Genderwechsel: Zu Thomas Ostermeiers Inszenierung von Didier Eribons „Rückkehr nach Reims“
Dokumentarische Filmaufnahmen sind auf den Bühnenhintergrund projiziert. Ansichten der Stadt Reims im Nordosten Frankreichs. Arbeiterviertel und leerstehende Fabrikgebäude. Kulissen also, die Eribon in seinem autobiografischen und soziologischen Buch beschreibt. Thomas Ostermeiers Inszenierungseinfall für die Dramatisierung von Rückkehr nach Reims, die im Sommer in Manchester Premiere hatte und nun in Berlin zu sehen ist: In einem Aufnahmestudio werden Teile von Eribons Text als Off-Kommentar zu den im Hintergrund laufenden Filmbildern eingesprochen. Diskussionen zwischen Schauspielerin, Regisseur und Tontechniker unterbrechen den Sprach- und Bildfluss. Auseinandersetzungen über Kürzungen im Text oder das hier entstehende Verhältnis zwischen Bild und Text.
Dass die zentrale Rolle hier, also die Stimme, die die Texte einliest, nicht unmittelbar Eribon verkörpern oder mit Eribon als Figur konkurrieren soll, leuchtet ein. Denn der französische Soziologe und Autor selbst ist immer wieder im Film, der hier im Hintergrund läuft, zu sehen. Beim nachdenklichen Blick aus dem Fenster während der Zugfahrt oder beim Kaffee mit seiner Mutter.
Aber warum wurde die Rolle des Schauspielers, der Eribon auf der Bühne seine Stimme verleiht, mit der Schauspielerin Nina Hoss besetzt? Eine Inszenierung, die insgesamt auf Realismus setzt, nicht nur was die dokumentarischen Filmaufnahmen angeht, sondern auch im Hinblick auf das Setting im Aufnahmestudio, das das Bühnengeschehen rahmt, entscheidet sich hier für einen offensichtlichen Bruch. Nina Hoss’ Starpower ist so übermächtig und ihre Wahl deshalb wohl so naheliegend – der größte Star der Schaubühne spielt die Hauptrolle in der Bühnenfassung eines der größten Bucherfolge im letzten Jahr –, dass das Irritierende daran fast untergeht.
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Denn aus schwuler Perspektive ist diese Entscheidung einigermaßen merkwürdig. Warum wird die Geschichte eines schwulen Mannes nicht von einem Mann – vielleicht auch von einem schwulen Mann –, sondern von einer Frau erzählt? Warum wird hier eine Minderheitenposition mit aller Selbstverständlichkeit über die Verfremdung des Genderwechsels dargestellt? Soll Hoss etwa in irgendeiner Weise das Schwule an Eribons Figur verkörpern, und damit das Queere in Eribons Erzählung zum Ausdruck bringen?
Aber erstens ist die Annahme einer schwulen Weiblichkeit nicht unproblematisch – schließlich wurde die Vorstellung einer „weiblichen Seele im männlichen Körper“, wie sie für die Konstruktion von Homosexualität innerhalb verschiedener Wissensdisziplinen des 19. Jahrhunderts Karriere machte – immer wieder zum Anlass der Verachtung und Verfolgung von Schwulen. Schwulen die Stabilität ihrer Geschlechtsidentität abzusprechen ist keine unschuldige Geste, erst Recht nicht in einem heterosexuellen Kontext wie dieser Bühneninszenierung. Zweitens führt im Fall der Schaubühnen-Aufführung die Besetzung der Eribon-Stimme mit einer Frau keineswegs zur Konstruktion einer queeren Figur. Hoss tritt hier ja nicht etwa als Dragqueen oder wenigstens als grandiose Schwulendiva auf, sondern irgendwie als „Nina Hoss“ – auch wenn sie im Stück merkwürdigerweise „Katrin“ genannt wird (dazu gleich mehr).
Diese Besetzungsidee leitet keine queere Ausrichtung der Inszenierung insgesamt ein – im Gegenteil. Hoss’ Figur Katrin gerät im Laufe des Abends, der die Vertonung der dokumentarischen Filmaufnahmen zeigt, in Streitereien mit der Figur des Regisseurs. Klassische Topoi der kreativen Zusammenarbeit zwischen Hetero-Mann und Hetero-Frau werden hier abgearbeitet: Muse und Regisseur, wer ist ausführende, wer innovative Kraft? Welches Gewicht hat das persönliche Argument gegenüber dem politischen? Aus der Geschichte eines französischen schwulen Arbeitersohns, der als Soziologe Karriere gemacht hat, wird auf einmal ein sehr vorhersehbarer Geschlechterkampf deutscher Theaterschaffender. Soll das in dieser Offensichtlichkeit der Versuch sein, nicht nur die straighte Adaptation eines schwulen Texts vorzunehmen, sondern diese gleichzeitig auch zu problematisieren?
Den Vorwurf, das Schwule des Textes selbst auszusparen, kann man der Aufführung nicht machen. Die Leiden einer queeren Kindheit kommen genauso zur Sprache wie die sexuellen Cruising-Abenteuer eines pubertierenden Schwulen in der Provinz. Detailliert und ernsthaft, wie Eribon sie niedergeschrieben hat, trägt Hoss sie vor. Es drängt sich aber der Verdacht auf, dass die Inszenierung bemüht ist, die weitgehenden Einblicke in die schwule Existenz, die Eribons Text liefert, wieder auszugleichen. Gefiltert durch Nina Hoss’ Körper werden die explizit schwulen, sexuellen Passagen für das Berliner Bildungsbürgertum verdaulich.
Die auf diese Weise betriebene Ent-Homosexualisierung des Textes berührt einen der zentralen Punkte der Eribon-Diskussion. Die Frage nämlich, ob identitätspolitische Belange wie gay politics seit den 1990er zu einer Kollaboration von sozialen Minderheiten mit neoliberalen Machformen geführt haben. Demgegenüber ist die Rückkehr zu einer linken Erzählung gefordert worden, die ökonomische Ausbeutung wieder in den Mittelpunkt rückt. Eine Position, die von Zizek, Badiou und vor allem Mark Lilla vertreten wurde. Hat ein schwules Anliegen hier keinen Platz mehr? Judith Butler, Carolin Emcke und vor allem auch Eribon selbst haben sich dieser Perspektive, die zwischen Haupt- und Nebenwidersprüchen unterscheidet, deutlich entgegengestellt. Für sie geht es stattdessen um ein linkes Narrativ, das die Diskussion um Differenz und Intersektionalität nicht einfach hinter sich lässt.
Auch hier positioniert sich die Inszenierung gegen Eribon. Merkwürdigerweise, oder vielleicht auch nicht. Denn darin spiegelt sich auch ein Missverständnis der Eribon-Rezeption in Deutschland wieder. Wurde Eribon doch hauptsächlich als Autor gelesen, der Einblicke in jene sozialen Schichten gewährt, die in den letzten 30 Jahren von einer neoliberalen Politik vergessen worden sind, insbesondere von den Sozialdemokraten selbst. Wenn schon ein schwuler Autor die ökonomische und soziale Prekarität der ehemaligen Arbeiterklasse in den Mittelpunkt rückt, heißt das doch wohl, dass wir die Probleme anderer Minderheiten, wie eben die von Schwulen, guten Gewissens vergessen können, oder etwa nicht?
Genau das geschieht dann auch im zweiten Teil des Abends in der Schaubühne. Nun geht es nämlich gar nicht mehr um Eribon, als hätten schon alle genug von seinem Text (der ja auch wirklich mit Diskussionen überfrachtet wurde). Plötzlich steht Katrins Lebensgeschichte im Mittelpunkt, bzw. die von Nina Hoss. Der Schaubühnenstar erzählt nun nämlich ziemlich langatmig vom politischen Engagement ihres Großvaters und ihres Vaters in Westdeutschland. Irgendwie geht es dabei zwar noch um die Frage, was aus der Linken geworden ist – von Gewerkschaftsarbeit in den 1960ern zur Gründung der Grünen in den späten 1970ern. Man könnte aber auch einfach sagen: Mit Eribons Geschichte haben die Kommentierungen des privaten Fotoalbums von Nina Hoss, das hier vor unseren Augen aufgeblättert wird, wenig zu tun.
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