Parteiprogramme: Kulturpolitik (Hohe Kultur 8)
Teil 8 der Serie von Merkur-Blog und pop-zeitschrift.de
Vor der Bundestagswahl 2017 liegen natürlich auch die kulturpolitischen Ansichten der Parteien in programmatischer Form vor. Selbst wenn das Parlament kaum über Möglichkeiten einer direkten Einflussaufnahme auf die Errichtung von Museumsbauten, die Einstellung von Intendanten und der Subventionierung konkreter Kunstprojekte verfügt, geben die vor der Wahl beschlossenen Papiere doch einen zuverlässigen Eindruck über allgemeine Prinzipien der Parteien, die dann konkrete Entscheidungen ihrer Bürgermeister, Landesminister, regionaler Fraktionen etc. teilweise anleiten oder mindestens in offiziellen Stellungnahmen zur Legitimation bemüht werden.
Da ständig Entscheidungen für oder wider bestimmte künstlerische Orte, Festivals, Direktoren usf. anstehen und wegen begrenzter Mittel nicht alles zur gleichen Zeit subventioniert werden kann (oder soll), ist es unumgänglich, das eine zu bevorzugen und das andere unberücksichtigt zu lassen. Gründet man diese Auswahl nicht auf den (mehr oder minder zufälligen oder willkürlichen) Geschmack der Entscheidungsberechtigten, ist es naheliegend, sich darauf zu berufen, dass die Auswahl der besseren Kultur entspreche bzw. diese fördere. Wie dies geschieht und begründet wird und ob dabei die ‚hohe Kultur‘ noch von Bedeutung ist, diesen Fragen soll nun nachgegangen werden.
Bundespräsidiale Werte
Bevor ein Blick auf die Programme der höchstwahrscheinlich im nächsten Bundestag vertretenen Parteien geworfen wird, soll zunächst das Kulturverständnis des Bundespräsidenten betrachtet werden. Dieser nimmt in repräsentativen Meinungsumfragen (unabhängig von seiner Person und seiner früheren Parteizugehörigkeit) seit Jahrzehnten fast durchgehend den Spitzenplatz bei den Beliebtheitswerten ein. Das Amt bildet für diese Mehrheit der Deutschen sozusagen die Mitte der Mitte und schwebt noch ein bisschen über ihr als unparteiische Version des Politikers, halbwegs verkörperte Staatsräson und Allgemeinwohlvermutung.
Anlässlich der Eröffnung der Hamburger Elbphilharmonie im Januar 2017 gab der Bundespräsident (in diesem Fall Joachim Gauck) in einer Rede zu Protokoll, was für ein „gewaltiges und schönes Werk“ mit diesem „Amphitheater der Tonkunst“ entstanden sei, um anschließend sanft zu tadeln, es wäre angeraten gewesen, die finanziellen „Risiken“ besser „einzuhegen“. Gleichwohl zeigt er sich unverändert beeindruckt vom „großartigen Ergebnis“ der verschwenderischen Gabe öffentlicher Hand. Der Schluss von teuerstem Bauwerk auf höchsten kulturellen Inhalt drängt sich deshalb auf, nicht aber natürlich dem Festredner. Der Bundespräsident sieht vielmehr eine andere architektonische Konsequenz gegeben:
„Die Elbphilharmonie ist für mich auch ein Bau, der unserer offenen Gesellschaft entspricht. Ihre Architektur führt Unterschiedliches zusammen, ohne es gleichmachen zu wollen. Dafür steht die Plaza als Ort der Begegnung, der für alle zugänglich ist. Dafür steht aber auch dieser Saal, in dem niemand zurückgesetzt wird und dessen ‚Weiße Haut‘ aus lauter Unikaten zusammengefügt ist. Hier rücken wir näher zusammen, fühlen uns geborgen in der Gemeinschaft, ohne uns in der Masse zu verlieren. Hier erleben wir ein Miteinander, ohne unsere Individualität aufgeben zu müssen. So erfahren wir, alle zusammen und jeder für sich allein, die verbindende Kraft der Musik.“
Dennoch sorgt sich der Bundespräsident, dass dieses „wir“, diese „Gemeinschaft“ noch nicht hinreichend verschiedenartig genug zusammengesetzt sei – eigentlich widersinnig, wenn die Elemente dieser „Gemeinschaft“ jeweils „Unikate“ sind. Nun treibt ihn aber um, dass die individuellen Philharmoniebesucher lediglich über eine stark begrenzte Zahl an Gruppenmerkmalen verfügten. Wie er nicht von ‚hoher Kultur‘ spricht, so auch nicht von ‚hohen Schichten‘, dennoch fällt seine Bilanz unmissverständlich aus: „Wir wissen: Das Publikum in den deutschen Konzertsälen ist meist gebildet, gut situiert und oft schon ein wenig älter. Es repräsentiert nur einen kleinen Teil unserer deutschen Gesellschaft.“
Es ist nicht ganz klar, ob Bildung oder Alter die Bedingung des ‚gut Situierten‘ sind, deutlich wird aber, dass Bildung und Vermögen gegenwärtig eng zusammengehören. Deutlich wird auch, dass für den Bundespräsidenten die Befriedigung erst vollkommen wäre, wenn auch „Unikate“, die anderen „Teil[en] der deutschen Gesellschaft“ angehören, in der Elbphilharmonie die „offene Gesellschaft“ bildeten: „Um mehr Vielfalt in die Säle zu holen, muss es deshalb gelingen, auch Menschen zu erreichen, die bislang nicht in Konzerte gehen. Und es muss gelingen, junge Menschen für klassische Musik zu begeistern.“
Das Gegenteil des „oft schon ein wenig ältere[en]“ deutschen Konzertsaalpublikums wird extra angesprochen („junge Menschen“), die beiden anderen Gruppen sind schon zu vulgär, um in Umkehrung der zuvor benannten ‚Gesellschafts-Sektoren‘ („gebildet, gut situiert“) ausdrücklich benannt zu werden: ‚Es muss gelingen, ungebildete, schlecht situierte Menschen für klassische Musik zu begeistern.‘ Nein, das klänge nicht gut.
Trotz dieser Vermeidungsstrategie muss aber festgehalten werden, dass immerhin vom Bundespräsidenten die Korrelation zuvor akzentuiert und nicht nur gefeiert wurde: „Klassische Musik“ sei überwiegend die Domäne der Gebildeten und Wohlhabenden. Wieso das so ist, wird allerdings nicht ergründet; ein kausaler Zusammenhang scheint nicht zu bestehen, sonst könnte ja nicht sofort anschließend dazu aufgerufen werden, diesen Zustand zu überwinden.
Die ‚Grundlosigkeit‘ zeigt sich zudem in Gestalt des Dezisionismus („es muss gelingen“), offenbar kann für den höchsten deutschen Amtsträger die ‚Begeisterung‘ für das ‚Klassische‘ auch ohne Änderung der sozialen Ordnung und des Bildungsniveaus entstehen. Näher erläutert wird nur, weshalb diese radikale Änderung eintreten soll:
„Das ist ein Gebot der Gerechtigkeit, weil neue Konzertsäle ja nicht nur dadurch entstanden sind, dass es Sponsoren und großherzige Mäzene gibt, sondern da gibt es auch noch die öffentliche Hand mit dem Steuerzahler, und da ist auch einiges verbaut worden, wie hier in Hamburg jeder weiß. Darüber hinaus könnte man es als ein Gebot der Zukunft ansehen, den Wert der klassischen Musik auch dadurch zu bewahren, dass wir neue Menschengruppen, neue Teile der Bevölkerung einladen, hier heimisch zu werden.“
Wieso es gerecht sein soll, dass alle „Steuerzahler“, auch die aus den Gruppen mit niedrigeren Einkommen, in der Elbphilharmonie tatsächlich in repräsentativer Stärke im Publikum vorhanden sind, bleibt zwar in einer Hinsicht unklar – niemand wird ja daran gehindert, sich eine hoch subventionierte Karte zu kaufen –, dafür wird aber in anderer Hinsicht überaus deutlich, weshalb dies geschehen sollte: Der Grund liegt im „Wert der klassischen Musik“. Dieser Wert ist offenbar so hoch, dass es sehr wichtig wäre, wenn alle ihn bestätigten und seiner im Konzert teilhaftig würden.
Wieso dieser Wert so immens hoch ausfällt, bleibt wiederum unerklärt, ob es wertlosere Musik gibt, ebenfalls. Dies ist angesichts des Preises des Bauwerks, in dem diese Musik mit „wunderbarem Klang“ (Gauck) ertönt, bemerkenswert. Nicht nur (oder unbedingt), weil der hohe ökonomische Wert seine Entsprechung in einem maximalen kulturellen Wert sucht (suchen müsste), sondern weil ohne die Abstufung zwischen hoher (‚hochwertiger‘) und niedriger (gar ‚wertloser‘) Kultur die Möglichkeit verbleibt, dass in billigeren Bauten unweit der Elbphilharmonie, die nicht einmal staatlich gefördert worden sind, kulturelle Werke von gleichem Rang erfahren werden könnten. Solange nicht begründet wird, weshalb das eine dem anderen an Wert und damit Förderungswürdigkeit überlegen ist, bleibt die unterschiedliche staatliche Subventionierungspraxis willkürlich.
Wahlprogramme zur Kunst- und Kulturförderung
In fast allen Parteiprogrammen wird dieses Problem gelöst, indem nicht nur auf die ‚Vielfalt des Publikums‘ (welche durch Spielstätten an vielen Orten [nicht nur in ‚Metropolen‘] und subventionierte, für viele erschwingliche Eintrittskarten staatlich gefördert werden soll) gedrungen wird, sondern auch auf die ‚Vielfalt des Angebots‘. Sie soll durch staatliche Gelder hergestellt werden. Der Willkür soll also dadurch begegnet werden, dass sie nicht nur ein oder zwei Angebote betrifft. Damit wird sie nicht beseitigt, aber immerhin weniger spürbar.
Unter dem Stichwort der „offenen Kultur“ tritt die SPD bei der „Kulturförderung“ sogar an einer Stelle für eine totale Unterschiedslosigkeit ein. Ausgerechnet die männlich-konservative, jeder Extravaganz abgeneigte Partei Gerhard Schröders und Martin Schulzʼ gönnt sich auf dem Feld der Kultur eine Annäherung an eine früher unter linksalternativen Akademikern beliebte Grenzüberschreitungsformel: „Die noch immer gebräuchliche Unterscheidung zwischen Hoch- und Subkultur ist für uns veraltet und irreführend. Für uns gibt es nur Kultur!“ Hier ist auch schön zu sehen, dass selbst bei der Absage an den Vorrang oder auch nur an die Bestimmungsmöglichkeit ‚hoher Kultur‘ die ‚niedere Kultur‘ ungenannt bleibt; eingeschlossen in die ‚eine Kultur‘ wird die besser klingende „Subkultur“ (dazu Teil 2 dieser Reihe).
Davor heißt es konkreter: „Die Ausdrucksformen sind vielfältig – wie unser Kulturverständnis. Klassische Orchester gehören dazu, genauso wie Laienchöre, Rock- und Popmusik, die elektronische Musik, Museen, soziokulturelle Zentren, Theater, Kinos und Literatur und die Spielebranche.“ Die Aufzählung soll hier vielleicht andeuten, dass noch mehr „Ausdrucksformen“ der „Kultur“ genannt werden könnten. Andererseits steht kein ‚etc.‘ dahinter, also zählen zur ‚Vielfältigkeit‘ eventuell nur genau die genannten Bereiche von Orchester bis Spielebranche. Dies wäre dann doch eine recht enge Auffassung von Kultur. So oder so besitzt die Aufzählung den unschätzbaren Vorteil, dass dabei nicht angegeben werden muss, was nicht zur „Kultur“ und ihren „Ausdrucksformen“ zählt.
Die Partei Die Linke hat eine ähnliche ‚Vielfalts‘-Aufzählung im Programm: „Wir wollen gute Rahmenbedingungen für Archive, Bibliotheken, Kinos, Museen, Musik- und andere Kunstschulen, Opernhäuser, Orchester, soziokulturelle Zentren, Theater, Tanz, Volkshochschulen und die vielfältigen Vereine schaffen. Kultureinrichtungen, freie Szene und die vielfältigen Akteure kultureller Bildung in den Metropolen wie in den ländlichen Räumen brauchen eine sichere finanzielle und personelle Basis und längerfristige Planungsmöglichkeiten.“ Die Ausweitung öffentlicher Förderung ist für die Partei auch deshalb wichtig, weil sie annimmt, dass „kommerzielle Angebote […] nicht für alle Menschen zugänglich und häufig nicht demokratisch gestaltet“ seien.
Bündnis 90/Die Grünen tritt für „Freiräume jenseits einer reinen Ökonomisierung von Kulturproduktion und -vermarktung“ ein. Die Liste der Förderobjekte geht „vom Filmstudio über das Stadttheater bis zur freien Szene.“
Bei der FDP heißt es ohne Nennung besonderer Förderungsabsichten und unter Angabe der Funktion der Kultur fürs nationale Marketing: „Das vielfältige und offene Kulturleben in Deutschland ist ein besonderes Aushängeschild der Bundesrepublik.“
Die CDU/CSU setzt ähnlich an, engt die obligatorische ‚Vielfalt‘ aber erst stärker auf „unser reiches kulturelles ‚Erbe‘“ ein. Am Ende dann aber doch die Revision bzw. Erweiterung: „Die Kulturnation Deutschland lebt von ihrem großartigen Erbe und von den beeindruckenden Leistungen zeitgenössischer Kunst und Kultur. Beides gilt es auch weiterhin zu schützen und zu stärken.“ [Da es von der CSU zusätzlich ein eigenes Wahlprogramm gibt, wird im Folgenden das Wahlprogramm der CDU/CSU abgekürzt unter ‚CDU‘ geführt, der gesonderte Plan der CSU eben unter ‚CSU‘.]
Die CSU macht außerhalb des gemeinsamen Wahlprogramms mit der CDU keine näheren Angaben, operiert aber innerhalb ihres äußerst knappen Pflichtprogramms zur Kulturpolitik mit ‚erlesenen‘ Metaphern: „Wir fördern Leuchtturmprojekte als kulturelle Glanzlichter und mit Weltgeltung genauso wie regionale Kostbarkeiten in den ländlichen Regionen.“
Die AfD hingegen setzt scheinbar einen Kontrapunkt, indem sie auf die Bekanntgabe von Förderabsichten ausdrücklich verzichtet, weil sie die Kultur von der aus ihrer Sicht staatlich verordneten ‚Einfalt‘ befreien möchte: „Nirgendwo ist die ideologische Beeinflussung seitens des Staates so stark wie in der Kulturpolitik. Die AfD will die Kulturpolitik an fachlichen Qualitätskriterien und ökonomischer Vernunft anstatt an politischen Vorgaben ausrichten. Dementsprechend müssen der Einfluss der Parteien auf das Kulturleben zurückgedrängt, gemeinnützige private Kulturstiftungen und bürgerliche Kulturinitiativen gestärkt werden.“ Hier sind wir an einem interessanten Punkt angelangt, leider gibt die AfD aber in ihrem Programm nicht bekannt, was sie unter „fachlichen Qualitätskriterien“ versteht. Und aus dem nächsten Absatz geht hervor, dass von der AfD keineswegs an eine Aufgabe kulturpolitischer Maßnahmen gedacht ist, sondern bloß der seit langem bestehende, unangefochtene kulturpolitische Vorrang der Länder unterstützt wird (sicher auch im Sinne ‚regionaler Kostbarkeiten‘). Mit der CDU weiß sie sich zudem bei der „Erbe“-Rhetorik einig: „Die AfD bekennt sich zur Kulturhoheit der Bundesländer. Kulturelle Förderprogramme des Bundes und der EU, die an ideologische Zielvorgaben gekoppelt sind, wollen wir durch Förderlinien ersetzen, die der Bewahrung des kulturellen Erbes oder dessen würdiger Fortschreibung dienen.“
Kriterien der Kulturpolitik
Von ‚hoher Kultur‘ ist also bei keiner der Parteien, die wahrscheinlich in den nächsten Bundestag einziehen, die Rede. Das weitgehende Bekenntnis zur ‚Vielfalt‘ (CDU, SPD, Grüne, Linke) lässt keinen Zweifel daran, dass einer früheren, bildungsbürgerlichen Auffassung ‚hoher Kultur‘ insofern abgesagt wird, als andere künstlerische Projekte ihr gleichrangig zur Seite gestellt werden.
Keine Aussage ist dadurch aber über ‚hohe Kultur‘ im Sinne einer Metapher, die Höherwertigkeit anzeigt, getroffen. Dieser Verzicht versteht sich nicht von selbst, schließlich muss bei der jeweiligen Förderung innerhalb verschiedener Bereiche und Sparten (seien es Orchester oder soziokulturelle Zentren, regionale Kostbarkeiten oder Filmstudios) entschieden werden, was davon förderungswürdig ist (das eine Orchester oder das andere, etc.). Die Annahme liegt nahe, dass in den Augen der Akteure jeweils der vermeintlich bessere, ‚höhere‘ Kulturgegenstand oder -prozess gefördert wird und nicht der vermutlich schlechtere.
Künstlerische und/oder ästhetische Prinzipien für diese Auswahl werden von den Parteien aber nicht angegeben (nur SPD und AfD fassen den Punkt ins Auge, konkretisieren die von ihnen favorisierten „fachlichen Qualitätskriterien“ [AfD] sowie „Expertenjurys“ [SPD] jedoch nicht). Die Auswahlkriterien verbleiben im Dunkeln (das wäre die eine Deutungsmöglichkeit), oder (einzig verbleibende alternative Annahme) die Auswahl unterliegt Zufall und Willkür.
Heteronome Prinzipien kommen jedoch nicht selten sehr deutlich zur Sprache; zwar findet man in allen Wahlprogrammen (mit Ausnahme des Papiers der CSU) explizit oder implizit ein grundsätzliches Bekenntnis zur Freiheit der Kunst (bei der SPD auch zur Verwendung autonomer Kriterien: „Wir wollen Kunst um ihrer selbst willen fördern und nicht erst dann, wenn sie ökonomischen, sozialen oder politischen Zwecken nützt. Bei Projektförderungen soll stärker auf Expertenjurys zurückgegriffen werden“), doch schließt das offenkundig die Etablierung anderer Maßstäbe nicht aus. In den Parteiprogrammen stehen zahlreiche, teils sehr unterschiedliche Aussagen, woran der Wert kultureller Phänomene in (aufmerksamkeits-)ökonomischer, politischer, moralischer und (entwicklungs-)psychologischer Hinsicht zu messen sei.
Diese Punkte seien nun kurz genannt, ich verzichte dabei auf Paraphrasen. Zum einen, um die Begriffe oder den Jargon zu erhalten, zum anderen, weil sich die Wiedergabe unproblematisch in rascher, abgekürzter Form durchführen lässt. Vieles muss in den Programmen unter dem Oberbegriff ‚Kultur‘ abgehandelt werden, Kunst, Sitten, Werte, Vergangenheitsbewältigung, Sozialversicherung, Nationales, Eigentumsrecht, Feuilletonistisches, Rezeption, Organisationen, Produktion, politische Abgrenzungen zu anderen Parteien, Vorlieben des Ausschussvorsitzenden oder wichtiger Landesverbände, da bleibt kein Platz oder nicht einmal die Möglichkeit, Übergänge zu bilden. Die Programme erläutern oder begründen kaum, sie verlieren keine Zeit mit der Abschätzung von Folgen oder der Diskussion möglicher Alternativen. Feststellungen, Wünsche, Forderungen, Hoffnungen, Mittel und Ziele sind nicht immer unterscheidbar in der Abfolge der Programmpunkte:
1. Ökonomische Kriterien: Gefördert werden solle im Bereich der Kunst und Kultur das „ökonomisch Vernünftige“ (AfD), die „ökonomische Kraftquelle“ (CSU); der „Standortfaktor“ sei nicht ganz zu vernachlässigen (CDU); „gute, existenzsichernde Arbeit, ein neues Normalarbeitsverhältnis und soziale Sicherung im Kulturbereich“ (Die Linke); „stabile soziale Absicherung und verbesserte Verdienstmöglichkeiten durch Mindestlöhne und Honoraruntergrenzen“ (Bündnis 90/Die Grünen); „Künstlerinnen und Künstler […] sozial besser absichern“ (SPD).
2. Kriterien erfolgreicher nationaler oder regionaler Sichtbarkeit: „Aushängeschild der Bundesrepublik“, „Repräsentationsfunktionen“ (FDP), „Leuchtturmprojekte“ (CSU); indirekt auch die CDU: „Deutschland ist das Land mit der höchsten Dichte an Theatern, Opern, Orchestern, Museen, Literaturhäusern und Festivals weltweit. Nirgendwo werden mehr Bücher geschrieben und gelesen als bei uns.“
3. Politische Kriterien. Hier gibt es nur zwei Parteien, die wenige Maßstäbe ins Feld führen. Zum einen die CDU: Neben „gesellschaftlicher Integration“ (an anderer Stelle: „das Entstehen von Parallelgesellschaften und von Multi-Kulti verhindern“) ist bei ihr nur von einer „Kultur der Verständigung in einer vielfältigen Gesellschaft“ sowie der „Erinnerung an die Folgen von Gewaltherrschaft und Diktatur“ lobend die Rede. Allerdings weisen einige Aussagen in eine gemäßigt nationalkulturelle Richtung: Was hier von der CDU als empirische Bilanz formuliert wird, besitzt wohl auch einen normativen Zug („Kunst und Kultur sind Grundpfeiler unseres Zusammenlebens“; „Vor allem aber ist Kultur Brückenbauerin und Türöffnerin, Spiegel unseres Selbstverständnisses“; „Die deutsche Sprache ist ein besonders wichtiger Teil unserer Identität und Leitkultur“; „Wir haben unsere kulturellen Wurzeln bewahrt“. [Welche „Wurzeln“ das sind, wird freilich nicht näher ausgeführt; und nach dem Plädoyer für die deutsche Sprache heißt es sogleich: „Weil wir ein weltoffenes Land mit starker internationaler Verflechtung sind, wollen wir umgekehrt auch das Erlernen von Fremdsprachen stärker unterstützen.“]).
Deshalb bleibt am Ende nur die FDP übrig; sie listet tatsächlich kaum Normatives oder Anspruchsvolles auf. Außer dem allgemeinen Hinweis auf die „gesellschaftliche Relevanz“ der Kultur, auf ihre besondere Bedeutung für die „Außenpolitik“ (Förderung des „internationalen Dialogs“; „Repräsentationsfunktionen“) sowie der befürworteten Unterstützung von Gedenkstätten zur „Aufarbeitung und Vermittlung der beiden deutschen Diktaturen“ sind im Wahlprogramm der FDP keine Anforderungen an die Kunst- und Kultursphäre zu verzeichnen (wohl auch, weil sie sich gegenwärtig für dieses Feld kaum interessiert).
Anders sieht es bei den übrigen Parteien aus: Die Linke wähnt sich mit der Kultur im Bunde oder verlangt von ihr in Zukunft: „Demokratie“, „antifaschistische Kultur“, „Gendergerechtigkeit“, „kritische Auseinandersetzung mit der Geschichte Deutschlands im 19. und 20. Jahrhundert“, „kritischer Umgang mit der kolonialen Vergangenheit“, „Stärkung des Öffentlichen“, „Verständigung zwischen den verschiedenen Gruppen der Gesellschaft“, „Dialog und transkultureller Austausch“, „demokratische Kultur“, „in der alle in Deutschland Lebenden, unabhängig von ihrer Herkunft, ihre kulturelle Identität finden und ausdrücken können“; „lebendige Erinnerungskulturen fördern, die an den Realitäten der Einwanderungsgesellschaft orientiert sind“.
AfD: „Die AfD bekennt sich zur deutschen Leitkultur. Diese fußt auf den Werten des Christentums, der Antike, des Humanismus und der Aufklärung. Sie umfasst neben der deutschen Sprache auch unsere Bräuche und Traditionen, Geistes- und Kulturgeschichte“; „‚Multi-Kultur‘ ist Nicht-Kultur oder Parallelität von Kulturen und damit Ausdruck von Parallelgesellschaften, die stets zu innenpolitischen Konflikten und zur Funktionsunfähigkeit von Staaten führen“; „unser liberaler Rechtsstaat, unsere Wertschätzung von Bildung, Kunst und Wissenschaft und der sozialen Marktwirtschaft als Ausdruck menschlicher Kreativität“; „die aktuelle Verengung der deutschen Erinnerungskultur auf die Zeit des Nationalsozialismus ist zugunsten einer erweiterten Geschichtsbetrachtung aufzubrechen, die auch die positiv identitätsstiftenden Aspekte deutscher Geschichte mit umfasst“; gegen „‚politisch-korrekte‘ Kunst und Kultur“.
CSU: „In Deutschland gilt unsere Leitkultur“; „Leitkultur umfasst die bei uns geltende Werteordnung christlicher Prägung, unsere Sitten und Traditionen sowie die Grundregeln unseres Zusammenlebens. Leitkultur ist das Gegenteil von Multikulti und Beliebigkeit“; „Kunst und Kultur sind […] gesellschaftliches Bindeglied“; „zum Grundkonsens unseres Zusammenlebens gehört die klare Absage an Rassismus und Antisemitismus in jeglicher Form“; „wir werden die Landsmannschaften, unsere deutschen Heimatvertriebenen und Aussiedler, weiterhin dabei unterstützen, ihr vielfältiges kulturelles und geistiges Erbe zu bewahren sowie ihr Brauchtum lebendig zu halten.“
SPD: „Gedenken an die beiden deutschen Diktaturen“; „Erinnerung an den systematischen Völkermord an den europäischen Juden“; „Wir wollen unser kulturelles Erbe bewahren und erlebbar machen“; „Dialog“, „offene und moderne Gesellschaft“; „migrantische Communities haben einen positiven kulturellen Einfluss“; „Vielfalt gehört zum Einwanderungsland Deutschland“; „die Entscheidung, was und wie gefördert wird, muss auch nach Geschlechtergerechtigkeit, Inklusion, Nachhaltigkeit, Integration und Aspekten kultureller Bildung getroffen werden“.
Bündnis 90/Die Grünen: „lebendige Demokratie“; „offene Gesellschaft“; „Kunst ist oft provozierend, hält der Gesellschaft den Spiegel vor“; „Dialog“; „lebendiger Austausch der Kulturen“; „in der Kultur darf es keine Grenzen geben, die im Namen einer angeblichen „kulturellen Identität“ darüber bestimmen, wer dazugehört und wer nicht“; „Förderung der Geschlechtergerechtigkeit im Kultur- und im Medienbereich“.
4. Moralische Kriterien: „beiderseitiger Nutzen“ von „Urheber*innen und Verwerter*innen“ (Bündnis 90/Die Grünen); „Humanität“ (CDU). Die Forderungen nach (mehr) Gerechtigkeit oder einer stärkeren Berücksichtigung christlicher Werte sind schon unter dem dritten Punkt („Politische Kriterien“) verbucht worden, sie hätten aber ebenfalls hier stehen können.
5. Persönlichkeitsentwicklung: „Kreativität und Schaffenskraft“ (AfD), „individuelle Persönlichkeitsentfaltung“ (CDU), „Selbstvergewisserung“, „Fantasie und Kreativität“ (Die Linke), „lebenslange Teilhabe“, „Identitätsbildung“ (SPD).
Schluss: Programmatische Widersprüche
Auch diese Musterung der Parteiprogramme zeigt, in welch starkem Maße der Anspruch der ‚hohen Kultur‘ sogar aus dem Arsenal der sich selbst mitunter noch gerne als ‚bürgerlich‘ bezeichnenden Parteien getilgt worden ist. Die FDP verzichtet zwar auf größere sozialpolitische Ansprüche an Kultur und Kunst, trotzdem sind auch bei ihr insgesamt kaum Verbindungen zur bürgerlichen Tradition zu erkennen. Bei der heutigen FDP gehen selbst Bildung und ‚hohe Kultur‘ überhaupt nicht mehr zusammen. Obwohl Bildung im Mittelpunkt des Wahlprogramms steht, sucht man vergeblich nach humanistischen Prinzipien, dem klassischen Kanon und einem traditionellen Plädoyer für die zweckentbundene Entfaltung und Kultivierung der Persönlichkeit (in einer Schwundstufe davon wird Bildung als „Ressource“ bestimmt, die den Menschen befähige, auch in einer „komplexen Umwelt selbstbestimmt“ seinen „Weg zu gehen“).
Das Ziel „weltbester Bildung“ (so heißt es tatsächlich) tritt bei der FDP stattdessen nur indirekt hervor, indem Verbesserungen der Lehrkörper und -mittel (mehr und besser bezahlte, praxisnäher geschulte Lehrer, Modernisierung und Digitalisierung der Schulen) sowie der Wettbewerb unter staatlichen und ‚freien‘ Schulen gefordert werden. Das Ergebnis sollen viele Fachkräfte sein, die durch die „weltbeste Bildung“ (das Wort kommt oft vor im Programm) eine Chance zum „sozialen Aufstieg“ besitzen.
Bei der CDU ist eine bildungsbürgerliche Haltung ebenfalls nicht mehr wirksam; die Rhetorik des „großartigen Erbes“ stellt nur noch eine nostalgische Reminiszenz an sie dar. Ähnliches gilt wahrscheinlich für die Partei Die Linke, wenn sie sich gegen die „kommerzielle“ Kultur ausspricht; hier sind eventuell noch letzte Verbindungen zum realsozialistischen Versuch zu finden, das Erbe der bürgerlich-aufklärerischen Kultur für sich zu reklamieren. In diese Richtung geht auch die AfD mit ihrer Additionsformel „Werte des Christentums, der Antike, des Humanismus und der Aufklärung“, Werte, von denen die Partei offenkundig, aber aus unbekannten Gründen glaubt, dass sie mit ihrem Kulturnationalismus vollständig vereinbar seien. Ihre weitere Ausrichtung der Kulturpolitik an „fachlichen Qualitätskriterien“ und „ökonomischer Vernunft“ hat allerdings mit einer bildungsbürgerlichen Auffassung ‚hoher Kultur‘ rein gar nichts mehr zu tun.
Es bleibt deshalb bei der allgemein metaphorischen Dimension der ‚hohen Kultur‘, die für die Parteiprogramme von größerer Bedeutung sein könnte. Wie gesehen vermeiden aber fast alle Parteien auch diese traditionelle Attitüde des ‚Hohen‘, indem sie sich für die ‚Vielfalt‘ einsetzen, am eindringlichsten die SPD, die ausruft: „Für uns gibt es nur Kultur“ – und damit die „Unterscheidung zwischen Hoch- und Subkultur“ verwirft. Soll heißen: Alles im Bereich der Kultur ist (gleich) gut, auch jene früher als ‚niedrig‘ abgewertete Kultur ist (genauso) ‚hochwertig‘ (wie alles andere Kulturelle) und folglich förderungswürdig.
Mit dieser Maxime handeln sich aber viele Parteien (die FDP, wie gerade gezeigt, weitgehend ausgenommen), eine Schwierigkeit ein: Da sie ungeachtet ihrer Auffassung von der Gleichwertigkeit unterschiedlichster Kunstwerke doch spezielle Dinge und Bereiche gezielt (nicht etwa zufällig) fördern wollen, befinden sie sich im Widerspruch zu ihrem eigenen Leitgedanken – denn es gibt ja unter dem Zeichen kultureller Gleichwertigkeit keinen Grund mehr, etwas zu bevorzugen, weil es besser ist, und anderes zu benachteiligen oder zu ignorieren (also nicht zu fördern), weil es schlechter ist (dazu Teil 7 dieser Reihe).
Nicht einmal über den Zuschnitt der kulturellen Sphären kann das Problem gelöst werden. Da die künstlerische Freiheit emphatisch postuliert wird, fällt es zumindest im Bereich der Kunst schwer (bzw. soll ausdrücklich vermieden werden), etwas als unkünstlerisch auszugrenzen und damit von der Förderung auszunehmen, ohne es als schlechte Kunst abzuwerten. Wenn Dada, Performances, Grindcore, Daily Soaps, Instagramfotos, aleatorische Musik, Filmkomödien, blasphemische Satire, Autofiktion, Boygroups etc. auch zur Kunst zählen, müssten sie grundsätzlich genauso gefördert werden wie Stadtschreiber, Symphonieorchester, Strindberg-Aufführungen, Rubens-Ausstellungen, documenta-Installationen usf.
Mit solcher Unterschiedslosigkeit und Freiheit verträgt sich aber der für die jeweilige Kulturpolitik benannte Vorrang des ‚kulturellen Erbes‘, der ‚Leuchtturmprojekte‘, der ‚Identitätsbildung‘, des ‚Dialogs‘, der ‚Geschlechtergerechtigkeit‘, der ‚Nachhaltigkeit‘ etc. pp. überhaupt nicht. Da es nun einmal futuristische, marginale, auflösende, egomane, solipsistische, chauvinistische, modische Kunst gibt (wenn man den proklamierten weiten Kunstbegriff auch nur einigermaßen beherzigt), kollidiert die bevorzugte oder ausschließliche Förderung anderer, gegenteiliger Kunst mit dem eigens bemühten Freiheitsbegriff.
Dem Postulat gleichen Werts widerspricht sie ohnehin, hier dürfte man ohne eine Wertsetzung und anschließende Begründung, warum man etwas bevorzugt, deshalb keineswegs auskommen. Dies gilt umso mehr, als es keine Schwierigkeit bereitet, die genannten Erbe-feindlichen, Identitäts-auflösenden, an Geschlechtergerechtigkeit desinteressierten etc. Kunstformen auch kulturell zu unterlegen. Sind mit ‚Kunst‘ künstlerische Werke und Prozesse gemeint und mit ‚Kultur‘ eine spezifische Art zu leben (die Gesten, Sitten, Trachten, Verständigungsweisen umfasst), dann lassen sich zu den genannten Kunstformen leicht entsprechende Kreise, Szenen und (Sub-)Kulturen finden, für die die genannten Werke einen Teil ihrer (alltäglichen) Kultur darstellen.
Der Widerspruch von Freiheit auf der einen und den Förderungskriterien und -zielen auf der anderen Seite bleibt demgemäß auch bestehen, wenn man über die ‚Kultur‘ und nicht nur über die ‚Kunst‘ redet. Dies trifft in gesteigerter Weise zu, wenn (wie vor allem bei SPD, Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke) die Wertgleichheit unterschiedlicher Kulturen betont wird. Angesichts der postulierten Freiheit der Kunst kann man immerhin noch das Argument ausprobieren, durch die kulturpolitische Förderung nur spezieller Kunst beschneide man nicht die Freiheit der anderen, nicht geförderten Kunst – postuliert man aber prinzipiell die kulturelle und künstlerische Wertgleichheit, dann verfügt man grundsätzlich über kein Argument mehr, bestimmte Förderungen qualitativ zu begründen
Diesen Widerspruch kann man versuchen aufzulösen, indem man das, was man speziell fördern möchte, zum Desiderat erklärt: Im Reigen der Vielfalt fehlt bisher noch x, mit der Förderung von x käme dies hinzu, dann wäre die Vielfalt noch vielfältiger. X wäre dadurch nicht zu etwas Besserem als y erklärt worden – alle Kulturen sind in den Augen dieser Kulturpolitiker weiterhin gleichwertig –, es gälte nur die Auffassung, dass größere Vielfalt besser sei als geringere Vielfalt. Dadurch kommt aber das zuvor beschriebene Problem der Wertgleichheit nur auf anderer Stufe zum Tragen: Wegen der Devise der Vielfältigkeitssteigerung hätte man kein Argument mehr parat, weshalb man irgendwann nicht auch z.B. den Proletkult oder die Macho-Kultur fördern müsste.
Keines dieser argumentativen Probleme haben CSU und AfD. (Die CDU versucht fast alle Schwierigkeiten zu umgehen, indem sie einerseits die nationale Leitkultur an die oberste Wertstelle setzt, andererseits aber diese Kultur kaum bestimmt; argumentativ ist das also wenig ernst zu nehmen.) Mit ihrer klaren Eingrenzung der nationalen Kultur und ihrer Verpflichtung der Kulturpolitik auf die Förderung dieser Nationalkultur entgehen CSU und vor allem AfD den Widersprüchen der anderen Parteien. Ihr Problem liegt woanders: Sie müssten darlegen, weshalb spezifische Gebräuche, Kunstformen, Ideen etc. deutsch sind und all die anderen, die ebenfalls auf deutschem Boden (unabhängig sogar von der Frage, wann und in welchen Grenzen man ‚Deutschland‘ beginnen lässt und verortet) bei deutschen Bürgern nachzuweisen sind, nicht. Sie bemühen sich aber nicht einmal, das zu tun, darum bleibt ihr Ansatz hochgradig widersprüchlich und ohne jede argumentative Substanz.
Im Lichte dieser Widersprüche und argumentativen Defizite tritt der Vorzug des bundespräsidialen Ansatzes klar hervor. Zumindest in der Rede zur Eröffnung der Elbphilharmonie trifft man auf eine deutliche Wertsetzung – der hohe „Wert der klassischen Musik“ –, die nicht sofort dadurch abgemildert wird, dass auf die ähnlichen oder identischen Vorzüge anderer Künste und/oder Kulturen verwiesen wird.
Allerdings wird in der Rede nicht erläutert, worin dieser besondere Wert besteht, das verleiht der Aussage den Makel des Dezisionismus. Andererseits erklärt der Bundespräsident die klassische Musik nicht zur spezifisch oder essentiell deutschen Musik, das befreit die Aussage zumindest von der Last des nationalkulturellen Dezisionismus.
Der Wert klassischer Musik legitimiert hier nicht nur den Bau des teuren Veranstaltungsortes, er stiftet auch das kulturpolitische Programm des Bundespräsidenten, das über den Ort der Elbphilharmonie hinausweist: Es besteht in dem Auftrag, mehr Menschen, zumal jüngere, nicht „gut situierte“ und nicht „gebildete“ Menschen für die klassische Musik zu gewinnen. Die ‚hohe Kultur‘ soll also nicht das Eigentum der ‚hohen‘ – gemessen an Einkommen, Vermögen und Bildungsgrad – Schichten bleiben.
Der Bundespräsident hält es demnach wohl für möglich, dass diese ‚hohen Schichten‘ ohne die Legitimation der für sie bislang exklusiven ‚hohen Kultur‘ weiter ihre Vorrangstellung bewahren können – und er nimmt zugleich zweifelsfrei an, dass die ‚niederen Schichten‘ bei guter „Vermittlung“ und angesichts des schon existierenden „beeindruckenden Konzertprogramms“ ihre Liebe zur klassischen Musik (bald) entdecken würden.
Viele der Parteien sehen das offenbar genauso (die AfD äußert sich nicht dazu). Sie betonen, wie wichtig ihre politischen Projekte und Förderungsmaßnahmen seien, um Kunst und Kultur allgemein zu befördern. Die Linke setzt sich für einen „gleichberechtigten Zugang zur Kultur“ ein; die SPD schreibt: „Wir ermöglichen Kultur unabhängig von Geldbeutel, Schulabschluss, Alter, Geschlecht oder Herkunft“. Bündnis 90/Die Grünen: „Kultur muss für alle Menschen zugänglich sein.“ FDP: „Vielfalt und die Freiheit des Kulturlebens in Deutschland sichern und für alle Menschen in unserem Land zugänglich machen.“ CDU: „Vielfalt der Kultur in der Fläche stärken“.
Zwar deckt sich das nicht direkt mit der Aussage des Bundespräsidenten, weist aber sehr wohl in seine Richtung. Da sehr viele kulturelle Angebote heutzutage auch ohne staatliche oder öffentlich-rechtliche Förderung umsonst (werbefinanziert) vorliegen und die Anschaffung von Computern, Radiogeräten, Fernsehern nicht mehr viel Geld kostet, deutet die ‚Für alle‘-Förderungs-Formel auf Stätten hin, in denen (zumindest bislang) in erster Linie klassische Musik, modernes Theater, antike Skulpturen, abstrakte Malerei, avantgardistische, subkulturelle, subversive Performances etc. dreidimensional gezeigt werden. Der politisch geförderte (dadurch stets kostengünstigere und mitunter pädagogisch vermittelte) Zugang zu ihnen soll die breite Rezeption fördern.
Zwar hat sich diese Rezeption, wie der Bundespräsident beispielhaft an klassischer Musik festgestellt hat, trotz entsprechender jahrzehntelanger Bemühungen noch nicht eingestellt. Dies hindert aber die politischen Akteure keineswegs daran, das Ziel weiter zu verfolgen; es ist aus Sicht der Parteien wohl noch nicht genug gefördert worden, so lautet wahrscheinlich ihre sehr hoffnungsvolle Begründung.
Gegen die weitere intensive Förderung der bislang allenfalls bei großer Subventionierung manchmal etwas breiter rezipierten Kulturprojekte spricht aus ihrer Sicht offenkundig auch nicht, dass solch eine allgemeine Beliebtheit bei nicht wenigen Werken der Pop- oder Populärkultur bereits seit langem zu verzeichnen ist – von den Beatles bis James Bond, vom Oktoberfest bis zum „Dschungelcamp“ (als rein kommerzielle Produkte), vom „Tatort“ bis zur Fußballübertragung (die auch ohne öffentlich-rechtliche Gelder ihr großes, schichtenübergreifendes Publikum fänden).
Wenn der Anspruch – ‚Kultur für alle‘ – tatsächlich gelten würde, läge es also nahe, viel mehr Projekte in diesen Feldern (Krimi, Popmusik, Fußball, elegante Actionfilme, Freizeitevents, Reality-TV etc.) zu unterstützen. Dies wäre aber wenig sinnvoll, weil es ja bereits genügend privatwirtschaftliche, billige Angebote gibt, eine solche Forderung liefe eher auf die Beendigung staatlicher Kulturförderung hinaus.
Als Alternative bleibt dann zum einen, auf den hohen kulturellen Wert der exklusiven, hauptsächlich von „gut situierten“ und „gebildeten“ Schichten wahrgenommenen Werke hinzuweisen, ohne den Anspruch (oder die Illusion) aufrechtzuerhalten, diese Kunstgüter würden demnächst sicher auch von anderen Kreisen geschätzt.
Zum anderen bietet sich an, die Förderung auf Werke und Events hin auszurichten, die von den ‚schlecht Situierten‘ und ‚Ungebildeten‘ neuerdings oder traditionell goutiert werden, ohne bislang eine breitere Anerkennung erfahren zu haben; hier könnte also die Kulturpolitik auch viel ‚Vermittlungsarbeit‘ fördern und Aufführungen an bislang unerreichbaren Orten finanzieren.
Keine dieser Alternativen ist jedoch in den Programmen der wichtigsten, mächtigsten deutschen Parteien zu finden. Unabhängig davon, wie man zu den Zielen und bisherigen Projekten ihrer Kulturpolitik in den Kommunen und Ländern stehen mag, bleibt darum als Fazit: Die kulturpolitischen Ausführungen in den Parteiprogrammen sind durch einen Grundzug ausgezeichnet – nennen wir ihn Argumentationsschwäche, Heuchelei, Ideologie oder Idealismus?
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