„Ich fand Sie schon immer so exotisch“

Mein Studium am Deutschen Literaturinstitut fühlt sich im Rückblick noch immer ein bisschen unwirklich an. Die alte Villa unter den Bäumen war für mich lange das Symbol einer hermetisch verschlossenen Welt, auf deren knarzendem Parkett berühmte Schriftsteller*innen ein- und ausgingen. Schriftsteller*innen, deren Gesichter ich vom Ingeborg-Bachmann-Preis aus dem Fernsehen kannte oder aus den Feuilletons der ZEIT und FAZ. Am Vorabend meines Auswahlgesprächs hatte Deutschland knapp gegen Uruguay das Spiel um Platz Drei in der WM gewonnen, und ich erinnere mich noch gut an eine riesige, sich wellende Deutschlandflagge, die von einer Gruppe Jugendlicher durch die gespenstisch leeren Straßen Leipzigs getragen wurde. Am nächsten Tag saß ich eine halbe Stunde zu früh auf einem Stuhl im dämmrigen Dachboden des Literaturinstituts.Es war so heiß, dass meine Oberschenkel aneinanderklebten, und ich fühlte mich wie erschlagen, weil ich auf dem Weg zum Institut nirgends einen Kaffee gefunden hatte. Plötzlich erschien Terézia Mora in einem blauen Kleid, sagte, oh, Sie sitzen ja im Dunkeln, und knipste das Licht an. Ich war überrascht, dass Terézia Mora so ungezwungen, ja, normal wirkte, und wollte am liebsten auf dem Stuhl festwachsen und für immer auf diesem Dachboden bleiben. Aber es sollte das letzte Mal sein, das ich Terézia Mora gesehen hatte. Mich empfingen zwei ältere Herren und eine mitleidig lächelnde Studentin, die mich, mein Leben und meine Texte auf Herz und Nieren prüften, und am Ende wünschte mir der Nettere der beiden Männer viel Glück für mein weiteres Leben. Wider Erwarten wurde ich trotzdem angenommen. In den folgenden Semestern war ich die dankbare Studentin, die schüchtern in der letzten Reihe saß und selten Position bezog, ich wurde mal gelobt, mal abgewatscht für meine Texte, durchlief erste Schreibkrisen und übernachtete jede Woche in einem anderen Kiez der Stadt, weil ich meine Wohnung in Berlin nicht hatte aufgeben wollen. Es kam mir normal vor, dass ich wenig sagte, die Aura meiner berühmten Dozenten und Kommilitonen nahm mir den Raum zum Atmen und Sprechen und Denken. Aber berühmte Schriftsteller*innen sind auch nur Menschen. Mit Unsicherheiten, mit Mundgeruch, womöglich mit Verdauungsstörungen, jedenfalls Menschen.

Das begriff ich spätestens im zweiten Semester. Zu den neuen Gastdozent*innen gehörte ein sehr links gerichteter Schriftsteller, der mit seinen gesellschaftskritischen Romanen in den Jahren zuvor große Aufmerksamkeit erlangt hatte, und ich erwartete seinen Kurs mit einer gewissen Spannung. In der ersten Stunde ließ sich der Mann, ich sage nicht wer, auf den Stuhl sinken und sagte, er habe eine Literaturliste für das Semester vorbereitet. Ich starrte auf den Zettel und überflog die Namen, vor allem DDR, ausschließlich männlich: Wolfgang Hilbig, Uwe Johnson, Heiner Müller etc. etc. Als habe er meine Gedanken erraten, sagte der Dozent: Er müsse gestehen, er lese Bücher von Frauen einfach nicht so gern. Ehrlich gesagt falle ihm jetzt so auf Anhieb keine einzige Autorin ein. Ach ja, doch, Brigitte Reimann vielleicht. Wer wolle, könne ein Referat über die Reimann halten.

Mein Vater, der das kommunistische Rumänien als junger Student verlassen hatte und vielleicht auch deshalb heute eher bürgerlich und konservativ geprägt ist, hatte sowas mal behauptet: Bücher von Frauen seien langweilig. Da war ich vierzehn oder fünfzehn und hatte gerade die Romane der Brontё-Schwestern für mich entdeckt. Ich weinte, weil Mr. Rochester blind geworden war und Jane ihn endlich heiraten konnte, und ich schrieb jetzt selbst in Sätzen, die nicht kürzer sein durften als eine Seite. Aber bedeutete das, dass Frauen sich nur in langen Schachtelsätzen und blumigen Adjektiven ausdrücken konnten, wie die Brontё-Schwestern es taten? Hatte nicht auch Thomas Mann eine Schwäche für seitenlange Sätze? Um ehrlich zu sein, kannte ich sonst selber nur Bücher von Männern, und je mehr Bücher von Männern ich las, desto mehr schrieb ich auch wie sie, denn natürlich schreibt man immer ein bisschen so wie die Autor*innen, die man mag. Ich verstand also nicht ganz, warum die Bücher von Frauen laut der Aussage meines Vaters so langweilig sein sollten, vor allem weil ich ihn noch nie mit dem Buch einer Frau gesehen hatte, überhaupt hatte er schon sehr lange kein Buch mehr gelesen, jedenfalls kein belletristisches. Vielleicht war dieses so dahingesagte Verdikt meines Vaters dann auch der Grund, weshalb ich mit dem Schreiben begann, aus Trotz. Und weil ich schon immer ein ziemlicher Dickkopf war, war es nur eine logische Konsequenz, dass ich früher oder später an der Schreibschule landete.

Umso erstaunter war ich jetzt, als dieser berühmte Schriftsteller, der mit so viel Stolz von seinen linken Hausbesetzerjahren erzählte, die Aussage meines Vaters einfach unreflektiert wiederholte. Und wenn ich mich so umschaute, sah ich zwar mehr oder weniger gleich viele männliche und weibliche Studierende. Aber Terézia Mora war weg, und vorne saßen fast immer die Männer. Man muss den drei Herren, die sich die Institutsleitung teilten, zugute halten, dass sie immerhin auch eine Handvoll Autorinnen pro Semester einluden. Ich erlebte starke Frauen wie Sibylle Lewitscharoff, Antje Ravic Strubel oder Carolin Emcke. Das waren Frauen, die entweder selbst tief im männlichen Kanon verwurzelt waren, ihre weibliche Nischenrolle mit gleichgültiger Selbstverständlichkeit hinnahmen oder aber Judith Butler mit uns lasen. In jedem Fall aber machten sie die Minderheit aus.

Und weil diese Minderheit eine historisch begründete ist, gibt es eine sogenannte Frauenliteratur, nicht aber eine Männerliteratur. Ich weiß nicht, wie häufig ich diesem Label in der Vergangenheit schon begegnet bin, dem „weiblichen Schreiben“ oder dem „weiblichen Blick“, in Anthologien, Uniseminaren, Nachschlagewerken, im Rundfunk, in Artikeln. Nie aber habe ich einen Text oder ein Seminar gefunden zum Thema „Männliche Schreibweisen zu Beginn des 20. Jahrhunderts“ oder „Drei männliche Stimmen der Moderne im Vergleich“. Die sogenannte Frauenliteratur ist ein notdürftig zusammengeschustertes Konstrukt, das erschaffen werden musste, weil weibliches Schreiben historisch gesehen lange ein Randprodukt des männlich dominierten Betriebs darstellte. Denn so unterschiedlich diese Frauenliteratur in ihren Ausprägungen auch sein mag, gemeinsam sei ihr, nach der Genderforscherin Renate Kroll, „die frauenspezifische Wahrnehmung in einem von Männern beherrschten Feld …“. Aber ist es denn heute noch zeitgemäß, überhaupt von weiblicher Literatur zu sprechen? Sollten wir sie nicht längst abgeschafft haben?

Die Unterrepräsentanz von Schriftstellerinnen in den Medien zeichnet leider ein anderes Bild. Nur ein Beispiel: Angesichts einer weiteren Autoren-Verfilmung aus dem Dunstkreis der Beat-Generation stellte ein ZEIT-Redakteur eine Liste mit verfilmungswürdigen deutschen Schriftstellerbiographien auf. Die Liste endete weit in den Nuller Jahren, bei Goetz, Kehlmann und Kracht. Eine Frau war nicht dabei. Nicht eine einzige. Obwohl die Leben einer Bachmann oder Haushofer, einer Katja Lange-Müller, einer Kathrin Schmidt und natürlich einer Herta Müller Steilvorlagen böten für dramatische, temperamentvolle, wüste, auch spannende Filme. Der ZEIT-Redakteur schien blind auf einem Auge zu sein. Wir sind also immer noch die Minderheit. Wir, die nicht weißen, die nicht heterosexuellen, die nicht männlichen Autor*innen, wir sind und bleiben Nischenschreiber*innen. Unterrepräsentiert bei den Verlagen, bei den Preisen und in der Presse.

Ich wollte so gerne dazugehören am DLL, zu jenem Dunstkreis der Auserwählten, aber kapieren musste ich es doch irgendwann: Dass mein Geschlecht immer mitgelesen werden würde, genau wie mein Aussehen und meine nicht ganz deutsche Herkunft. Da sitzt man alleine zuhause und schreibt und dann geht man ins Seminar und redet darüber, was man so geschrieben hat. Diese Person da zum Beispiel, die jetzt vor uns sitzt. Vielleicht sind wir ein bisschen neidisch auf sie, vielleicht fühlen wir uns auch überlegen aus irgendeinem Grund, weil wir älter sind, erfahrener, bodenständiger, belesener, attraktiver, männlicher. Und deswegen mögen wir diese Person nicht, auch ihre Texte können wir, um ehrlich zu sein, gar nicht ausstehen. So ganz subjektiv jetzt. Erklären können wir es nicht. Um dazuzugehören, muss man also noch andere Fähigkeiten mitbringen. Gute Texte reichen nicht.

Beispiele gäbe es viele. Mein Augenöffner war ein eher privater, eher ungezwungener Moment, ein bisschen Alkohol war bestimmt auch im Spiel. Wir hatten gerade zusammen in einer anderen Stadt gelesen, ein paar auserwählte Kommiliton*innen und ich, und jetzt saßen wir in der Bar. Ich selbst auf einer Eckbank, eingepfercht zwischen einem mäßig berühmten Schriftsteller, der uns als unser Dozent begleitet hatte, und der Wand. Plötzlich drehte jemand die Musik auf. Meine Kommiliton*innen verschwanden auf der Tanzfläche. Ich blieb mit dem Dozenten alleine am Tisch, obwohl ich eigentlich auch ganz gerne tanzen wollte. Aber der Dozent saß mir im Weg und ich hätte unter dem Tisch durchkrabbeln oder über ihn drüberklettern müssen. Ich wollte ihn gerade bitten aufzustehen, da ergriff er die Gelegenheit und sagte: Sie werden es sicher weit bringen, Frau Kirchenmayer. Oh, sagte ich und vielleicht errötete ich auch ein bisschen, er fand also meine Texte gut, dachte ich und freute mich irgendwie. Aber der Dozent sagte: Ich fand Sie schon immer so exotisch. Ich blinzelte. Mich?, dachte ich. Und dann stellte ich mir vor, wie der Dozent das zu einem meiner männlichen Kommilitonen sagte, Jens Eisel zum Beispiel oder Sascha Kokot, wie er sie anguckte und sagte: Ich fand Sie schon immer so exotisch. Die Vorstellung war so absurd, dass ich hätte lachen können, wenn mir nicht zum Heulen zumute gewesen wäre. Ich hätte ihn fragen sollen, was er damit meinte, meine Haare, meine Hautfarbe, meine Herkunft? Ich fragte ihn nicht, ich nickte nur und lächelte und dann bat ich ihn endlich aufzustehen, um zu den anderen gehen zu können.

Im Nachhinein bin ich froh, dass ich am DLL studieren durfte und den Auserwählten für ein paar Jahre so nahe war, dass ich sie beinahe riechen konnte. Ich habe von meinem Aufenthalt dort profitiert, habe viel gelernt, über das Schreiben und auch über mich selbst. Aber manchmal denke ich trotzdem, dass es vielleicht anders leichter gewesen wäre. Dass ich mir die Haare kurz schneiden, die Brüste abbinden und nur noch Sakkos tragen sollte. Vielleicht sollte ich mir ein männliches Alter-Ego erschaffen so wie damals die Brontё-Schwestern. Die haben es als Männer weit gebracht. Im 19. Jahrhundert.

Ursula Kirchenmayer studierte ab 2010 am Deutschen Literaturinstitut Leipzig, wurde für ihre Kurzgeschichten mehrfach ausgezeichnet und lebt heute als Autorin und Reiseleiterin in Berlin.

 

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