Brust der Madonna und der Aussicht durch das Seitenfenster und des zufrieden trinkenden Jesuskindes, ansonsten bin ich ahnungslos, es wurde zu dem Gemälde auch schon viel gesagt (so stellt sich die Forschung gerne die Frage, ob diese Madonna einer Person ähnelt, die wirklich gelebt hat). Unter anderem eben von Carrère, der das Bild mit seinen Pornografiestudien zur Quintessenz seines Typs in Zusammenhang bringt: „Der Frage, die das Bild für mich aufwirft, nämlich ob ein Portrait nach Modell gemalt ist oder nicht, entspricht in der Pornografie die, ob man es mit einem Amateur- oder einem kommerziellen Video zu tun hat.“ Sich diese Frage in einem Buch zu stellen, das sich mit Glaubenskrisen aller Art (religiösen, literarischen, moralischen) beschäftigt, macht Carrère zur Quintessenz meines literarischen Typs, an den ich wie in alle Quintessenzen meines Typs ohne eigenes Zutun geraten bin; hier: nimm, Rezension, Auftrag, ich hatte keine Lust, weil ich kein Buch über das Leben des Apostels Paulus und des Evangelisten Lukas lesen wollte. Während des Flugs nach Wien las ich die ersten zwanzig Seiten und wusste sofort, dass sich das ändern würde, und dass ein Buch mit diesem für alles (Unterhaltung, Erbauung, Trost) abwegigen Thema genau das war, was ich gebraucht hatte, ganz ohne es zu wissen.

Mit meinem Zutun bin ich dann in diese Stadt geraten, in der einen der Katholizismus ständig anspringt. Wohin ich mich wende: Der Katholizimus ist immer schon da. Die beiden Turmspitzen der Votivkirche ragen über das Dach des Musenklosters auf und sind meine Aussicht vom Schreibtisch aus, nichts und niemanden in Wien sehe ich so häufig wie die Rosetten und Giebelchen und Kreuz- und Dreifaltigkeitsvariationen aus sorgfältig abgestrahltem und deshalb hell leuchtenden Sandstein. Kopf nach rechts, Blick aus dem Fenster, Augen vom Bildschirm ausruhen: Votivkirche. Ich glaube, es ist falsch anzunehmen, dass man Eindrücke der Umgebung in sich aufnimmt, es ist umgekehrt, Landschaften und Architekturen nehmen die Passanten in sich auf und machen dann mit einem in der Erinnerung, in Träumen und im Wachen was ihnen passt: Es ist also besser, ich freunde mich direkt mit dieser und mit meiner Aussicht an. Man kann versuchen, sich aus seinen Erinnerungen zu entlassen, indem man sich die Geschichten anders erzählt, die zu den Erinnerungen gehören, und vielleicht ändern sich entsprechend die Nachttraum- und Wachtraumbilder, die dazu gehören.

Wie soll das gehen? So: den eigenen Einfällen vertrauen und sich seinen Assoziationen überlassen. Das ist eine Anstrengung, weil es bedeutet, die Dinge zusammenzubauen, die nicht zusammenzugehören scheinen. So geht Carrère vor, und darin liegt die Kraft von Das Reich Gottes und auch seiner anderen Bücher, die ich danach so schnell ich konnte gelesen habe. What the patient denies is the place to dig: Wenn Pornografie, Rogier van der Weydens Madonna und das Lukas-Evangelium im Kopf von Emmanuel Carrère gleichzeitig herumrumoren, dann gibt es einen Zusammenhang, auch, wenn es ihm unangenehm ist. Dieser Zusammenhang, insistiert er, muss durch nichts anderes verbürgt werden als die Tatsache, dass er eben diesen Einfall hat, dass er sich erinnert, an sich selbst, an Dinge, die er gelesen und gesehen hat.

Stadtplanung und Memorialpolitik versuchen zu verhindern, dass wir uns aus unseren Erinnerungen herausschleichen können und kümmern sich darum, dass wir stattdessen in den Erinnerungen herumlaufen: Die Votivkirche liegt an der Straße des achten Mai, ein Datum, das mit der Befreiung von denen verbunden ist, die Sigmund Freud aus Wien vertrieben haben, der zum Erinnern auch zwei oder drei Dinge zu sagen hatte. Damit das nicht vergessen wird, ist der Park gegenüber der Votivkirche nach ihm benannt. An der Rückseite der Kirche ist der Rooseveltplatz gelegen, sein Namensgeber starb am 12. April 1945, und erlebte also wie Sigmund Freud den achten Mai nicht mehr, im Tod und auf dem Stadtplan sind Freud und Roosevelt jetzt miteinander für immer so fest verbunden, dass es Geschichtsklitterung wäre, keinen Zusammenhang zwischen ihrem Leben und Wirken zu sehen.

Die Votivkirche modert und bröselt, Schäden an den psychedelischen Bleiglasfenstern im Innenraum und Wasserschäden am Dach müssen behoben werden. Die Renovierung dauert vermutlich zwanzig Jahre und das Geld ist so knapp, dass die Fassaden der Kirche nun als Werbefläche vermietet werden, die Plakate werden häufig ausgewechselt, aber es lassen sich Schwerpunkte ausmachen. Einer liegt auf süßen Getränken: Die Firma Rauch hat die Hälfte der vorderen Front der Kirche mit einem riesigen Plakat bespannt, auf dem ein Zusammenhang zwischen einer Brünetten und Orangensaft hergestellt wird; Vöslauer wirbt für Balance-Getränke; zu sehen sind außerdem Zacharias Zitrone und Hilde Himbeere, Maskottchen für die Produkte aus der Dreh-und-Trink-Reihe, deren Geld nur für kleinere Plakate gereicht hat. Ansonsten haben vor allem drei der Kandidaten für die Wahl zum Bundespräsidenten der Republik Österreich am 24. April investiert: der Sozialdemokrat Rudolf Hundstorfer („Mit Sicherheit immer für uns“), der parteilose Alexander Van der Bellen („Mutig in die neuen Zeiten“) und Norbert Hofer von der FPÖ („Aufstehen für Österreich. Deine Heimat braucht Dich jetzt“). Der Dreiklang sozialdemokratisch, parteilos, rechtsradikal ist schrill, aber offenbar nicht störend: Mit Hilfe all dieser Geldgeber wird die Kirche saniert. Für wen denn eigentlich? Wer kommt hier hin? Ich glaube, es sind die Verzweifelten, und auf die soll es nicht auch noch tropfen, wenn sie einen Unterstand suchen.

An einem Samstagabend gegen 18 Uhr sitzt in der Votivkirche eine junge Frau in der letzten Bank und weint. Auf dem Schoß hält sie einen Rucksack an sich gepresst und eine Plastiktüte, vielleicht ist sie nach dem Einkaufen hergekommen. Weiter lärmt eine italienische Touristengruppe herum und hängt dann abgeschlafft in den Bänken, einige andere Besucher fotografieren, ein Paar betet vor einem Seitenaltar, der der Madonna von Guadeloupe gewidmet ist. Seit den 1950er Jahren ist die Gemeinde der Kirche von 11.500 Mitgliedern auf 2.500 Mitglieder geschrumpft, auf den Bänken fänden vielleicht 250 Platz, zur Messe an diesem Samstag Abend sind etwa 15 Leute gekommen, sie sitzen und singen und beten in einer Art Terrarium: eine kleine Seitennische der Kirche wurde mit einem eigenen Altar und Tabernakel ausgestattet und mit Glaswänden vom Hauptraum abgetrennt, damit das Reden und Fotografieren und Weinen und Beten der Gäste diejenigen nicht stört, die zur Messe gekommen sind.

Für alle steht bereit: ein Süßigkeitenautomat, der aber nicht mit Mannerschnitten und Snickers, sondern mit Postkarten und Infobroschüren über die Kirche gefüllt ist; ein Phonomat, wobei es sich um einen Münzfernsprecher handelt, der gegen Geldeinwurf in verschiedenen Sprachen über die Geschichte der Kirche informiert; ein Defibrillator; ein Schwarzes Brett, das verschiedene Kurse im nahe gelegenen Kardinal König Haus bewirbt: Einführung in die Demenzbegleitung (480 € inkl. 4 Mittagessen und Kursunterlagen) oder Lebens-, Sterbe- und Trauerbegleitung (495 € inkl. 4 Mittagessen und Kursunterlagen) oder das Seminar Biblische Spiritualität. Es sind genau diese Formen religiösen Lebens, an denen Carrères Versuch, ein Christ zu werden, letztlich scheitert. Carrère scheitert als Intellektueller und als Snob, der am Ende nicht über den Berg seines kulturellen Kapitals klettern kann, über das erlernte détachement, das es ihm nicht erlaubt, von ständigen Stilbeobachtungen zu lassen. Die letzte Szene von Das Reich Gottes spielt auf einem Bauernhof, auf dem Behinderte von Katholiken gepflegt werden. Carrère tritt mit einigen anderen zu einer Fußwaschung an: „Alle, ich eingeschlossen, sind in diesem Wanderstil gekleidet, der bei Katholiken besonders beliebt ist.“ Wer sich über Jack-Wolfskin-Jacken und Trekkingsandalen mokiert, und hier tippt mir der Autor zartfühlend auf die Schulter, hat noch viel Arbeit vor sich.

300.000 Wiener folgten in den 1850er Jahren dem Aufruf von Erzherzog Ferdinand Maximilian, für den Bau einer Kirche zu spenden, die an die Rettung von Kaiser Franz Joseph I. nach einem Attentat erinnern sollte (der Rest ist Wikipedia). Das Kirchengebäude selbst ist eine gigantische Votivgabe, angefüllt mit vielen weiteren Gegenständen und Tafeln, die beispielsweise an die Kameradschaft der 44 ID Hoch- und Deutschmeister erinnern, oder an Georg I, König der Hellenen und Regimentsinhaber, oder an Eugen Hoppe, der 1974 eine Tafel mit „Dank und Bitte“ stiftete, wie überhaupt bei der Anbringung von Votivtafeln in den 1970er Jahren ein Peak erreicht scheint, „Dank dem hl. Judas A.D. 1979“ usw.: Die Wände sind voll mit Hinweisen auf Unglück und die Hoffnung auf die Befreiung daraus. Worin das Unglück bestand und wie es wegging, wird nicht erzählt. Der Kirchenraum bleibt ein steinerner Kummerindex, der mit der Zeit nur noch auf unerzählte Geschichten und damit ins Nichts verweist: auch eine Lösung. Wer hier in die Kirche geht, hat offenbar traditionell ein Problem und versucht, mit Gaben eine Erleichterung herbeizutauschen: mit der Geldspende, die für eine Kerze verlangt wird, die vor der Muttergottes angezündet wird; mit einer Votivtafel, die auf eine der Wände aufgebracht wird oder mit Gebeten, vom tiefsten Punkt eines unerfüllten Bedürfnisses gesprochen.

In ein in Altarnähe ausgelegtes Buch kann man Gebete und Fürbitten schreiben. Ein Aufsteller informiert, dass einige ausgewählte gelegentlich im Gottesdienst vorgetragen werden, über die Kriterien der Auswahl erfährt man nichts. Viele Bittende hinterlassen ihren Namen, ihre Wünsche sind schlicht und handeln von den ganz normalen Katastrophen: Ein Familienmitglied soll nicht sterben, der Geliebte gesund werden. In Kinderschrift wird um Frieden gebeten. Mit dem Alter schrumpft der Glaube an das, wofür man sinnvollerweise beten kann, von der Welt auf das eigene Leben zusammen, die Bitten um Weltfrieden sind alle in Kinderhandschrift notiert: „Hoffnung ist wichtig smiley“, steht da. Eine Frau schreibt „Muttergottes, die Last ist manchmal unerträglich. Ich bitte, daß ich ein gesundes Kind zur Welt bringe. Bitte, bitte, bitte.“ Wenn ich beten könnte, würde ich darum bitten, dass diese Sätze vorgelesen wurden. Und dass sie erhört wurden.

An Ostern gehe ich einem Tweet von Stephan Herczeg nach, der auf eine fünfteilige Reihe von Gesprächen zwischen Emmanuel Carrère und Laure Adler hinweist. Im zweiten Gespräch der Reihe spricht Carrère darüber,  dass er es geradezu unmoralisch findet, beim Schreiben zu versuchen, in den Kopf von jemand anderem einzutreten, er beschreibe alle Figuren immer nur von außen, aus seiner eigenen Perspektive, die die einzige sei, über die er legitimerweise etwas sagen könne. Das führt zu einer im besten Sinne oberflächlichen Literatur: Carrère, der auch viele Drehbücher geschrieben hat, sieht Szenen, Konstellationen und lässt sie durch den einen Filter laufen, den er vollkommen in der Gewalt zu haben scheint: seine Überlegungen dazu. Er schreibt: „Wenn jemand eine Geschichte erzählt, weiß ich gern, wer sie mir erzählt. […] Sobald jemand ‚ich’ sagt (im Notfall tut es auch ein ‚wir’), habe ich Lust, ihm nachzugehen und herauszufinden, wer sich hinter diesem ‚ich‘ verbirgt.“ Es geht mir auch so, und so folge ich Carrère in allem, was er schreibt, erleichtert, dass ich nicht mehr glauben soll, als dass der  Erzähler dieses oder jenes gesehen habe. An dem Behaupten ist alles wahr, nichts kann daran falsch sein. Ob das Behauptete wahr ist, ist eine ganz andere Frage. Die Wirklichkeit, für die Carrère sich interessiert, hat einiges gemein mit der Idee von ekstatischer Wahrheit, die Werner Herzog vertritt (über Herzog hat Carrère auch ein Buch geschrieben, das Herzog selbst, wie Carrère einmal berichtet, als „Bullshit“ bezeichnet). Es geht um einen nicht weiter steigerbaren, vollständig subjektiven Erkenntnismodus, der bei beiden christlich überformt ist. Carrère geht es darum, einen Weg zu finden, mit der Ungerechtigkeit umzugehen, dass wir alle verschieden sind, wie er in Limonow schreibt, „mehr oder weniger hübsch, mehr oder weniger begabt, mehr oder weniger für den Kampf gewappnet“. Wo ist Hilfe? Für Carrère im Christentum, in der „Vorstellung, dass in jenem Königreich, das sicher nicht das Jenseits sondern die Realität der Realität ist, der Kleinste der Größte ist“. Das klingt in seinem Pathos ebenso banal wie unerfüllbar, wie alle großen Sehnsüchte.

So sind auch die Fürbitten in der Votivkirche, und sie zu beten, auch wenn man nicht daran glaubt, dass es irgendwo im Universum eine Macht gibt, die sie erfüllen kann, scheint mir eine distanzierte Weise von Beistand zu sein, die nicht verlangt, in den Kopf von jemand anderem zu kriechen, sondern nur Interesse und Anteilnahme an dem, der „ich“ sagt. Es geht nur ums gemeinsame Aussprechen der Bitte. Auch die weniger dringlich und in unsicherer oder unleserlicher Schrift formulierten Gebete haben eine Wurzel in Trauer und manchmal sogar Elend, die mich rührt (natürlich vor allem, weil sie alle Erinnerungen an meine eigene unerledigte Trauer sind). Gleichzeitig ist diese Sammlung abstoßend, sie hat so viele vollgeschriebene Seiten, die ersten Einträge stammen aus diesem Winter, der Strom der Sorgen und Bitten reißt nie ab, es hört nie auf, die Lotterie geht weiter, die Wette darauf, dass vielleicht dieses Mal oder nächstes die eigene Fürbitte vorgelesen werden, die Hoffnung darauf, dass es die Chancen auf das Erhören des Gebets erhöht, wenn fünfzehn Gemeindemitglieder im Terrarium sitzend gemeinsam murmeln: bitte, bitte, bitte.

Am Sonntag Abend fahre ich nach einer Essenseinladung im 20. Bezirk mit dem Fahrrad nach Hause, überquere auf der Augartenbrücke den Donaukanal und denke mit der Spezialintensität des dritten Glases Wein über diesen Text nach. Vor drei Jahren haben ein paar Refugees die Votivkirche besetzt, hat man mir beim Essen erzählt. Der Ausdruck „Refugees“ ging mir auf die Nerven und dann fürchte ich, dass mein Text durch den Einbau dieser neuen Informationen zusammenbrechen könnte. Die Augartenbrücke führt direkt auf die Maria-Theresien-Straße, an deren Ende liegen das Schottentor und der Sigmund-Freud-Park. Ich sehe also schon von weitem die Votivkirche, in deren Türmen in der Nacht Lampen angeschaltet werden, so dass sie von innen leuchten. Das klingt betulich, und genau so ist diese Beleuchtung gedacht, und so klingen auch alle Sätze, die von Dunkelheit und Licht handeln, sie aasen im Subtext mit Nacht und Tag und Licht und Schatten und mit der Hoffnung herum, dass man aus Be- sehr einfach Erleuchtung machen kann. Carrère schreibt, er habe sein Reich Gottes verlassen, wie er seinen Glauben verlassen hat, unsicher, ob dieses Weggehen ein Verrat ist. Es gibt für diese Fragen keine Lösung. Aber Texte, die dazu zu schreiben sind, also Antworten. Im Dunkeln leuchtende Kirchen sind Anhaltspunkte unterwegs.