Der blinde Fleck

Ein Gespräch von Paul Brodowsky und Florian Kessler über die Sexismusvorwürfe an deutschsprachigen Schreibschulen und in der Literaturwelt.

Florian: Paul, Du hast im allerersten Jahrgang des Hildesheimer Studiengangs studiert, von 1999 an. Jetzt bricht achtzehn Jahre später ganz plötzlich diese große Debatte los über Sexismus in Schreibschulen – hat Dich das erstaunt oder gewundert?

Paul: Ich glaube, die Zeiten haben sich einfach sehr geändert seit 1999. Es hat in Hildesheim damals schon ein Nachdenken in Sachen Sexismus gegeben – wobei die Vokabel und überhaupt alle -Ismen noch nicht verwendet wurden –, aber dieses Nachdenken war sehr oberflächlich. Es gab sicher so etwas wie einen blinden Fleck, was die eigenen Strukturen anging. Das Ausmaß dieses blinden Flecks ist mir persönlich eigentlich erst vor drei Wochen so richtig klargeworden, als die ersten Texte im Merkurblog erschienen. Das war schon ein kleiner Schock. Etwa bei Alina Herbing , die die Alltagspraxis in einem Seminar beschreibt, das ich selbst gegeben habe. Und in dem Text taucht eine Dozentenfigur auf, die zwar nicht als sexistisch agierend beschrieben wird, die aber trotzdem im Kleinen ungebrochen sexistische Muster und Verhaltensweisen unkommentiert toleriert. Alina und ebenso die anderen Texte von ehemaligen Schreibschülerinnen in dieser Debatte beschreiben letztlich Strukturen, an denen ich Teil hatte. Und von denen ich sicherlich auch nicht wenig profitiert habe. Wenn man sich ankuckt, wer aus unseren Jahrgängen sonst noch viele Gelegenheiten für Karrieren und Erfolgsgeschichten bekommen hat, dann muss man schon sagen: Das waren vor allem Männer bzw. Jungs.

Florian: Das stimmt alles. Ich weiß noch, wie wir das erste Prosanova-Festival organisiert haben oder die Hefte der Bella triste-Literaturzeitschrift konzipierten. Immer gab es dabei die Forderung, dass wir irgendwie auch Frauen reinbekommen müssten, weil es sonst einfach zu dämlich aussähe. Ich erinnere mich an Sätze wie: „Oh Gott wir brauchen für das Podium unbedingt eine Frau, die auch über politische Literatur sprechen kann – außer Kathrin Röggla fällt uns gar niemand ein.“ Es war dabei aber nicht so, dass das – zumindest von mir – als wirklich sinnvoll empfunden wurde, es war eher eine Anforderung der Zeit, der wir eben ohne größeres Interesse Genüge leisteten.

Mir geht es genauso wie Dir: Für mich war es tatsächlich wichtig, die Texte dieser Debatte zu lesen. Dabei sind Erfahrungsberichte ja eigentlich ein wirklich übles Genre, um zu debattieren. Das ist vor allem süßlich und kann sehr manipulativ sein, da jeder das Mittel anwenden kann, wenn gesagt wird: „Aus meiner eigenen Erfahrung heraus werde ich Euch die Welt anders darstellen!“ Im Falle der Sexismusdebatte aber war das wirklich Erschreckende, was du den blinden Fleck nennst: Dass die Texte einen Kosmos beschreiben, den ich sehr gut kannte, den die Leute aber plötzlich alle gemeinsam vollkommen anders erzählen. Und das finde ich tatsächlich sehr sinnvoll. Es ist augenöffnend, dass es zwei so unterschiedliche Sichtweisen auf den Literaturbetrieb geben kann.

Paul: Das Schöne ist, dass diese Texte Aufmerksamkeit schaffen, awareness. Man fängt an, die Welt um sich herum anders anzuschauen, auf andere Gegebenheiten hin. Wenn man etwa auf der Webseite des Instituts für Literarisches Schreiben in Hildesheim die Zahlen sieht: Drei männliche Professoren, drei wissenschaftliche Mitarbeiter, ein Gastprofessor, vier männliche Lehrbeauftragte – und dagegen aktuell nur eine wissenschaftliche Mitarbeiterin und eine weibliche Lehrbeauftragte. Von heute aus betrachtet ist das krass. Das war aber nie anders. Im Vergleich zu anderen Schreibinstituten ist die Männerdominanz im Hildesheimer Biotop sogar sicherlich die krasseste. Am Leipziger Literaturinstitut wiederum gibt es auch drei Professoren und einen männlichen Geschäftsführer, aber unter den weiteren Lehrenden vier Männer und vier Frauen. Das klingt jetzt erstmal etwas besser als in Hildesheim, aber Professor*innen haben ja das größte Lehrdeputat. Das Verhältnis der gegebenen Seminare ist derzeit 17 zu 6, im letzten Wintersemester 18 zu 3, also in Worten: achtzehn Seminare von Männern, drei von Frauen. Und dazu kommt dann, dass diese Seminare von Frauen die Satellitenfächer abdecken, die nicht als Kerngeschäft gelten, also Lyrik, Dramatik oder Drehbuch. Auf Prosa dagegen sitzen relativ breit die Professoren drauf. An der Universität der Künste in Berlin, wo ich Szenisches Schreiben unterrichte, sind die Zahlen auch nicht viel besser – auch da hat es diese Aufmerksamkeit, diese awareness was die Auswahl der Lehrenden angeht, bis vor kurzem nur eingeschränkt gegeben.

Florian: Wenn auf eine solche Art und Weise ausgezählt wird, habe ich immer gemischte Gefühle, dazu muss ich nachher noch etwas sagen. Aber erstmal finde ich das Auszählen natürlich gut, denn da hat man soziale Verhältnisse tatsächlich schwarz auf weiß. Gerade wenn man solche harten Fakten koppelt mit den Erfahrungsberichten, wenn die Frauen im Merkurblog etwa erzählen, dass sie nach Identifikationsfiguren gesucht haben und diese teilweise nicht fanden – dann sieht man eindeutig, dass die Hildesheimer und Leipziger Programme unter anderem auch Programme mit Scheuklappen waren, dass da sehr viele Dozenten mit sehr ähnlichem literarischen Geschmack und sehr ähnlichem Auftreten ein sehr enges Feld beackerten.

Paul: Die nackten Zahlen sind erstmal nur ein ganz ungenaues Raster. Sie sagen für sich genommen fast nichts über die Qualität der Lehre aus. Natürlich können Männer auch beispielsweise gendersensibel unterrichten. Trotzdem würde ich sagen, sie sind eine Schicht des Bildes, eine wesentliche Folie für die Betrachtung des Bildes. Und auf einer zweiten Ebene gibt es diese Erfahrungsberichte, die für sich genommen schnell sehr angreifbar wirken, weil sie sehr persönlich sind, teilweise subjektiv, notgedrungen, und auch die Verletztheit und die berechtigte Wut hier und da aufscheinen. Wenn man diese Berichte und die Zahlen zusammennimmt, also quantitative Analyse und Erfahrungsbericht, und sie gemeinsam wie die Ebenen einer Photoshop-Grafik ein kohärentes Bild ergeben, dann stärken sich beide Ebenen plötzlich gegenseitig.

Florian: Bei der sogenannten Arztsohndebatte vor ein paar Jahren ging es ja auch um soziale Gegebenheiten im Literaturbetrieb, und damals vor allem darum, dass ich während meines Studiums vor allem Klassenunterschiede wahrgenommen habe – oder anders gesagt, dass es sich für erfolgreiche Kunstkarrieren lohnt, „dazuzugehören“ und also über das zu verfügen, was Bourdieu die „feinen Unterschiede“ genannt hat. Damals gab es einen großen Shitstorm, in dem letztlich negiert wurde, dass man sich als Literaturmensch mit solchen sozialen Gegebenheiten beschäftigen müsse. Es wurde einfach gesagt: Nein, nein, das stimmt alles nicht, das war ein regelrechtes Den-blinden-Fleck-erhalten-Wollen. Deswegen finde ich ja auch das Auswerten total richtig und wichtig, nur mit Zahlen kommt man gegen solche Ausblende-Mechanismen an.

Auf der anderen Seite muss ich aber zugeben, dass ich keine große Lust auf eine Kultur habe, bei der Quoten das vordringliche ästhetische Argument sind. Unter anderem ist Ästhetik nämlich doch immer herrlich autoritär, und nicht paritätisch und basisdemokratisch. Egal, ob du selbst einen Text schreibst, oder ob du einen Text auswählst – wie es so viele von uns in der Literaturvermittlung an irgendeiner Stelle machen –, da werden hoffentlich harte, seltsame, ungerechte Setzungen vollzogen, denen dann gerne andere wieder mit ästhetischen Argumenten widersprechen. Als Lektor etwa bin ich dann gut, wenn meine Entscheidungen ein Affront sind und vor allem meinem Geschmacksurteil folgen – ich darf es unter keinen Umständen geschehen lassen, dass ich einfach stillschweigend Quotengedanken etwa der Klasse, des ethnischen Hintergrunds, des Geschlechts folge. Literatur wird dann gut sein, wenn sie sehr, sehr ungerecht ist. Dafür, und also für viel herrlich ungerechte Literatur wäre es allerdings gut, wenn viele verschiedene Leute aus ihren jeweiligen Blickwinkeln selektieren und auswählen, damit möglichst viele unterschiedliche Blickwinkel zustande kommen. Die Frage ist also eine nach den Schaltstellen im Literaturbetrieb, wie ihn ja etwa eine Professur in Hildesheim darstellt: Es braucht möglichst viele unterschiedliche Selektoren.

Paul: Aber das ist doch eine Denkfigur, hinter der wir uns in unserem blinden Fleck in Hildesheim immer ausgeruht haben. Wo wir gesagt haben, eine Quote zu machen, ist natürlich blöd, wir haben halt einfach keine guten Bewerberinnen auf diese Professur. Ich glaube ja, wir kommen aus einer jahrhundertelangen Kultur des homozentrischen Denkens und sind jetzt eine Gesellschaft im Umbruch. Für einen solchen Umbruch braucht man einfach anfangs Extra-Energie, Extra-Aufwand. Unter Umständen muss man eben länger suchen. Und zwar überall, Sexismus ist ja an allen Fronten vorhanden. Es fängt bei der Erziehung unserer Kinder an, bei den Kinderbüchern, Rollenbilder, die man in, sagen wir: Youtube-Videos wiederfinden kann, bis hin zu Strukturen im Studium und Beruf. Wenn man jetzt den Literaturbetrieb nimmt: dieser Blog buecherfrauen.de hat dort großartige Arbeit im Durchzählen geleistet. Nur 23 Prozent aller Jurymitglieder bei wichtigen Preisen in Deutschland sind Frauen, beispielsweise. Bei den konkreten Preisträgerinnen und Preisträgern, beim Büchnerpreis zum Beispiel, ist das Missverhältnis noch eklatanter.

Natürlich gilt für die Besetzung von Stellen an Schreibinstituten ein äußerst anspruchsvolles Anforderungsprofil: Man braucht Leute, die selber literarisch mit Erfolg publiziert haben, die aber auch Lehrerfahrung haben, die über eine gute Didaktik verfügen, und für die Professuren auch noch Kandidatinnen und Kandidaten, die zu allem anderen noch wissenschaftlich forschen und promoviert sind. Da findet man zur Zeit eben noch viermal so viele Männer mit Preisorden auf der Brust als Frauen, was aber eben der beschriebenen Schlagseite bei den Preisvergaben geschuldet ist. Ich glaube ein bisschen Umdenken, ein bisschen Quote sind essentiell – nicht überall, nicht um jeden Preis, die Quote um jeden Preis ist selbstredend ungut, aber doch mindestens im Bewusstsein für die Mängel der gegenwärtigen Situation. Woraus folgt, dass jemand wie ich sich in den Hintern treten muss, sagen muss: Okay ich suche jetzt noch etwas länger, ich schreibe mehr Leute und eben gerade Frauen oder Multiplikatorinnen an, höre mich jenseits der eigenen Netzwerke um.

Florian: Länger suchen, anders suchen, und vor allem ermöglichen, dass auch andere suchen können. Das ist ja gerade spannend an dieser Debatte, dass sie sich an einem total bezeichnenden Ort des engen, hierarchischen, über relativ wenige Schaltstellen Macht verteilenden Literaturbetriebs entzündet, nämlich an einer seiner Schlüsselstellen. Die Lehrstellen für Kreatives Schreiben bringen eben wie bei einer Lawinenkette ganz viele Folgeentscheidungen mit sich, um jede Professur herum gibt es ganze Systeme von möglichen Einflussnahmen und letztlich Machtverteilungen – wie aber natürlich bei meinem und Deinem Job in gewissem Ausmaß auch. Und da ist natürlich wünschenswert, dass die Türwächter nicht nur die Jungs sind, die dann ab und zu gnädig für die Quote eine Frau aufs Podium holen. Deswegen ist das eine wirklich nötige Debatte, auch wenn ich gleichzeitig aus meiner typisch verunsicherten Rolle heraus auch mit einigen Forderungen und Formeln Unbehagen empfinde.

Und ein grundsätzliches Unbehagen ist: Dass jedenfalls dieser Debatte zufolge das linke politische Projekt unserer Generation darin besteht, ständig Ungerechtigkeiten, die einem selbst widerfahren, zu bezeichnen. Das scheint mir absolut bedenklich. Es gab und gibt ja mal ganz andere linke Projekte, habe ich gehört. In Deutschland hätte man zum Beispiel genau jetzt guten Grund, aktiver Antifaschist zu sein. Man hätte Grund, ganz grundsätzlich und empathisch über Ungerechtigkeiten für andere Klassen und für Menschen an anderen Orten des Kapitalismus zu sprechen. Stattdessen haben wir einen Diskurs, in dem wahnsinnig viele Leute vor allem anderen sagen, warum sie selbst eigentlich Opfer sind. Das ist ja auch ein großes Problem dieses Genres der Erfahrungsberichte, die zugleich natürlich unglaublich wichtig und gut sind. Aber womöglich könnte ich selbst in einem Erfahrungsbericht eine Narration meiner selbst und der mich umgebenden Politik konstruieren, in der ich ein Opfer der herrschenden Verhältnisse wäre. Das sind wir eben alle auf äußerst verschiedene Weisen, das nennt man Kapitalismus, aber so etwas berühren Opfer-Debatten in ihrer potentiellen Selbstbezogenheit nicht. Nochmal gesagt: Ich finde die Debatte wichtig und gut, aber will unbedingt kennzeichnen, wo ich ihre Gefahren sehe. Und zu diesen tritt für mich aus meinen Erfahrungen heraus noch hinzu, dass mein größter Verdacht für Hildesheim nach wie vor ist, dass wir dort wie in fast allen Kulturbetrieben wie einen Elefanten im Porzellanladen Klassismus im Raum stehen haben, dass die wichtigste symptomatische Hildesheimer Erfahrung ist, dass Leute gut im System hochkommen die sehr geschmeidig umgehen können mit den derzeitigen Resten unseres Bildungsbürgertums. Da darf die Reflexion unter keinen Umständen stehenbleiben bei der einzigen Kampffrontstellung: Frau oder Mann?

Paul: Das fand ich die Stärke an dem Text von Shida Bayzar [LINK https://www.merkur-zeitschrift.de/2017/07/06/6037/], dass sie genau diesen intersektionalen Blick auf die Phänomene einnimmt. Aber ich verstehe deinen Punkt. Und natürlich könnte man auch sagen, wir brauchen jemanden mit bildungsfernem Elternhaus oder eine Person of Color auf der Hildesheimer Professur. Aber dann geriete man schnell in eine karikaturistische Überfrachtung, wie sie die rechte Argumentation gern aufspießt: ‚Es soll eine Frau sein, und aus bildungsfernem Elternhaus und dann muss sie auch noch eine körperliche Einschränkung haben und so weiter, das ist doch völlig lächerlich!’ Da würde ich dagegenhalten wollen: Man muss eben irgendwo mal anfangen. Man muss halt einen Strang rausziehen, um überhaupt Veränderung zu starten. Und dann gibt es am Deutschen Literaturinstitut und in Hildesheim eben nun einmal dieses eklatante Missverhältnis von 70 oder 80 Prozent weiblichen Studierenden, dem zusammengenommen sechs rein männliche Professoren gegenüberstehen. Da kann ich schon verstehen, dass die Debatte jetzt erstmal diesen Fokus setzt – sie muss ja dabei nicht blind sein für die anderen Problemstellungen.

Florian: Das stimmt. Und es gibt so viele Stellen im Literaturbetrieb, bei denen man auf sehr viele Weisen darüber sprechen könnte, wie dieses System gebaut und strukturiert ist, aber zuerst einmal hat diese Debatte sich jetzt eben an diesem einen krassen Missverhältnis an diesem einen speziellen Ort entfaltet. Schreibschulen eignen sich für einen solchen Anfangspunkt wahrscheinlich besonders, weil Leute sich über paar Jahre hinweg formieren, beisammen sind und so weiter, da bildet sich mehr Schlagkraft. Das wurde ja auch beim großartig gemachten und großartig reflexiven Prosanova-Festival ganz deutlich. Und das finde ich schon elektrisierend. Wir waren damals vor fünfzehn Jahren überhaupt nicht so weit. Wir hatten überhaupt nicht solche Debatten, das war eine sehr, sehr schöne Schneekugelwelt, in der einfach nur über Hochliteratur gesprochen wurde. Und das ist toll, dass da jetzt Fenster hin zur sozialen Wirklichkeit der Verfasser solcher Literatur aufgestoßen werden.

Was ich allerdings seltsam finde: Dass man beobachten kann, dass ganz wenig Männer etwas dazu sagen. Im Merkurblog gab es bis jetzt Martin Spieß, Stefan Mesch und aus Biel Donat Blum, sonst niemanden.

Paul: Auch bei Facebook fand ich das Verhältnis der Interessensbekundungen erstaunlich. Als ich zum Beispiel die dritte Runde der Merkurtexte dort gepostet habe und mir anhand der Likes anschaute, wer mit dem Posting etwas anfangen konnte, war das Verhältnis eins zu drei.

Florian: Denkst Du, diese Scheu der Männer vor der Debatte kommt aus einer Angst vor der vermeintlich logischen Forderung nach Selbstabschaffung heraus? Also bei einigen aus dem Gedanken heraus: Natürlich wäre es besser, wenn Frauen an den Stellen der jeweiligen Männer säßen – wenn an deiner Stelle etwa eine Professorin säße, an meiner eine Lektorin. Wenn eine Schriftstellerin und kein Schrifsteller mehr ein Buch veröffentlicht, wenn ein Programm nicht völlig weiß, männlich, mittelschichtig zentriert ist. Das wäre dieser Angst zufolge die Konsequenz aus der Forderung, den alten Kanon aufzubrechen – aber meiner Meinung nach ist das natürlich eher Angstmacherei, ist das eine beschworene Furcht, die gar nicht so viel mit einer vielfältigeren Realität zu tun haben müsste.

Paul: Ja. Die meisten um uns herum finden die Texte eigentlich gut, aber öffentlich geteilt und gefeiert werden sie vor allem von Frauen. Das ist eine Berührungsangst, eine Identiätsverwirrung, die man beobachten kann. Ich glaube, man muss diese Männerängste in ihrer Dialektik sehen: Es ist ja völlig legitim, dass Leute sich Sorgen um ihre Zukünfte machen oder um ihre Karrieren kämpfen. Das wäre beispielsweise schlecht, wenn ich nicht einmal um eine Professur kandidieren würde, um Frauen zu befördern – nach welchen Kriterien eine Universität, die mehr Frauen beteiligen möchte, die Professur vergibt, ist aber eine andere Frage.

Und daneben geht es natürlich auch um kleinere Fragen, bei denen Männer sich vielleicht in ihrem ganz selbstverständlichen Verhalten hinterfragt sehen. Bei mir geht es etwa viel um das Redeverhalten in Seminaren. Da ist es oft so, dass Männer viel größere Redeanteile haben, dass sie gewohnt sind, sich durchzusetzen. So profilieren sich dort dann einige Studierende, und die werden dann Hiwis und so weiter. Das ist erstmal vielleicht nicht ungerecht – aber das ist genau ein Ort und eine Situation, für die man als Dozierender Sensibilität erlangen muss. Eine von vielen kleinen Stellschrauben. Und diese müssen einem erst bewusst werden – auch dafür ist diese Debatte gut.

Florian: Findest Du in den Texten eigentlich auffällig, dass sehr wenige konkrete Situationen und Ereignisse geschildert wurden – und dass zugleich wenig echte Wut und Anklage herrscht? Sondern dass stattdessen fast alle Beiträge eher abstrakt von genereller struktureller Ungerechtigkeit erzählen? Ist eine solche zivilisierte Form nicht seltsam, spräche polemisch gesprochen dafür, dass es den Leuten gar nicht so schlecht geht?

Paul: Also, das Generelle ist schon das Wesentliche. Und Schreibinstitute sind einfach erstmal gute Orte für Selbstreflexion, wie es sie sonst im Literaturbetrieb kaum gibt, glaube ich. Umso eklatanter sind die blinden Flecken, ist der Umstand, dass da so lange über so viel nicht gesprochen wurde. Und eklatant ist auch das Schweigen nicht nur der Absolventen, sondern auch der Dozenten. Es gab ja bis jetzt kaum ein Statement, kaum eine öffentliche Äußerung, und das Wenige auch erst sehr spät. Man hat das Gefühl: Die Debatte soll ausgesessen werden, sie wird insgesamt eher abgelehnt. Das finde ich erschreckend.

Florian: Das ist jetzt bestimmt auch wieder meine nabelschauende Männersicht, aber in meinen Augen ist es natürlich auch grausam und erschreckend, dass das alles im letzten Jahr der Amtszeit Hanns-Josef Ortheils geschieht. Aus meiner Sicht war er gerade in unseren ersten Jahren in Hildesheim, als er den Studiengang neu und großartig aus der Erde stampfte, ein ungeheuer aufgeschlossener Dozent, der auch immer daran interessiert war, andere Theorieproduktion und Literatur vorkommen zu lassen – aber klar, das mögen meine Erinnerungen sein, denen jemand wie er eben entgegenkam; und andere können die gleichen Jahre völlig anders wahrgenommen haben.

Paul: Zuerst kam die Arztsohndebatte, jetzt die Sexismusdebatte, das sind sicherlich zwei Keulen. Aber man muss dennoch sagen: Das ist ja gerade eine Qualität der Debattenbeiträge im Merkurblog, dass sie gerade nicht persönlich attackieren. Ich denke, es geht gar nicht darum, da ein großartiges Lebenswerk in den Schmutz zu ziehen. Und der Aufbau dieses Studiengangs ist und bleibt für mich ein großartiges Lebenswerk. Ich persönlich habe jedenfalls ungeheuer viel durch Ortheil und durch Hildesheim gelernt – und auch und gerade kritisches Denken und linke Theorie und sogar erste Berührungen mit Gendertheorie. Es geht den Blogbeiträgen aber auch einfach nicht darum, jemanden persönlich zu diskreditieren. Sondern darum, aufmerksam zu machen auf bestimmte privilegierte Positionen, die vorher vielen Beteiligten einfach gar nicht klar waren. Und wenn man nicht auf solche Weise auf Dinge hinweisen und solche Debatten wie die jetzt laufende anstoßen kann, dann navigieren wir eben immer weiter im blinden Fleck herum. Das kann niemand wollen.

Paul Brodowsky studierte von 1999-2005 Kreatives Schreiben in Hildesheim, war dort danach wissenschaftlicher Mitarbeiter und ist heute Professor im Studiengang Szenisches Schreiben an der UdK Berlin.

Florian Kessler studierte von 2001 bis 2007 Kreatives Schreiben in Hildesheim, promovierte danach am dortigen Fachbereich und ist heute Lektor für Sachbuch und deutschsprachige Literatur im Münchner Carl Hanser Verlag.

 

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