Anti-Poetik im Schatten der Gerbermühle – zu Michael Kleebergs Frankfurter Poetikvorlesungen

Es ist schon etwas her, seit es bei den Frankfurter Poetikvorlesungen zum letzten Mal einen politischen Streitfall gab.  1990 vertrat Günter Grass im Rahmen der Gastdozentur seine umstrittene These, dass die Wiedervereinigung Deutschlands aufgrund der historischen Verantwortung für Auschwitz abzulehnen sei. 27 Jahre später gibt es wieder eine politische Kontroverse in Frankfurt – und wieder spielt Auschwitz eine Rolle.

Die aktuelle Vorlesungsreihe wird von Michael Kleeberg bestritten und trägt den Titel „Besserem Verständnis. Ein Making-of“. In den fünf Vorlesungen berichtet Kleeberg von der Arbeit an seinem gerade entstehenden neuen Roman, der zwischen westlicher und östlicher Kultur eine Brücke schlagen will. Die eigenen ausgedehnten Reisen im Nahen Osten und Goethes West-östlicher Divan bilden die Fundamente des Entstehungsberichts. Dabei müsse er auch von den „Schattenseiten“ der Beziehungen zwischen Orient und Okzident berichten, so Kleeberg. Im Zusammenhang dieser Schilderungen kam es zu Äußerungen, die so bedenklich waren, dass die Geschäftsführerin der Poetikdozentur, Susanne Komfort-Hein, Germanistikprofessorin an der Universität Frankfurt, sich genötigt sah, vor der vierten Vorlesung am vergangenen Dienstag in distanzierender Absicht Stellung zu den Aussagen Kleebergs aus der Vorwoche zu nehmen. Komfort-Hein sprach von einer „politisch sehr problematischen Rhetorik“ und meldete Diskussionsbedarf zu dessen Äußerungen an.

Anstoß erregten vor allem zwei Gedanken und ihre Formulierungen aus der dritten Vorlesung Kleebergs, die im Zuge einer Islamkritik geäußert wurden. Zum einen die Beschreibung der Flüchtlingsmigration nach Deutschland als „das Aufeinandertreffen einer Mehrheitsidentität, die sich auflösen, mit einer Minderheitsidentität, die sich durchsetzen will“, zum anderen die Rede von der „ausschließlichen historischen Fokussierung der deutschen Geschichte auf Auschwitz und dem damit einhergehenden Wunsch nach Auflösung des moralisch belasteten Deutschen in größeren und vor allem unbelasteten Zusammenhängen als Weg der Entschuldung“. Den inkriminierten Passagen ging im Rahmen der Vorlesung eine lange Einleitung voraus, die offenbar der folgenden Abrechnung mit dem Islam etwas von ihrer Schärfe nehmen sollte: Kleeberg führte die Denkfigur einer „produktiven Schizophrenie“ ein, die sich in einem „Riss“ zwischen dem Künstler und dem Staatsbürger Michael Kleeberg niederschlage. Während ersterer das „Schicksal des Einzelnen“ fokussiere und dabei seine eigenen politischen Meinungen „transzendiere“, sei letzterer Teil aktueller Debatten. Auch wenn Kleeberg selbst konzedierte, dass „niemand mit den politischen Ansichten und Meinungen deutscher Schriftsteller und Intellektueller behelligt werden sollte“ und diese Ansichten „im gehörigen zeitlichen Abstand gesehen, Befremden und Kopfschütteln“ auslösen könnten, müssten sie nun doch Teil der Vorlesungen werden, weil die gegenwärtige weltpolitische Lage natürlich auch die Entstehung seines Romans beeinflusse. Diesem Umstand ist es geschuldet, dass Kleebergs politische Einlassungen am 20 Juni in Frankfurt verlesen wurden – Befremden und Kopfschütteln ließen nicht sehr lange auf sich warten.

Im Anschluss an die Distanzierung seitens der Institution verlas Michael Kleeberg ebenfalls eine Stellungnahme als Antwort auf die geäußerten Vorwürfe. Darin ließen sich deutlich moderatere Töne vernehmen als in der Vorwoche. Trotz der nachträglichen rhetorischen Abrüstung blieb aber eine unaufgelöste Dissonanz nicht nur zwischen Autor und Bürger bestehen, sondern auch zwischen den empathischen Schilderungen orientalischer Denk- und Lebensweise, die Kleeberg aus eigener, langjähriger Anschauung kennt, und der Rede vom gewaltfanatischen Islam. Ebenso wirkte die offensive Verwendung von biologistischem Vokabular auch eine Woche später noch schrill: Kleeberg hatte vom „Nazi-Gen der Deutschen“ gesprochen, das in einem „Multikulti-Genpool“ erlöst sein wolle.  In diesem Zusammenhang fiel auch das Stichwort einer „politischen Theologie“ in Deutschland, die den Auschwitzbezug und die Hoffnung auf letztendliche Erlösung davon zum unverrückbaren Zentrum habe. Gefährlich scheint aber genau der Versuch Kleebergs, die deutsche Flüchtlingspolitik in einen direkten kausalen Zusammenhang mit der unterstellten Fixierung auf Auschwitz und den Holocaust zu bringen – eine Argumentation, die in ihrer Pathologisierung historischer Auseinandersetzung („deutsche Neurose“) genauso wie in ihrer Kritik an deutscher Erinnerungskultur in großer Nähe zu rechtspopulistischen Positionen steht. Indem insinuiert wird, dass sich der Umgang mit der Flüchtlingskrise direkt aus der schuldbeladenen deutschen Vergangenheit herleite, wird einer Ablehnung historischer Verantwortung das Wort geredet – diese Gedankenfigur lässt sich immer wieder auch im neurechten Spektrum finden.

Dabei darf dem Autor selbstverständlich nicht Unrecht getan werden; zu weiten Teilen bewegte sich das politische Statement Kleebergs im Rahmen des demokratisch Diskutablen – umso irritierender die zitierten sprachlichen und inhaltlichen Entgleisungen, denen tatsächlich keine Sensibilität für die wirklichkeitsverändernde Kraft der Sprache anzumerken war, wie Susanne Komfort-Hein anmerkte. Der mancherorts zu hörende Vorwurf, dass durch ihre Intervention die Autonomie der Kunst oder gar die Redefreiheit beschnitten werde, ist dagegen haltlos: Einer vorgetragenen Meinung darf und kann begründet widersprochen werden, auch und gerade dann, wenn sie auf dem prominenten Programmplatz der Frankfurter Poetikvorlesungen geäußert wird. Dies ist eine Grundlage der Demokratie ebenso wie der Universität. Zu begrüßen ist vor diesem Hintergrund allemal, dass statt der üblichen Abschlusslesung des Poetikdozenten diesmal am Mittwoch, 5.7.2017, eine Podiumsdiskussion im Frankfurter Literaturhaus stattfindet, zu der neben Kleeberg auch die Islamwissenschaftlerin Armina Omerika sowie der Literaturwissenschaftler Heinz Drügh eingeladen sind. Damit kann der auch von Kleeberg angemahnten Forderung nach „Recht auf Gehör und Diskussion“ einer jeden „Position, die sich auf dem Boden des Grundgesetzes befindet“, Genüge getan werden.

Kleebergs Anti-Akademismus

Über die unmittelbare politische Problematik der inkriminierten Passagen hinaus gibt es aber noch ein damit in Verbindung stehendes, tiefer liegendes Problem, das mir Kleebergs Vorlesungen problematisch erscheinen lässt: Sie sind von einem ausgeprägten Anti-Akademismus durchzogen. In allen vier bislang gehaltenen Vorlesungen  wurden in verschiedenen Konstellationen „Empirie“ und „Praxis“ gegen „Theorie“ ausgespielt, geisteswissenschaftliche Forschung diskreditiert und eine instinktbasierte, praktische „Weisheit“ gegenüber der Ratio und wissenschaftlicher Erkenntnis in Stellung gebracht. Er wisse nicht, was Poetik sei, verkündete Kleeberg zu Beginn seiner zweiten Vorlesung, sie mache ihn „aggressiv“. Hinzu komme eine generelle „Abneigung“ und „Unverständnis“ Theorien gegenüber. Gegenbegriff ist natürlich die Praxis: Kleeberg sieht sich als literarischen Macher, „Literatur ist Praxis“.

Es ist schon etwas skurril: Ein Schriftsteller, der auf Einladung der Universität in einem ihrer Hörsäle eine Poetikvorlesung hält, diskreditiert zur sichtlichen Freude eines Großteils des Publikums die täglichen Bemühungen der ihn einladenden Institution. Das alleine ist allerdings noch gar nicht so ungewöhnlich oder gar irritierend, wie es den Anschein haben könnte. Die Distanzierung von der Literaturwissenschaft in Namen des Eigenrechts der Literatur und auch die behauptete Unfähigkeit, eine Poetik formulieren zu können, gehören vielmehr zu den gattungstypischen Topoi der Poetikvorlesung.  Bereits in der allerersten Vorlesung von Ingeborg Bachmann findet eine Zurückweisung literaturwissenschaftlicher Ansprüche auf die Literatur statt, die seitdem in vielen weiteren Varianten in Frankfurt zu hören war. Die Klage über die Zumutung, eine Poetik entwickeln zu sollen, gehört zum konventionellen Spiel genauso wie die zur Schau gestellten Zweifel, der Aufgabe gewachsen zu sein. Die Frankfurter Poetikvorlesungen zeichneten sich in ihrer Geschichte immer wieder auch durch ein mehr oder weniger produktives Missverständnis zwischen der Literatur und ihrer Wissenschaft aus. Das Aufeinandertreffen zweier Funktionssysteme mit ihren eigenen Geltungsansprüchen, Normen, Konventionen und Subjektformen führt im Rahmen der Poetikdozentur zu Anziehungs- und Abstoßungsbewegungen. Nicht zuletzt schlägt sich dieser Spagat in der Form der Texte selbst nieder, die oftmals das Grenzgebiet zwischen Essay und Theorie, Erzählung und Abhandlung praktisch-theoretisch ausmessen und in den gelungen Fällen Abgrenzungswille und Formbewusstsein zum Einklang bringen. Denn wozu führt alles Weinen, Klagen, Sorgen, Zagen im Hörsaal letztlich? Zu einer Poetikvorlesung.

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Kritikwürdig ist also weniger der Vortrag einer Art von Anti-Poetik selbst als vielmehr zwei Aspekte ihrer Kleebergschen Spielart: zum einen die Form, in der Kleeberg sie mit einer tiefer greifenden aggressiven Wissenschaftsfeindlichkeit verbindet, zum anderen ihre Verbindung zum politischen Populismus. Wenn Kleeberg ins Horn der Theoriefeindlichkeit stößt, kann er jedenfalls auf den Beifall seines im Frankfurter Hörsaal mehrheitlich bürgerlichen Publikums zählen. Im Zeichen des sogenannten „gesunden Menschenverstandes“ (auch dieser Begriff fiel mit positiver Konnotation in einer Vorlesung und schließt damit an die erwähnte biologistische Bildlichkeit an) kam es immer wieder zu Spitzen gegen die Akademie. Vorbereitet wurden diese schon in einem Interview, das Kleeberg anlässlich seiner Poetikdozentur gegeben hat. Darin wertet er die Bedeutung „literaturtheoretischer Seminare“ zugunsten erfahrungsgesättigter  Tätigkeiten außerhalb von Universität und Literaturbetrieb ab.

Als Höhe- bzw. Tiefpunkt des zwischen Autor und Publikum geteilten antiakademischen Affekts verlas Kleeberg in seiner vierten Vorlesungen einen etwas umständlichen fachsprachlichen Satz aus einer kunsthistorischen Arbeit zum Phänomen der „Interikonizität“, was von einem nicht unbeträchtlichen Teil der Anwesenden mit Szenenapplaus bedacht wurde. Ähnliche Ausfälle gegen Sprache und Methoden der Literaturwissenschaft sind auch immer wieder bei von LiteraturwissenschaftlerInnen moderierten Lesungen zu beobachten – philologisch und theoretisch informierte Fragen werden häufig als Zudringlichkeiten der unverfügbaren Künstlerpersona gegenüber wahrgenommen. Im Vollbesitz seines ‚gesunden‘ Künstlerverstandes eignete sich Kleeberg kurz darauf Benjamins Aura-Begriff für seine Zwecke an. Da es der Wissenschaft und sogar Benjamin selbst bisher nicht gelungen sei, „präzise“ zu klären, was er mit „Aura“ gemeint habe, nahm sich Kleeberg die Freiheit, den Begriff gänzlich idiosynkratisch „nach persönlichem Gusto“ zu verwenden. Wozu dann überhaupt der Bezug auf Benjamin? Die Desavouierung von konsistenter Begriffsarbeit, die willkürliche Neu- und Umbesetzung rational diskutierter Positionen bildet ebenfalls eine zentrale Strategie im gegenwärtigen populistischen Repertoire.

Das schließt die Einschreibung in geistesgeschichtliche Traditionslinien nicht aus. Denn Kleebergs Anti-Akademismus verträgt sich nicht nur mit dem emphatischen Bezug auf kanonischen Lesestoff, sondern findet darin seine Bestätigung. Tolstoi, und besonders dessen Figur Kutusow, verkörpere, wie Kleeberg selbst, die Gestalt des „Empirikers“, der – man ahnt es schon – allem Theoretisieren abhold ist. Als Empiriker schlechthin der deutschen Literaturgeschichte gilt ja nicht zuletzt Goethe, der in mehrfacher Hinsicht das Zentrum der Vorlesungen Kleebergs darstellt. So handelt es sich im Titel der Vorlesungsreihe nicht etwa um einen orthographischen Fehler, sondern um eine Anspielung auf Goethes Erläuterungen zu seinem „West-Östlichen Divan“, die er den Gedichten des Bandes zu „Besserem Verständniss“ beigegeben hatte. Kleeberg wiederum wirft sich selbst explizit in Goethes Pose, wenn er „beschämt“ gesteht, in seinem Taunus-Freundeskreis die Rolle des Dichterfürsten auszufüllen. Die Frankfurter Gerbermühle, Ort der Begegnungen von Goethe und Marianne von Willemer, bildet nicht nur das historische Äquivalent für Kleebergs Taunus-Idylle, sondern liefert gleich auch noch etwas publikumswirksames Lokalkolorit. Weitere Gewährsmänner für Kleebergs (Nicht-)Poetik: Hemingway, René Girard, Thomas und Golo Mann (letzterer als Vertreter eines heute in der Geschichtswissenschaft leider nicht mehr möglichen „synthetischen  Denkens“).

Man wird den Eindruck nicht los, dass sich Kleeberg im Schatten alter Geistesblüte platziert, um Klischees reaktivieren zu können. Denn bei alldem ist die Möglichkeit des rhetorischen Rückzugs stets bereits eingebaut: die wortgenaue Lektüre französischer Theoretiker wird als unlockere Gelehrsamkeit aus dem Geiste der „preußischen Dienstordnung der Theorie“ gebrandmarkt, das Primat des Spielerischen schlägt den deutschen Ernst. Das beklagte Fehlen eines nationalen Bewusstseins der Deutschen schlägt bei Kleeberg in nationale Stereotype um: weil die Franzosen ihre Gedanken „in Cafés und beim Wein“ entwickelten, die Deutschen hingegen „beim Bier und bitteschön alleine“, sei auch französische Theorie nur als „Gedankenspiel“ aufzufassen, der allzu deutsche Geistesschwere auszutreiben sei. So kann man natürlich auch die Verantwortlichkeit für ein gedanklich allzu freies Flottieren von sich weisen.

In seiner eigenen Argumentation lässt Kleeberg jedenfalls gerne fünfe gerade sein. Was Intertextualität ist, wird mithilfe des Wikipedia-Eintrags geklärt und das oben erwähnte Zitat wird mit falscher Verfasserangabe versehen: der Kunsthistoriker Christoph Zuschlag, Autor des zum Verlachen freigegebenen Beitrags zur Interikonizität, heißt bei Kleeberg Christoph Umschlag. Natürlich ist eine Poetikvorlesung kein wissenschaftlicher Vortrag und gehorcht anderen Maßstäben. Aber in einem Moment literaturwissenschaftliches Vokabular zu unpräzisen „Kampfbegriffen“ herabzuwürdigen, um im nächsten Moment selbst nach Belieben mit etablierten Konzepten zu hantieren und das Ganze dann „höheres Abschreiben“ (Thomas Mann) zu nennen, kann auch nicht der „Weisheit“ (so Kleebergs Bezeichnung für die präferierte praktische Erkenntnisart) letzter Schluss sein.

Kleeberg redet einem produktionsästhetischen und lebenspraktischen Irrationalismus das Wort, dessen Grundgedanke in dem Glauben besteht, dass sich alles so fügen werde, wie es für die Erschaffung des Werkes notwendig sei. Sein eigener Beitrag bestehe in der „Gestimmtheit“, alles aufzunehmen und in Beziehung zueinander zu setzen. Und noch ein anderer Glaube durchzieht, wenn auch etwas unauffälliger, Kleebergs Vorlesungen: die Rede ist vom Christlichen. So wird in einer Aufzählung der möglichen positiven Effekte des Islam in Deutschland der Hoffnung Ausdruck verliehen, er könne auch zu einer „Erneuerung des christlichen Glaubens in diesem von materialistischer Agnostik ausgetrockneten und auf den spirituellen Hund gekommenen Land“ beitragen.

All dies führt jedenfalls dazu, dass die strikte Trennung von Autor und Staatsbürger eben nicht aufgeht. Schon gar nicht, wenn ihre Randbereiche so unscharf werden, dass nicht mehr zu unterscheiden ist, wer eigentlich für das in Frankfurt Gesagte die Verantwortung tragen soll. Gegen verantwortungsbewusste Rationalität gerichtet ist dann nicht nur die Islamkritik von Sarrazins Gnaden, sondern auch ihre Kombination mit einer unverhohlenen (Geistes-)Wissenschaftsverachtung. In dieser analogen Denkbewegung liegt das eigentliche Ärgernis der aktuellen Poetikvorlesungen.

Kevin Kempke ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Graduiertenkolleg „Schreibszene Frankfurt“ und arbeitet an einer Dissertation über die Frankfurter Poetikvorlesungen.